Essay
Eskapismus - Verwandlung der Welt
Eskapismus in die Hermetik der Kunst ist eine Flucht nach vorn - auf der Suche nach der verlorenen Sprache will der Künstler die Welt ergreifen… Ein Lyriker kann nur so schreiben, wie er verfasst ist. Wenn seine Situation sich immer mehr in Richtung Hermetik entwickelt, wenn er also zum Beispiel materiell und geistig isoliert ist, bringt er eben dies zum Ausdruck. So ist der geschriebene Ausdruck des hermetischen Zustandes ein Ausweg. Kunst hat oftmals diese Genese.
Kunst dient der Befreiung der schrei(b)enden Seele, und das ermutigt die lesende Seele. Und: Erst die Kräfte, die den Schreibenden zur Hermetik bewegen, weil er es anders nicht sagen kann, bringen jene Authentizität hervor, die große Literatur ausmacht, um die es einzig geht. Hermetik ist letztlich der Versuch, das Unsagbare doch noch zu formulieren. Der Eskapismus des Künstlers ist eine Flucht nach vorn auf der Suche nach der verlorenen Sprache.
Axiom 1: Ich denke, dass das Sich-Verschließende das Neue, zunächst Fremde ist, das Leser oft unmittelbar nach Erscheinen eines Werks nicht so gut verstehen wie Leser später. Wirklich gute und dauerhaft wirkende Literatur kommt in einer neuen Sprache oder Schreib-Weise daher. Manchmal ist ein Werk noch heute vermutlich nicht genügend verstanden, etwa Faust II oder Ulysses oder Der Mann ohne Eigenschaften…
Hermetik will sich nicht verschließen, im Gegenteil, der hermetisch Schreibende schreibt gar nicht verschlossen, sondern er reißt geradezu verschlossene Horizonte auf!
Axiom 2: Ich denke, es ist genau umgekehrt: Der größte Widerstand wurde beim Schreiben gesucht: Nämlich die unverstandene und verschlossene Welt aufzuschließen. Das geht nur mit einem neuen Schlüssel, mit einer neuen Sprache: Wittgenstein, Heidegger, Grass, Ionesco, Beckett, Jandl, Jelinek…!
Auch die Suche tief in sich selbst hinein ist keine Flucht, kein Ausweichen, sondern der Versuch, moralische Schranken und Erkenntnismauern einzureißen, um neue Sichtmöglichkeit zu gewinnen. Wer in sich geht, will sein Außen verstehen - und umgekehrt. So in Musils Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“, rein sprachlich zwar konventionell, aber in den Bildern und in der Handlung nichts Geringeres als eine poetische Vorwegnahme von wesentlichen Erkenntnissen Sigmund Freuds und erste Ahnungen vom heraufziehenden Faschismus, der im Spätimperialismus seine Wurzeln hatte.
Der so Suchende muss eine neue Sprache finden und sprechen, wenn er zu neuen Erkenntnissen gelangen will. Ob diese zur ‚Botschaft’ für den Leser werden, ist eine andere Sache; intendiert ist so etwas meist nicht, die Intention ergibt sich oft beim Leser a posteriori. Ich verstehe in diesem Zusammenhang Sprache im weitesten Sinne.
Insofern ist die Frage, ob Hermetik lebensnotwendig sei, eigentlich irrelevant. Hermetik ergibt sich aus dem Drang zur Originalität, wenn die Ergebnisse dieses Drangs Ratlosigkeit beim Leser erzeugen.
Axiom 3: Nicht nur der Künstler ist zum Eskapismus ‚genötigt’, sondern auch der Leser. Beim Lesen eines literarischen Werks treffen sich Autor und Leser, wenn sie aus ihren verschiedenen Perspektiven heraus die Welt (zu begreifen ver)suchen. Der Leser steigt wie der Schreibende auf in eine neue Dimension des Denkens und Verstehens. (So war es einst auch mit dem biblischen Erzählen.)
Gott als Künstler (und der Künstler als Gott im Kleinen) - das ist eine Idee, die mich schon lange beschäftigt. An Gott als Künstler muss ich glauben (ich wünschte mir, ich könnte es; jedenfalls hätte ich gern so eine Schöpfung, ohne Krebs und Genozid, aber ohne paradiesische Langweile. So eine Schöpfung haben wir aber nicht - es liegt an uns, den Rohentwurf zu gestalten. Ebenbild Gottes zu sein ist der Auftrag (oder die selbstgestellte Aufgabe) für uns, zu Künstlern zu werden, die die Welt als Kunstwerk begreifen und zu einem lebbaren würdevollen Menschsein umgestalten. Insofern schließe ich mich dem utopischen Wollen von Joseph Beuys und seiner Idee der sozialen Plastik an.
Ich frage mich: Wenn Gott so ein eskapistischer Künstler war: Welche Not hatte er, die Welt zu erschaffen? War es Not(!)wendigkeit, also ein logischer Zwang?