Wilhelm Reich, das Schreiben, meine Neurose und ich

Essay

Autor:
Jan Decker
 

Essay

Wilhelm Reich, das Schreiben, meine Neurose und ich

Das Schreiben entspringt einem neurotischen Bedürfnis, daran besteht gar kein Zweifel. Wer völlig ausgeglichen durch die Welt geht − und das ist doch ein wünschenswerter Zustand − wird nicht zu Papier und Feder greifen, um seine inneren Konflikte auszugleichen. Dass Schreiben heute im Kontext einer für neurotische Zustände anfälligen Gesellschaft stattfindet, macht das Schreibbedürfnis nicht schlechter oder besser. Es richtet sich nicht primär nach der jeweiligen Gesellschaft, in der es stattfindet, eher sucht es in jeder Gesellschaft seine eigenen kanalisierten Wege. Einen Roman der Finanzkrise wird es solange nicht geben, bis ein Schriftsteller sich an diesem Stoff entzündet − und das ist keine Frage der Wahrscheinlichkeit, sondern eher der Unwahrscheinlichkeit.  

Woran der Schriftsteller arbeitet, welches innere Projekt er genau verfolgt − ist ihm selbst verschlossen. Das ist gut so, denn sonst würde er vermutlich nicht schreiben. Der kreative Antrieb besteht nicht im völligen Ausgleich eines inneren Defizits, wie auch immer er beschaffen ist, sondern im scheinökonomischen Ausgleich. Scheinökonomisch deshalb, weil ihn dieses Defizit nicht zum Psychologen führt, sondern an den Schreibtisch. Und das kann nur heißen, der Schriftsteller betrügt sich mit seiner Ausgleichsarbeit, es muss ein ästhetischer Mehrwert herausspringen. Nach Karl Marx handelt es sich beim Schriftsteller der äußeren Form nach um einen Selbstausbeuter, der Kosten und Nutzen in ein anderes ökonomisches Verhältnis bringt. Er arbeitet an sich selbst, was auch immer er da anstellt.

Ein völlig ausgeglichener Zustand wäre eine Katastrophe. Zwei äußere Zustände bilden den kreativen Motor des Schriftstellers, und er versucht beide wie Warnbojen auf einer undurchsichtigen Meeresstrecke zu umschiffen. Äußerste Anspannung einerseits und äußerste Ausgeglichenheit andererseits. Das ist insofern kurios, als er sein schöpferisches Leben doch auf den Wechsel dieser beiden Zustände abgestellt hat. Der Schriftsteller erscheint mithin als ein Mensch, der seine Neurose aus beruflichen Gründen kultiviert. Nach psychologischen Gesichtspunkten ist das ein heikler Akt, und die Überfahrt auf der undurchsichtigen Meeresstrecke droht im Netz der eigenen Obsessionen unterzugehen.
Soweit wäre das Schreiben sinnlos, wenn nicht der ästhetische Mehrwert hinzutreten würde. Ein Gefallen an der Sprache schlechthin, und die Sympathie des Lesepublikums machen diese Überfahrt erst zu einer wirklich lohnenden Angelegenheit. Ohne entsprechende Techniken würde sie trotzdem schnell in die Misere führen, das ist unvermeidlich. Diese sind eben nicht nur literarische, sie bestehen auch darin, dem Schriftstellerleben im Ganzen eine spezifisch literarische Form zu geben, es durchlässig zu machen für das Auftreten und Abtreten verschiedener Zustände, es − und das klingt vielleicht etwas plump − zu erotisieren.

Durch den Akt des Schreibens geschieht eine innere Umformungsarbeit − so hat es Freud beschrieben, und so gilt es im Kern sicherlich. Was immer auch am Anfang des Schreibbegehrens steht, es wird in eine Dynamik versetzt, die einer seelischen Linderung gleicht. Die körperliche Linderung tritt hinzu, indem das Schreiben den Schriftsteller in jenen Schwebezustand versetzt, der das erotische Ziel jeder Kunstanstrengung ist − bei Künstler wie Publikum gleichermaßen. Allerdings wäre diese Annäherung um Gesichtspunkte von Wilhelm Reich zu erweitern, denn dieser Schwebezustand fällt nicht vom Himmel.

Gehen wir näher auf den Schriftsteller zu, erkennen wir die Gefahr der Enigmatisierung. Schon in dieser Annäherung ist sie angelegt, indem der Schriftsteller sich auf ominöser Weise des Schreibens bedient und damit eine seelische Linderung erhält, von der manch leidender Mensch nur träumen kann. Der Schriftsteller baut schon ein Enigma auf, wenn er sich als einen defizitären Menschen präsentiert. Zweifellos kommt sein Schreibdrang nicht aus einer in völliger Zufriedenheit verlebten Kindheit, meistens ist eher das Gegenteil der Fall. Doch einmal ästhetisch bewältigt, könnte der Schriftsteller sich der Zukunft zuwenden und ein Bündel ganz neuer Erfahrungen sammeln. Stattdessen schreibt er weiter − meistens an seinem Lebensthema.

Wie jeder Leidende erlebt er, dass das Verharren in diesen ominösen Meerestiefen eine süße Verlockung ist, man kann hier einige Geltung beanspruchen und ohne nasse Füße herauskommen. Eine lustfeindliche Einstellung steht oft am Anfang des Erlernens der ästhetischen Lust, das lässt sich in groben Zügen festhalten. Es kommt ganz entscheidend auf die Dynamik an, die der Schriftsteller über das Schreiben und seine ganze Lebensführung losbricht. Ich glaube nicht, dass diese Dynamik in Sublimation endet. Sie kann das Aufbrechen einer ursprünglichen Panzerung sein, der Sprung ins kalte Wasser, vor dem man sich vielleicht gedrückt hätte. Eine patente Methode ist das Schreiben dabei nicht, sondern es gleicht eher einer zenbuddhistischen Übung mit vager Heilsversicherung.  

Das Spannende ist, wie die von Freud konstatierte Umformungsarbeit des Schriftstellers in ein Gesamtleben integriert ist, was die Fallhöhen eines solchen Lebens sind. Auch der Schriftsteller sollte in erster Linie leben, selbst wenn er in zweiter Linie sein Leben für das Schreiben opfern möchte. Das Opfer wird ihm sowieso nicht gelingen, und sei er noch so unbekannt. Das ist paradox formuliert, weil der Idealzustand des Schriftstellers nicht unbedingt jener der maximalen Durchsetzung ist. In diesem seltenen Fall kann seine Neurose zur Welt werden und die Welt zu seiner Neurose. Allerdings handelt es sich dann um gar kein Opfer mehr. Ein Ich-Ausdruck braucht eine Dynamik. Den meisten Schriftstellern ist der Ich-Ausdruck recht, wenn er ihnen zu wahrhaften Schreiberlebnissen verhilft. Wir sollten ganz präzise sagen: Der Selbstbetrug muss perfekt sein, damit er aufgeht. Und das bedeutet eine Klimax im Sich annähern von Neurose und Welt, kein Gleichgewicht.

Aber wovon soll der Schriftsteller leben? Ein ganzes Genre der Literatur beschäftigt sich mit diesem Thema. Es ist jenes des Künstlers ohne Kunst, des jungen unbekannten Künstlers. Hier kann man nur sagen, dass die ursprüngliche Panzerung den Schriftsteller durch eine Phase der Kränkungen und Ablehnungen bringt − und dass er nur zusehen muss, diese Panzerung in unnötigen Zeiten abzulegen. Er könnte sich die ganze Episode auch anders übersetzen. Dass er sein Glück gar nicht durch dieses Nadelöhr des Ich-Ausdrucks pressen müsste, denn wahrscheinlich wird doch niemand von ihm Kenntnis nehmen. Die Panzerung dient dem Schriftsteller zunächst als Flugapparat. Und sicherlich ist es Teil dieses Bildungsprogramms, sie später gleichsam im Flug abzuwerfen. Der Schriftsteller baut sein Haus gleichwohl auf erhebliche Illusionen. Er handelt wie ein König ohne Königshof, der sich weigert, ein Haus aufzubauen und stattdessen auf den Straßen um neue Gefolgschaft wirbt. Sie stellt sich nicht immer ein.

Ich leiste also eine seelische Ausgleichsarbeit, die ich im nächsten Moment wieder verwerfen muss. Mit der Arbeit an einem neuen Text beginnt das Spiel von vorne. Es besteht mithin nicht nur aus geistigen Operanden, sondern es berührt sich mit der Welt. Ich entleere mich im Schreiben, darauf kommt es an. Nicht so sehr auf die Qualität der Bilder, die ich finde − sie werden mir durch den Alltag entrissen. Ich strebe eine Praxis an, die wenig tragische Noten hat. Das Schreiben führt mich jeden Tag in einen Zustand der Relaxation. Ich werde elastisch, vergesse alle Sorgen und schlafe gut ein. Vielleicht geht es einem Gaukler nicht großartig anders, vorausgesetzt er hat genug zu essen. Ich weiß, dass ich jahrelang nicht ohne Rückenschmerzen schreiben konnte. Es war nicht nur der Zustand des Künstlers ohne Kunst, der da anklopfte. Es war der Motor meiner Kreativität, die Aufgabe meiner Umformungsarbeit als körperliches Symptom.   

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