Eskapismus - Verwandlung der Welt

Essay

Autor:
Ulrich Bergmann
 

Essay

Eskapismus - Verwandlung der Welt

Drogen helfen nicht beim Schreibakt. In dem Moment, wo der Künstler arbeitet, ist der künstlerische Akt seine ‚Droge', sein Lebensgrund.

Die Behauptung, dass Künstler nicht die Normalität eines durchschnittlichen Bürgers haben, trifft sicher bei vielen Künstlern zu. So eine durchschnittliche Normalität und geistige Gesundheit ist nicht erstrebenswert. Ich will kein Tier mit Bewusstsein sein, das nur frisst, eine Hütte baut, sich vermehrt und dann stirbt.
Menschsein bedeutet, diese Grundbedingungen des Lebens zu transzendieren, zu überwinden, ein Werk zu schaffen. Dieses Werk muss kein künstlerisches im engeren Sinne sein. Ein solches Werk ist auch eine reiche Lebensgestaltung, die gute Erziehung der Kinder und eine beseelte Berufsausübung.

Ein Künstler erschafft ein Werk, das anderen, oft intentionslos, etwas mitteilt und gibt, indem der Rezipient das Werk benutzt, um sich selbst etwas mitzuteilen und zu geben: Der Künstler vermittelt (s)einen Erkenntnisfortschritt (seine Lebensbeobachtung etc.), so dass der Rezipient zu einer eigenen Erkenntnis gelangt. Manchmal geht es auch nur um Bestätigungen, Ermutigungen und Unterhaltung in einem nicht konsumistischen Sinn.

Letztlich ist jeder Autor eine Art Religionsstifter im Kleinen.

Nun zurück zur Ausgangsthese. Es ist klar, dass ein Künstler, der in und/oder an der Welt leidet oder in ihr tiefe Erfahrungen macht(e), die ihn verletz(t)en, mehr zu sagen hat und mehr bewegen kann im Rezipienten als zum Beispiel das Gefasel auf RTL-Niveau. Eskapismus bezieht sich auf das Gefühl und die Erkenntnis, dass viele Dichter die Welt (wie sie ist) nicht aushalten. Sie haben ein utopisches Wollen. Sie beschreiben die Welt aus dieser Perspektive heraus. Etwa Kafka.

Vielen begegnet Geschriebenes heute nur noch als Unterhaltung im Chat-Maßstab. Anstrengung und Arbeit des Lesens, das in ein Dahinter strebt, bleiben fremd und erscheinen unattraktiv.  Man belächelt das Hermetische eines Georg Trakl, die Hintersinnigkeit eines Thomas Mann, will lieber das handwerklich Gekonnte, die Tiefe und die Schwermut der Philosophie allenfalls als Bildungszitat oder umgebogen in den Scherz, in die Ironie, in den eigenen seichten Eskapismus. Die Verzweiflung, die Kleist oder Büchner oder Beckett oder Joyce ergriffen hat, die interessiert viele nicht, weil ihnen eine Welt, die man sich ganz handwerklich imaginiert, gefällt.
Viele kennen die Welt nicht, wie sie auch die Literatur nicht kennen - aber sie spielen sich auf als die Gesunden, die Normalen mit dem trivialen Menschenverstand, Handwerker des Banalen.

Nicht zu widerlegen ist die Tatsache, dass heute so gut wie jeder Weltflucht begeht. Wir müssten nur überlegen, ob die Flucht ins ‚Feiern’ dieselbe ist wie bei einem Künstler. Teils ja. Allen gemeinsam ist ein Leiden an der Welt. Erschiene dem Spielsüchtigen World of Warcraft nicht schöner als das Reale, würde er sich ja lieber in der Wirklichkeit aufhalten. Aber so ein Spieler ist kein Künstler, er verkommt im vorgedachten Rahmen eines handwerklichen Regelwerks.

Manche (nicht der) Dichter, Schriftsteller, Autoren flüchten aus der Welt und/oder in sich selbst; das geschieht mit und ohne Absicht. Grund: Die Widersprüche der Welt sind nur schwer auszuhalten und werden in der Flucht sublimiert, umgewandelt in eine schriftstellerische Produktion.

Wieviel Leiden an der Welt formt einen guten Lyriker? Ist ohne dieses Leiden gute Lyrik möglich? Ist das Leiden den geschärften Sinnen geschuldet ist oder der gesteigerten Intelligenz, die sich die täglichen Widersprüche der global kapitalisierten Welt nicht mehr schön lügen kann? Ich weiß die Antwort nicht, ich stelle schließlich keine Fragen in den Raum.

Es gibt keinen bedeutenden Dichter, der nicht sehr genau das Leben betrachtet und gefühlt hätte. Die Schwere des Leids ist kein verlässlicher Maßstab. Wissen vom Leben haben setzt Anteilnahme auch am Schicksal anderer voraus.
Menschen, die an den Widersprüchen des Lebens leiden, egal ob diese Widersprüche sie selbst oder andere betrifft, setzen sich politisch ein zur Verminderung des Leids, oder schreiben, oder komponieren, oder sie malen oder philosophieren. Ich denke, dass solche Sublimationen (egal ob mit oder ohne Intention) bis in die Unterhaltungskunst und -industrie hinein reichen und dort genutzt werden. Wenn es große und langfristige Welterklärungen sind, dann benötigen sie eine neue Sprache, neue Darstellungsweisen.
Ich vermute, dass jeder Dichter (von Robert Gernhardt bis Goethe) durch Leid und Erfahrungen gehen muss und durch die im Schreiben gelebte Einsamkeit (die ich als eine Flucht ins Begreifen verstehe, wo die Suche zur Sucht werden kann) und schmerzvoll gewonnene Erkenntnisse zu ganz neuen Ansichten und Einsichten des Lebens gelangt - und in diesem Neuen liegt zunächst das Hermetische, das sich jedoch mit der Zeit entschlüsseln lässt, oft zu einem wiederum neuen Verständnis.