Essay
Wilhelm Reich, das Schreiben, meine Neurose und ich
Der Schriftsteller soll sich nicht aus dem Leben nehmen, wenn er in diesem Weg allein fortschreitet − er ist mit der gesamten Kultur konfrontiert, da er seine Intimität zum Lebensprinzip macht. Und das ist der springende Punkt. Er muss sich körperlich wohl befinden, sonst bleibt seine Umformungsarbeit ein falscher Gott. Sein Impuls auf die Gesellschaft kann im Aufzeigen der gepanzerten Strukturen liegen − aus seinem eigenen Schreibweg abgeleitet, denn mehr Erfahrungen stehen ihm nicht zur Verfügung. Anders gesagt, der Schriftsteller mag zwar ein Gaukler sein, doch er bleibt ein Mensch wie jeder andere, der das unerhörte Bedürfnis nach einem lustbetonten Leben hat. Er nehme das Kriterium aus einem Blick nach innen. Gute Literatur wird mich immer modulieren. Sie wird einen Entspannungszustand herstellen, nachdem sie mich in den Bann gezogen hat. Das Gemachte ist nicht der Mühe wert − in der Gesellschaft wie im individuellen Leben.
Als gemacht empfinde ich die meisten Anpreisungen für Bücher in den Kaufhäusern. Ein körperlich verkrampftes Auftreten des Schriftstellers in der Öffentlichkeit ist die Folge. Verbale Schüchternheit erlebe ich selten, hier stehen dem Schriftsteller diverse Verstellungstechniken zur Verfügung. Trotzdem diese erstaunliche Linearität. Die erfolgreichen Schriftsteller haben ihre Schultern angehoben, die erfolglosen lassen sie fallen. Ein Vorbote ist die Symptomatik der Körpersprache bei angehenden Schriftstellern. Auf ihnen lastet ein Erwartungsdruck, im Übrigen sind sie hoffnungsfroh. Natürlich geschieht die Vermittlung von literarischen Techniken am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL), an dem ich studierte, nicht mit einem körperbetonten Ansatz. Das Studium richtet sich vorwiegend an den Kopf, und so konnte ich in den Seminaren glänzende Beiträge hören, doch mitunter eine kollektiv gepanzerte Studentenschaft erleben − zu der ich selbstverständlich selbst gehörte. Wir mussten auf Anhieb um einen Kopf größer sein, anstatt wachsen zu können. Keiner unserer Dozenten, arrivierte Schriftsteller, forderte das von uns. Wir zogen einfach die Wurzel aus unserer Schreibleidenschaft und der gesellschaftlichen Realität. Im Grunde waren wir heillose Romantiker, wie wir dort verkrampft saßen.
Ich lernte über eine Studienpause, die ich in Japan verbrachte, meinem eigenen Atem zu vertrauen. Im Schreiben wie im Leben, es war eine Bewegung an der Wurzel. Auch bei Roland Barthes machte es in Japan übrigens »klick!«, und es ist vieles an dieser an sich patristischen Kultur zu loben, um Roland Barthes zu folgen. Etwa die Laxheit im Sitzen, das auf dem Boden geschieht. Ich glaube, dort in dem kleinen Zimmer in Japan vergingen meine Rückenschmerzen. Und ich fragte mich zum ersten Mal, ob Schriftsteller ein erfülltes Liebesleben haben. Unstatthaft so zu fragen, wenn man an Goethe, Thomas Mann oder Elias Canetti denkt? Doch auch ihre Lernerfahrung war eine Lusterfahrung, oftmals vermittelt über eine Fremderfahrung. Denken wir an Goethes Italienische Reise, an die Aufenthalte von Thomas Mann in Davos oder an die Stimmen, die Elias Canetti in Marakesch hörte. Warum müssen Schriftsteller aus ihrer Kultur aussteigen, um sich zu ihrer Intimität zu bekennen? Ich bestehe darauf, dass wir unseren Traum leben sollten. Es muss ja nicht das Verfassen literarischer Texte sein. Wenn die Intimität in einer patristischen Kultur unbeschadet bleibt, ist schon viel erreicht.
Ob der ungepanzerte Charakter sich durchsetzt, ist eine andere Frage. Prominenz besteht heute in einem hohen Grad aus Verstellung, und wir dürfen annehmen, dass alle privilegierten Berufe mittlerweile durch das Raster der Prominenz gelesen werden. Interessant ist vor allem eine Variante des jungen Schriftstellers, der sozusagen seine Neurose zu Markte trägt. Ein Kult das Krankhaften und Hässlichen ist das Erkennungszeichen eines jugendlichen Panzers, er hält der Gesellschaft natürlich ihr verdrängtes Spiegelbild vor Augen. Es wird geritzt und gekotzt, es wird vor die Schienen gegangen und über den Haufen geschossen. Diese Texte finde ich bedenklich, weil sie eine Karte auf dem Markt der Möglichkeiten sind − auf die allerdings häufig gesetzt wird. Nein, ich glaube diesen Texten nicht. Sie zeigen eine Stockung der Lebensenergie, und sie enden dort. Habe ich Angst vor dem Hässlichen? Ich kann den Akt des Schreibens nicht lassen, das ist mein literarisches Projekt. Die Texte modulieren mich, und ich moduliere meine Texte. Das Projekt der Hässlichkeit lautet: Ich lasse meine Texte als Panzer gegen eine gepanzerte Welt krachen. Das ist interessant, kann aber bloß gemacht sein.
Der Schriftsteller antizipiert den Selbstklärungsbedarf der Gesellschaft, hätte ich im 19. Jahrhundert als Schlusswort dieser lockeren Betrachtung geschrieben − in einer Zeit vor Wilhelm Reich und der Erdung solcher Sätze auf ihre sexualökonomische Basis. Ich lebe in einer patristischen Kultur, schreibe ich heute. Das ist leicht zu erkennen, durch meine Schreiberfahrungen wie durch meine Studienzeit am DLL. Hätte ich es nicht schon als Kind und Heranwachsender erkannt, wie eine Kultur auf der Hemmung individueller spontaner Ausdrücke gebaut ist. Das nehme ich in meine Arbeit als Autor hinein: Entlastung der Schriftstellerseele durch körperliche Entspannung. Und bei allem mitbedenken, dass meine Neurose gar nicht so übel ist. Ich muss sie nur bearbeiten. So kann ich es herrlich weit bringen.
Erstveröffentlichung: Digitales Journal für Philologie, Textpraxis # 2 (1-2011)
Als gemacht empfinde ich die meisten Anpreisungen für Bücher in den Kaufhäusern. Ein körperlich verkrampftes Auftreten des Schriftstellers in der Öffentlichkeit ist die Folge. Verbale Schüchternheit erlebe ich selten, hier stehen dem Schriftsteller diverse Verstellungstechniken zur Verfügung. Trotzdem diese erstaunliche Linearität. Die erfolgreichen Schriftsteller haben ihre Schultern angehoben, die erfolglosen lassen sie fallen. Ein Vorbote ist die Symptomatik der Körpersprache bei angehenden Schriftstellern. Auf ihnen lastet ein Erwartungsdruck, im Übrigen sind sie hoffnungsfroh. Natürlich geschieht die Vermittlung von literarischen Techniken am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL), an dem ich studierte, nicht mit einem körperbetonten Ansatz. Das Studium richtet sich vorwiegend an den Kopf, und so konnte ich in den Seminaren glänzende Beiträge hören, doch mitunter eine kollektiv gepanzerte Studentenschaft erleben − zu der ich selbstverständlich selbst gehörte. Wir mussten auf Anhieb um einen Kopf größer sein, anstatt wachsen zu können. Keiner unserer Dozenten, arrivierte Schriftsteller, forderte das von uns. Wir zogen einfach die Wurzel aus unserer Schreibleidenschaft und der gesellschaftlichen Realität. Im Grunde waren wir heillose Romantiker, wie wir dort verkrampft saßen.
Ich lernte über eine Studienpause, die ich in Japan verbrachte, meinem eigenen Atem zu vertrauen. Im Schreiben wie im Leben, es war eine Bewegung an der Wurzel. Auch bei Roland Barthes machte es in Japan übrigens »klick!«, und es ist vieles an dieser an sich patristischen Kultur zu loben, um Roland Barthes zu folgen. Etwa die Laxheit im Sitzen, das auf dem Boden geschieht. Ich glaube, dort in dem kleinen Zimmer in Japan vergingen meine Rückenschmerzen. Und ich fragte mich zum ersten Mal, ob Schriftsteller ein erfülltes Liebesleben haben. Unstatthaft so zu fragen, wenn man an Goethe, Thomas Mann oder Elias Canetti denkt? Doch auch ihre Lernerfahrung war eine Lusterfahrung, oftmals vermittelt über eine Fremderfahrung. Denken wir an Goethes Italienische Reise, an die Aufenthalte von Thomas Mann in Davos oder an die Stimmen, die Elias Canetti in Marakesch hörte. Warum müssen Schriftsteller aus ihrer Kultur aussteigen, um sich zu ihrer Intimität zu bekennen? Ich bestehe darauf, dass wir unseren Traum leben sollten. Es muss ja nicht das Verfassen literarischer Texte sein. Wenn die Intimität in einer patristischen Kultur unbeschadet bleibt, ist schon viel erreicht.
Ob der ungepanzerte Charakter sich durchsetzt, ist eine andere Frage. Prominenz besteht heute in einem hohen Grad aus Verstellung, und wir dürfen annehmen, dass alle privilegierten Berufe mittlerweile durch das Raster der Prominenz gelesen werden. Interessant ist vor allem eine Variante des jungen Schriftstellers, der sozusagen seine Neurose zu Markte trägt. Ein Kult das Krankhaften und Hässlichen ist das Erkennungszeichen eines jugendlichen Panzers, er hält der Gesellschaft natürlich ihr verdrängtes Spiegelbild vor Augen. Es wird geritzt und gekotzt, es wird vor die Schienen gegangen und über den Haufen geschossen. Diese Texte finde ich bedenklich, weil sie eine Karte auf dem Markt der Möglichkeiten sind − auf die allerdings häufig gesetzt wird. Nein, ich glaube diesen Texten nicht. Sie zeigen eine Stockung der Lebensenergie, und sie enden dort. Habe ich Angst vor dem Hässlichen? Ich kann den Akt des Schreibens nicht lassen, das ist mein literarisches Projekt. Die Texte modulieren mich, und ich moduliere meine Texte. Das Projekt der Hässlichkeit lautet: Ich lasse meine Texte als Panzer gegen eine gepanzerte Welt krachen. Das ist interessant, kann aber bloß gemacht sein.
Der Schriftsteller antizipiert den Selbstklärungsbedarf der Gesellschaft, hätte ich im 19. Jahrhundert als Schlusswort dieser lockeren Betrachtung geschrieben − in einer Zeit vor Wilhelm Reich und der Erdung solcher Sätze auf ihre sexualökonomische Basis. Ich lebe in einer patristischen Kultur, schreibe ich heute. Das ist leicht zu erkennen, durch meine Schreiberfahrungen wie durch meine Studienzeit am DLL. Hätte ich es nicht schon als Kind und Heranwachsender erkannt, wie eine Kultur auf der Hemmung individueller spontaner Ausdrücke gebaut ist. Das nehme ich in meine Arbeit als Autor hinein: Entlastung der Schriftstellerseele durch körperliche Entspannung. Und bei allem mitbedenken, dass meine Neurose gar nicht so übel ist. Ich muss sie nur bearbeiten. So kann ich es herrlich weit bringen.
Erstveröffentlichung: Digitales Journal für Philologie, Textpraxis # 2 (1-2011)