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Wiederfund (5):


„(...)

Time that is intolerant
Of the brave and innocent,
And indifferent in a week
To a beautiful physique,

Worships language and forgives
Everyone by whom it lives;
Pardons cowardice, conceit,
Lays its honours at their feet.

Ich weiß noch, wie ich in dieser kleinen Holzhütte saß, durch das quadratische, bullaugengroße Fenster auf die nasse, lehmige Schmutzstraße blickte, auf der sich ein paar Hühner verlaufen hatten, und nur zur Hälfte glaubte, was ich gerade gelesen hatte, zur anderen Hälfte überlegte, ob mir mein mangelhaftes Englisch nicht einen Trick spielte. Ich hatte dort eine riesige Schwarte von einem englisch-russischen Wörterbuch zur Verfügung, und ich durchblätterte es Seite für Seite, überprüfte jedes Wort, jede Anspielung, in der Hoffnung, daß mir die Aussage erspart bliebe, die mich da aus dem Buch anstarrte. Ich wollte wohl einfach nicht glauben, daß schon 1939 ein englischer Dichter gesagt hatte: „Time... worships language“, und trotzdem war die Welt immer noch dieselbe geblieben.
Doch dieses Mal widersprach mir das Wörterbuch nicht. Auden hat in der Tat gesagt, das Zeit (nicht die Zeit) Sprache verehrt, und der Zug der Gedanken, den diese Aussage in mir in Bewegung setzte, rollt bis auf den heutigen Tag. „Worship“ ist nämlich die Haltung des Niederen gegenüber dem Höheren. Wenn Zeit Sprache verehrt, dann bedeutet das, daß Sprache größer oder älter als Zeit ist, die ihrerseits älter und größer als Raum ist. Das war mir beigebracht worden, und genauso fühlte ich es auch. Wenn also Zeit (...) Sprache verehrt, woher kommt dann Sprache? Denn die Gabe ist stets kleiner als der Gebende. Und ist dann nicht Sprache ein Behältnis für Zeit? Und liegt es nicht daran, daß Zeit sie verehrt? Und ist nicht ein Lied, oder ein Gedicht oder sogar die Sprache selbst mit ihren Zäsuren, Pausen, Spondei usw. ein Spiel, das Sprache veranstaltet, um Zeit neu zu strukturieren? Und sind nicht jene, von denen Sprache „lebt“, auch die, von denen Zeit lebt? Und wenn ihnen Zeit „vergibt“, tut sie das aus Großzügigkeit oder aus Notwendigkeit? Und ist Großzügigkeit nicht ohnehin eine Notwendigkeit?
So kurz und waagerecht diese Zeilen waren, sie schienen mir unglaublich in die Höhe gerichtet. Außerdem wirkten sie wie aus dem Ärmel geschüttelt, fast plauderhaft: Metaphysik in der Verkleidung des gesunden Menschenverstandes, gesunder Menschenverstand als Couplets aus dem Kindergarten. Diese Schichten der Verkleidung allein lehrten mich, was Sprache ist (...).“

Diese Abschnitte sind Joseph Brodskys Essay Einem Schatten zu Gefallen entnommen. Es handelt sich um seine – man kann es nicht anders nennen - Liebeserklärung an Auden, über dessen Werk er etwa sagt, es sei „durch eine Liebe enstanden und mit ihr gefüllt (...), die unser Fleisch nicht fassen kann und die daher Worte braucht“. Das beeindruckendste Zeugnis der Hinwendung Brodskys zu Audens Dichtung sind aber weniger solche hymnischen Sätze als vielmehr ihre Manifestationen in Brodskys Lebensgang: er habe, so schreibt er, den Sprachraum gewechselt, um „Auden näher“ zu sein.

Joseph Brodsky: Einem Schatten zu Gefallen, in: Flucht aus Byzanz. Essays (Fischer Taschenbuchverlag, 1996)

05.07.2007 12:13:59 

Wiederfund (4)


"Worum ich kreise, sind Zusammenhänge und Unterschiede zwischen allen Geschöpfen auf der Erde.
(...)
Steine und Insekten, Regenwälder, Menschen und Wolkenbildungen als eine gesammelte Notwendigkeit.
Wenn wir nicht singen, spielen und tanzen könnten, wenn wir einander nicht Geschichten erzählen und von der Welt berichten könnten, dann würden wir die Welt nie begreifen und dann würde die Welt auch nie sich selbst durch uns begreifen können."

Inger Christensen: Unsere Erzählung von der Welt

22.03.2007 17:51:08 

Gedichte, Ketten. Unter Wasser


Beim Lesen des siebten Memoriagedichts von Christine unterlief mir ein Fehler: statt "Andelgras" las ich Ancelgras. Das ist leicht zu erklären, denn ich lese seit längerem immer wieder und auch gerade dieser Tage noch einmal Jacques Derridas "Der unterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht", eine Festrede zu Ehren von Hans-Georg Gadamer, in der Derrida ein Gespräch mit dem verstorbenen Freund weiterführt, das von Gadamers Auseinandersetzung mit Paul Celans "Atemkristall" ausging.
Mein Lesefehler kommt mir vor wie Teil einer Kette von Gedanken, die sich für mich mit einer Art Trauerarbeit verbinden, von der ich in den letzten Monaten ein paar vorläufige Ergebnisse hier gepostet habe, sozusagen als Entwürfe von Entwürfen. An einer Stelle in der Heidelberger Rede Derridas bleibe ich jedesmal aufs Neue hängen, ich erinnere mich auch, Dir, liebe Christine, schon einmal davon erzählt und angekündigt zu haben, diesen Part hier als einen meiner "Trittsteine" zu teilen:

"Denn der Tod ist jedesmal, und jedesmal einzigartig, jedesmal unwiederbringlich, jedesmal unendlich, nicht weniger als das Ende der Welt. Nicht nur ein Ende unter anderen, das Ende einer Person oder eines Lebewesens. Der Tod bereitet nicht nur jemandem in der Welt ein Ende, auch nicht nur einer Welt unter anderen; vielmehr zeigt er jedesmal, der Rechenkunst zum Trotz, das absolute Ende jener einen und selben Welt, desjenigen, was ein jeder wie eine einzige und selbe Welt eröffnet; er zeigt das Ende der einzigartigen Welt, das Ende der Gesamtheit dessen, was der Ursprung der Welt für ein solches einzigartiges Lebewesen ist (...)
Der Überlebende bleibt also allein. Jenseits der Welt des anderen ist auch er auf gewisse Weise jenseits oder diesseits der Welt selbst."

Derridas Rede ist der Versuch, einen eigentlich unmöglichen Dialog zu führen, einen Dialog mit dem, was er an Liebe und Wissen zu seinem Freund in sich selbst trägt (und der so, dies als Nachtrag, als inneres Geschehen doch gelingen kann), und es ist kein Zufall, dass er das über den Weg, die Brücke, eines Gedichts unternimmt. Eines der schönsten Bilder zu diesem Vorgang, der vielleicht dem Wünschen verwandt ist, hat kürzlich Andreas Louis beigesteuert: unter Wasser mit dem Wasser sprechen.

27.02.2007 12:30:38 


"Erreichbar, nah und unverloren blieb dies eine: die Sprache."

Paul Celan

30.06.2006 13:14:38 

Wiederfund


"Baskin beschreibt seine Idealvision als etwas, das anscheinend seit Generationen in der Erde geruht hat und das nun wieder auftaucht: all seine zeitweiligen kulturellen Überformungen sind wegkorrodiert, zurückgeblieben ist lediglich ein harter Kern von elementarer künstlerischer Substanz.

Wir können lediglich Vermutungen darüber anstellen, welche Bedeutung Coatlicue für jene Menschen einst hatte, von denen sie in Stein geschlagen wurde. Sie ist ein riesiges zusammengesetztes Wort in aztekischer Hieroglyphenschrift, ein monströses quipu religiöser und mythologischer Rätsel für die Anthropologen. Aber ihre Macht spricht für sich selbst. Ein dämonischer Klumpen mana ist sie, eine versteinerte Masse grotesker Musik, gleichsam das Hereinbrechen in die Welt unserer Sinne (...)
Baskin selbst würde wohl sagen: Das ist der Schrecken. (Und würde seine Lieblingszeile aus Conrad zitieren: "Der Schrecken! Der Schrecken!") Aber was genau verbirgt sich hinter dem, was hieran so entsetzt?

Das Mysterium der Musik schließt diesen Schrecken immer dann auf, wenn wir genau zuhören. Vielleicht liegt der Schlüssel zu ihm in der Musik. Ist das mathematische Gesetz - wie man sagt - der Baum im Abgrund des Ursprungs, verwurzelt außerhalb der psychologischen Sphäre und außerhalb des Horizonts menschlicher Ereignisse, und stellt die Musik ein Nest dar, das tröstlich verdichtete Seelennest, das wir gefiederten und haarigen Wesen uns aus den Zweigen dieses Baumes flechten (Gehörnerven, versunken in die einander durchdringenden Choräle der Körperchemie), dann ist jener Schrecken, der sich aus Musik ergießt, zugleich der Lebenssaft mathematischer Gesetzlichkeit. In aller Kunst beruht das, was nicht selbst Musik ist, doch auf dieser. Ohne diese innere Musikalität hört Kunst auf zu funktionieren (...) Und genau dieses Eine, das Kunst befähigt, uns zu packen und aus dem Gefängnis unserer Selbstsucht herauszureißen (...) - genau dieses Eine wirkt auf uns unangenehm.
(...) Die Niedervolttransformatoren, die wir in unseren vordersten Gehirnlappen mit solchen Kosten installiert haben, registrieren immer noch Eingangsenergie. Die Nerven haben in einen Spiegel geblickt, und die Erfahrung schwirrt einem am Schädel vorbei, hinterläßt ein paar Schweißtropfen über der Braue und vermutlich meßbare elektrostatische Veränderungen, selbst in dem Augenblick, wenn der Beobachter sagt: Gefällt mir nicht."

(Ted Hughes: Der Gehenkte und die Libelle)

21.02.2006 16:06:50 

Lücken mauern


"Natürlich entstanden auf diese Weise viele große Lücken, die erst nach und nach langsam ausgefüllt wurden, manche sogar erst, nachdem der Mauerbau schon als vollendet verkündigt worden war. Ja, es soll Lücken geben, die überhaupt nicht verbaut worden sind, eine Behauptung allerdings, die möglicherweise nur zu den vielen Legenden gehört, die um den Bau entstanden sind, und die, für den einzelnen Menschen wenigstens, mit eigenen Augen und eigenem Maßstab infolge der Ausdehnung des Baues unnachprüfbar sind.
(...) Man war nicht leichtsinnig an das Werk herangegangen. Fünfzig Jahre vor Beginn des Baues hatte man im ganzen China, das ummauert werden sollte, die Baukunst, insbesondere das Maurerhandwerk, zur wichtigsten Wissenschaft erklärt und alles andere nur anerkannt, soweit es damit in Beziehung stand. Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie wir als kleine Kinder, kaum unserer Beine sicher, im Gärtchen unseres Lehrers standen, aus Kieselsteinen eine Art Mauer bauen mußten, wie der Lehrer den Rock schürzte, gegen die Mauer rannte, natürlich alles zusammenwarf, und uns wegen der Schwäche unseres Baues solche Vorwürfe machte, daß wir heulend uns nach allen Seiten zu unseren Eltern verliefen."

Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer

20.12.2005 14:07:31 

Grabung (1)


Am 13. August 1790, als Bauarbeiter auf der Plaza Mayor in Mexiko-Stadt Schachtarbeiten ausführten, stießen sie auf eine Statue von kolossalen Ausmaßen. Sie gruben sie aus, und es stellte sich heraus, daß es eine Skulptur der Göttin Coatlicue, der "mit dem Schlangenrock", war. Der Vizekönig ordnete sofort an, daß sie als "ein Denkmal des amerikanischen Altertums" in die Königliche und Erzbischöfliche Universität von Mexiko gebracht werde. Jahre zuvor hatte Carlos III. der Universität eine Sammlung von Gipskopien griechisch-römischer Werke geschenkt; zwischen ihnen wurde Coatlicue aufgestellt. Nicht für lange: nach wenigen Monaten beschlossen die Universitätsprofessoren, sie wieder zu vergraben, und zwar an demselben Ort, wo man sie gefunden hatte. Gleichwohl hatte der Gelehrte Antonio de Léon y Gama Zeit gefunden, von der Statue und einem anderen Stein, der neben ihr gefunden worden war, dem Azteken-Kalender, eine Beschreibung zu machen. Die Aufzeichnungen wurden jedoch erst 1804 in Rom veröffentlicht. Alexander von Humboldt, der sich in eben diesem Jahr in Mexiko aufhielt, las sie höchstwahrscheinlich in dieser italienischen Übersetzung. Er äußerte den Wunsch, wie der Historiker Ignacio Bernal berichtet, die Statue in Augenschein nehmen zu dürfen. Die Obrigkeit gab seiner Bitte statt, man grub die Statue aus, und als der deutsche Gelehrte seine Neugier befriedigt hatte, vergrub man sie wieder. Der Anblick der schrecklichen Statue war unerträglich.

(Octavio Paz, aus: Die Kunst Mexikos. Materie und Bedeutung)

14.07.2005 12:44:21 

Trittsteine


"Heutzutage bietet sich dem Auge nichts als eine lange, unansehnliche, von Brombeersträuchern und Efeu gesäuberte Grube, in der Teile des Pflasters, Säulensockel und mächtige Fundamente gleich Knochenresten sichtbar sind.
(...) Jetzt aber ist die Ehrfurcht wiedererwacht, allerdings die Ehrfurcht von Grabschändern; die Wissenschaft ist von fieberhafter Neugier erfaßt und erregt sich über Hypothesen, man durchforscht den historischen Boden, in dem die Kulturen in Schichten übereinanderliegen, und schwankt zwischen den fünfzehn bis zwanzig Rekonstruktionen, die man vom Forum entworfen hat und von denen die eine so annehmbar ist wie die andere."

Emile Zola: Rom (1896)


"Im Hintergrund einer breiten mehrspurigen Asphaltstraße stand der Schutthaufen des Kolosseums, lehmig-gelb angeleuchtet und mit den schwarzen Rundbögen, die an Stolleneingänge denken ließen. - Neben mir, zur einen Seite der Via Dei Fori Imperiali, eine tiefergelegene Schrotthalde und eingezäunt.
(...) Über schwarze große Basaltbrocken ging ich dann an dem Trümmerfeld hoch, vielleicht habe ich innerlich gegrinst - aufgerissene Rollbahnen eines Flugplatzes in Vechta - Bombentrichter voll Wasser - eingefallene Hallen - Zementmatten, die aus den Eisengerüsten hängen - grünes Sprühen einer Brandbombe - lautlos abbrennendes Stangenpulver nachmittags - Metallwracks von Flugzeugen - geborstene Plexiglasscheibe der Flugkanzel - kleine schwarze Figuren, die unter geblähten Pilzkappen herunterschweben - Unkraut wuchert das Gelände zu."

Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke (1979)

11.01.2005 13:46:31 

La bibliothèque est un feu


"Nous sommes, ce jour, plus près du sinistre que le tocsin lui-même, c´est pourquoi il est grand temps de nous composer une santé du malheur. Dût-elle avoir l´apparence de l´arrogance du miracle."

(René Char: A une sérénité crispée)

26.02.2005 00:44:09 

Traumata


"Ich weiß von einer wilden Region, in der die Bibliothekare die abergläubische und eitle Jagd nach dem Sinn in Büchern verschmähen und die Lektüre mit Traumdeuterei und Handlesekunst vergleichen."

(Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel)

11.03.2005 10:58:52 

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