Essay
Wilhelm Reich, das Schreiben, meine Neurose und ich
Vielleicht wurden die großen Theorien über den Schriftsteller und das Schreiben auf dem Fundament einer bürgerlichen Gesellschaft erfunden. Man muss wissen, dass einem Anspruch auf Berühmtheit in unserer Zeit jegliche Grundlagen fehlen. Das ist wiederum paradox formuliert, doch gar nicht so unberechtigt, wenn man schriftstellerische Begabung als notwendiges Kriterium voraussetzt. Hier geht es heute irrational zu, und man müsste fast sagen, gerechterweise. Die Kriterien der Berühmtheit sind eng an Marktkriterien gebunden − und innerhalb des Berufsbilds Schriftsteller ein stark umkämpftes Gut. Wie viele Menschen kennen die jungen Aspiranten, die jedes Jahr mit Romanen und Theaterstücken auf den Markt drängen? So erleben mehr Schriftsteller häufiger Kränkung und Ablehnung als früher, nur die wenigen Hartgesottenen setzen sich durch − und wirkliche Überraschungen wird es kaum geben. Nicht, dass das Schreiben dadurch eine Spur langweiliger würde, im Gegenteil. Aber man sollte den romantischen Traum vom Schriftsteller genau kalkulieren − oder sein Leben gleich auf eine Gesamtlust einstellen, die nicht vom Schreiben lassen kann.
Viel wichtiger als in bürgerlichen Zeiten ist es, dass der Schriftsteller auf die körperliche Seite seiner Arbeit hört, dass er sie ebenso lustvoll wie die literarischen Techniken erlernt. Nehmen wir die Körperhaltung des Schriftstellers. Hinter einem nicht völlig ausgeglichenen Schreibakt verbirgt sich oftmals ein Stocken der Lebensenergie. Ich behaupte: In unserer Zeit wird der Markt keine charmanten Entschuldigungen gelten lassen. Der Schriftsteller muss seine Neurose wie einen perfekt abgerichteten Schäferhund mit sich führen. Wenig vom Gaukler darf heute an ihm haften − nach außen hin, denn im Privatleben hat sich so vieles nicht geändert. Also kein Buhlen um Gefolgschaft mehr, kein Werben ums Publikum − das besorgen die Medien im Auftrag der Verlage und Literaturagenturen. Der Schriftsteller hat sich früh zu entscheiden, ob er sich einem harten Wettbewerb stellen will. Und wenn er sich ihm stellen will, muss er schmerzfrei schreiben, unbedingt.
In bürgerlichen Zeiten dachte man, der Schriftsteller könne sich durch sein Schreiben verwandeln, durch das Werk, jene enigmatische Einheit. Heute sind wir nüchterner. Was nützt die schönste Sublimation, wenn sich das Leben nicht nach seinen eigenen Bedürfnissen artikulieren kann? Ich schreibe seit mehreren Jahren ohne Rückenschmerzen und datiere den Beginn meines Schreibens auf diese Zeit, obwohl ich länger schreibe. Und wo bin ich jetzt? Ich weiß es nicht, jedenfalls bin ich symptomfrei − von meiner Ursprungsneurose abgesehen, über die der Schriftsteller nicht verhandelt. Mir bleiben mit den Rückenschmerzen quälende Stunden der Angst des Scheiterns und der narzisstischen Kränkung erspart. Tatsächlich hat die Sexualität hier eine wichtige Veränderung bewirkt, eine andere Ausgangshaltung beim Schreiben. Das Schreiben ist die tägliche Verrichtung − im banalen Sinn des Worts. Und es ist sicherlich nicht pathetisch, wenn ich sage, dass ich am Anfang meines Schreibens genau diesen Widerstand suchte, meine Rückenschmerzen. Sie waren ja der körperliche Ausdruck der Neurose, die mich erst schreiben ließ.
Ein Blick in die Forschungen von Wilhelm Reich hätte mich früher aufgeklärt. Er hätte mir die körperliche Umformung des Schreibprozesses allerdings nicht erspart. An die Stelle des blinden Schreibverlangens ist eine Verlangenskultur getreten, mit ihren eigenen Lockmitteln und Reizakten. Richtig vergleichen kann ich hier nicht, unter Schriftstellern wird um den Akt des Schreibens ein Enigma gemacht, und vielleicht ist dieses Enigma der Schutz vor einer narzisstischen Kränkung. Wie oft hört man über die Texte Verletzendes? Und das Verletzendste ist die völlige Nichtbeachtung, die doch der Regelfall im Leben der meisten Schriftsteller ist. Anstatt von einer Sublimation zu reden, würde ich von einer Einübung des lustvollen Schreiberlebnisses reden. Sich im Schreibprozess zu verlieren − heißt auch, ihn über Jahre hinweg konsequent umzugestalten.
Ich habe mir eine Schreibumgebung geschaffen, die zuerst meinem Rücken und dann meinem ganzen Körper eine entspannte Zeit garantiert. Der Computer taugt mir als ständiges Schreibmedium nicht, er geht über die Idiosynkrasie des Schreibakts hinweg. Diese Idiosynkrasie wird durch ein Blatt Papier und einen Stift am besten verkörpert. Das Papier halte ich beim Schreiben nicht gerade, sondern um bis zu 45 Grad nach rechts gedreht. Wenn andere mich so schreiben sehen würden, wäre es mir peinlich. Andererseits steckt in dieser Schreibhaltung die eigene literarische Stimme − und auf sie kommt es beim Schreiben an. Und wer sagt, dass man auf einem schief gehaltenen Papier nicht gut schreiben kann? Der Schulunterricht hätte mir diese Schreibpraxis nicht durchgehen lassen, davon ist auszugehen. Heute merke ich, wie viel Mut es erfordert, seinen Beruf auf ein solches Schräghalten zu gründen, auf eine verschrobene Persönlichkeit, die im Berufsalltag schnell um ihren Ruf fürchten müsste. Die neuen Bürogemeinschaften der jungen Kreativen gehen andere Wege. Aber merkwürdig, eine potenzierte Verschrobenheit ergibt für mich nicht unbedingt eine Verschrobenheit mit mehr Potenz.
Der Schreibakt muss durch eine jahrelange individuelle Lernerfahrung erkämpft werden, er läuft parallel zum Erwerben der literarischen Techniken. Und er muss der Gesellschaft gleichsam entrissen werden, denn diese legt ihren Schwerpunkt nicht auf Intimität. Gerade hier gerät die Arbeit des Schriftstellers in eine spannungsreiche Nähe zur Kultur. Mit dem Gauklerhaften verweist sie indirekt auf eine autoritäre Gesellschaft, die eine solche Intimität nur privilegierten Berufen gestattet. Um den Eintritt in diese Berufe herrscht kein kreativer Kampf, sondern ein ganz und gar ökonomischer. Nicht anders deute ich meine Rückenschmerzen heute. Sie waren das schlechte Gewissen der Kultur, und das schlechte Gewissen meiner eigenen Neurosengeschichte. Ich lernte im engeren Sinn Geduld, und diese kann nicht andauernd durch Sublimation genährt werden, das ist meine feste Überzeugung. Natürlich wäre ich gern hartgesottener, aber gleichzeitig merke ich, welche körperlichen Ressourcen dem heutigen Wettbewerbsmenschen zur Verfügung stehen. Er sollte sich an sie halten, denn auch der Schriftsteller kann als Mensch nur funktionieren, wenn er sich zu seiner Lust bekennt. Er hat wie jeder Mensch den Auftrag, die Gesellschaft umzugestalten. Und er kann sich ein Stück Lust − bei im Durchschnitt chronisch niedriger Bezahlung − sogar leisten.
Nun könnte man dem Schriftsteller gleich ein gelungenes Liebesleben verordnen, zum Wohl seines Schreibens und der Gesellschaft − und weil er sich in Bereichen der Intimität aufhält, die eine Verstellung gänzlich absurd machen. Dass der Schriftsteller sich überhaupt einen Rückzugsort aufbaut, ist wohl das Wichtigste − denn dieser Ort ist eine unabdingbare Voraussetzung des Schreibakts. Ansonsten muss er herausfinden, was seine Neurose mit seinem Leben anstellen will − mit oder ohne erfüllter Sexualität. Und wird er auf dem Weg zu einer ausgeglicheneren Person ein Werk schreiben, so ist dieses als eine Symptomgeschichte zu lesen, die er hinter sich gelassen hat. Im Betonen des Eigenrhythmus eines Schriftstellers halte ich mich an eine Grundtugend, die heute manchmal vergessen wird. Intimität ist in den Werken des Schriftstellers gefordert, im Leben sind die Feuchtgebiete gefragt, wird der Schriftsteller entweder völlig ignoriert oder als Medienliebling überfordert. Deshalb muss der Schriftsteller sich an das obere Konzept halten. Nichts ist peinlicher als falsche Intimität, nichts befriedigt so sehr wie ein durchlässiges Verhältnis von Innen und Außen. Rückzug und Auftauchen haben nichts Bedrückendes. Die Schreibschübe des Schriftstellers entsprechen den beiden Polen von Kontraktion und Relaxation. Und könnten alle Menschen wie der Schriftsteller leben − es wäre eine Gesellschaft nach dem Geist des Orgasmus gebildet.
Viel wichtiger als in bürgerlichen Zeiten ist es, dass der Schriftsteller auf die körperliche Seite seiner Arbeit hört, dass er sie ebenso lustvoll wie die literarischen Techniken erlernt. Nehmen wir die Körperhaltung des Schriftstellers. Hinter einem nicht völlig ausgeglichenen Schreibakt verbirgt sich oftmals ein Stocken der Lebensenergie. Ich behaupte: In unserer Zeit wird der Markt keine charmanten Entschuldigungen gelten lassen. Der Schriftsteller muss seine Neurose wie einen perfekt abgerichteten Schäferhund mit sich führen. Wenig vom Gaukler darf heute an ihm haften − nach außen hin, denn im Privatleben hat sich so vieles nicht geändert. Also kein Buhlen um Gefolgschaft mehr, kein Werben ums Publikum − das besorgen die Medien im Auftrag der Verlage und Literaturagenturen. Der Schriftsteller hat sich früh zu entscheiden, ob er sich einem harten Wettbewerb stellen will. Und wenn er sich ihm stellen will, muss er schmerzfrei schreiben, unbedingt.
In bürgerlichen Zeiten dachte man, der Schriftsteller könne sich durch sein Schreiben verwandeln, durch das Werk, jene enigmatische Einheit. Heute sind wir nüchterner. Was nützt die schönste Sublimation, wenn sich das Leben nicht nach seinen eigenen Bedürfnissen artikulieren kann? Ich schreibe seit mehreren Jahren ohne Rückenschmerzen und datiere den Beginn meines Schreibens auf diese Zeit, obwohl ich länger schreibe. Und wo bin ich jetzt? Ich weiß es nicht, jedenfalls bin ich symptomfrei − von meiner Ursprungsneurose abgesehen, über die der Schriftsteller nicht verhandelt. Mir bleiben mit den Rückenschmerzen quälende Stunden der Angst des Scheiterns und der narzisstischen Kränkung erspart. Tatsächlich hat die Sexualität hier eine wichtige Veränderung bewirkt, eine andere Ausgangshaltung beim Schreiben. Das Schreiben ist die tägliche Verrichtung − im banalen Sinn des Worts. Und es ist sicherlich nicht pathetisch, wenn ich sage, dass ich am Anfang meines Schreibens genau diesen Widerstand suchte, meine Rückenschmerzen. Sie waren ja der körperliche Ausdruck der Neurose, die mich erst schreiben ließ.
Ein Blick in die Forschungen von Wilhelm Reich hätte mich früher aufgeklärt. Er hätte mir die körperliche Umformung des Schreibprozesses allerdings nicht erspart. An die Stelle des blinden Schreibverlangens ist eine Verlangenskultur getreten, mit ihren eigenen Lockmitteln und Reizakten. Richtig vergleichen kann ich hier nicht, unter Schriftstellern wird um den Akt des Schreibens ein Enigma gemacht, und vielleicht ist dieses Enigma der Schutz vor einer narzisstischen Kränkung. Wie oft hört man über die Texte Verletzendes? Und das Verletzendste ist die völlige Nichtbeachtung, die doch der Regelfall im Leben der meisten Schriftsteller ist. Anstatt von einer Sublimation zu reden, würde ich von einer Einübung des lustvollen Schreiberlebnisses reden. Sich im Schreibprozess zu verlieren − heißt auch, ihn über Jahre hinweg konsequent umzugestalten.
Ich habe mir eine Schreibumgebung geschaffen, die zuerst meinem Rücken und dann meinem ganzen Körper eine entspannte Zeit garantiert. Der Computer taugt mir als ständiges Schreibmedium nicht, er geht über die Idiosynkrasie des Schreibakts hinweg. Diese Idiosynkrasie wird durch ein Blatt Papier und einen Stift am besten verkörpert. Das Papier halte ich beim Schreiben nicht gerade, sondern um bis zu 45 Grad nach rechts gedreht. Wenn andere mich so schreiben sehen würden, wäre es mir peinlich. Andererseits steckt in dieser Schreibhaltung die eigene literarische Stimme − und auf sie kommt es beim Schreiben an. Und wer sagt, dass man auf einem schief gehaltenen Papier nicht gut schreiben kann? Der Schulunterricht hätte mir diese Schreibpraxis nicht durchgehen lassen, davon ist auszugehen. Heute merke ich, wie viel Mut es erfordert, seinen Beruf auf ein solches Schräghalten zu gründen, auf eine verschrobene Persönlichkeit, die im Berufsalltag schnell um ihren Ruf fürchten müsste. Die neuen Bürogemeinschaften der jungen Kreativen gehen andere Wege. Aber merkwürdig, eine potenzierte Verschrobenheit ergibt für mich nicht unbedingt eine Verschrobenheit mit mehr Potenz.
Der Schreibakt muss durch eine jahrelange individuelle Lernerfahrung erkämpft werden, er läuft parallel zum Erwerben der literarischen Techniken. Und er muss der Gesellschaft gleichsam entrissen werden, denn diese legt ihren Schwerpunkt nicht auf Intimität. Gerade hier gerät die Arbeit des Schriftstellers in eine spannungsreiche Nähe zur Kultur. Mit dem Gauklerhaften verweist sie indirekt auf eine autoritäre Gesellschaft, die eine solche Intimität nur privilegierten Berufen gestattet. Um den Eintritt in diese Berufe herrscht kein kreativer Kampf, sondern ein ganz und gar ökonomischer. Nicht anders deute ich meine Rückenschmerzen heute. Sie waren das schlechte Gewissen der Kultur, und das schlechte Gewissen meiner eigenen Neurosengeschichte. Ich lernte im engeren Sinn Geduld, und diese kann nicht andauernd durch Sublimation genährt werden, das ist meine feste Überzeugung. Natürlich wäre ich gern hartgesottener, aber gleichzeitig merke ich, welche körperlichen Ressourcen dem heutigen Wettbewerbsmenschen zur Verfügung stehen. Er sollte sich an sie halten, denn auch der Schriftsteller kann als Mensch nur funktionieren, wenn er sich zu seiner Lust bekennt. Er hat wie jeder Mensch den Auftrag, die Gesellschaft umzugestalten. Und er kann sich ein Stück Lust − bei im Durchschnitt chronisch niedriger Bezahlung − sogar leisten.
Nun könnte man dem Schriftsteller gleich ein gelungenes Liebesleben verordnen, zum Wohl seines Schreibens und der Gesellschaft − und weil er sich in Bereichen der Intimität aufhält, die eine Verstellung gänzlich absurd machen. Dass der Schriftsteller sich überhaupt einen Rückzugsort aufbaut, ist wohl das Wichtigste − denn dieser Ort ist eine unabdingbare Voraussetzung des Schreibakts. Ansonsten muss er herausfinden, was seine Neurose mit seinem Leben anstellen will − mit oder ohne erfüllter Sexualität. Und wird er auf dem Weg zu einer ausgeglicheneren Person ein Werk schreiben, so ist dieses als eine Symptomgeschichte zu lesen, die er hinter sich gelassen hat. Im Betonen des Eigenrhythmus eines Schriftstellers halte ich mich an eine Grundtugend, die heute manchmal vergessen wird. Intimität ist in den Werken des Schriftstellers gefordert, im Leben sind die Feuchtgebiete gefragt, wird der Schriftsteller entweder völlig ignoriert oder als Medienliebling überfordert. Deshalb muss der Schriftsteller sich an das obere Konzept halten. Nichts ist peinlicher als falsche Intimität, nichts befriedigt so sehr wie ein durchlässiges Verhältnis von Innen und Außen. Rückzug und Auftauchen haben nichts Bedrückendes. Die Schreibschübe des Schriftstellers entsprechen den beiden Polen von Kontraktion und Relaxation. Und könnten alle Menschen wie der Schriftsteller leben − es wäre eine Gesellschaft nach dem Geist des Orgasmus gebildet.