Essay

Die anziehende, herausfordernde Wortlosigkeit der Tiere. Ulrike Draesner begibt sich in die Nachbarbereiche des Gedichts.

Tiersprachen „in echt“

Gedichte über Tiere sind Legion, doch auch Tiergedichte im emphatischen Sinn gibt es nicht selten. Die erste Antwort auf die Frage, warum das so sein mag, liegt nahe: das Tier taugt uns als Spiegel so gut. Gedichte spiegeln unser Denken über Ich und Du, Wir und die Bewegungen, Relationen und Nachbarschaften des Menschen zu Dingen und Wesen. Aber das gilt auch für andere Literatur.

Die zweite Antwort trifft genauer. Anziehende, herausfordernde Wortlosigkeit der Tiere. Gedichte unternehmen wenigstens zu einem Teil den Versuch, etwas in Sprache zu übersetzen, was nicht spricht, dessen Sprache wir nicht wahrnehmen – weil wir sie nicht verstehen, weil wir nicht gewohnt sind, sie zu hören, weil wir uns abgewöhnt haben, auf sie zu achten. Stimmen der Vergangenheit, tabuisierte oder unterdrückte Stimmen, Stimmen am Rand. Spannend auch alle unwillkürlichen Ver-Laut-Barungen (Offenbarungen) wie Röcheln, Stöhnen, Schreien. Sie sitzen zwischen Lautgabe und Sprache, sind, wie beispielsweise „au“ oder „ouch“ einer spezifischen Sprache zuordenbar – die unwillkürliche Äußerung erfolgt also sehr wohl in einem codierten Rahmen –, oder treten aus dieser Sprachlichkeit etwa im Aufschrei so weit heraus, wie Kehlkopf und die sprachspezifisch geformte Muskulatur des Mundes es zulassen.

Tiere bringen ein weites lautliches Repertoire ins Spiel: bellen, grunzen, miauen, fauchen, imitieren, singen, gackern, blöken, meckern. Verbunden mit schauen, verstehen. Neben diesen Lautgaben verfügen sie über äußerst spezifische Körpersprachen – eigene und solche, die sie, wie beispielsweise Hunde, durchaus dem Menschen anzupassen wissen.

    Affen, unsere nächsten Verwandten, beherrschen eine einfache, basale Menschengeste nicht: Wenn man für sie auf etwas zeigt, werden sie auf den Finger schauen. Hunde hingegen sind, bei entsprechendem Training, dazu in der Lage, der Zeigegeste zu folgen. Die Sache ist grundsätzlich, schon Kleinkinder entdecken das Spiel „Gezeigtbekommen und Selbstzeigen“ mit Begeisterung. Jüngst wurde sogar die These aufgestellt, das große Augenweiß, das uns von allen anderen Säugetieren unterscheidet, habe sich eben dieses Zeigens wegen entwickelt. So essentiell sei es für den Menschen, mit anderen Menschen zu kommunizieren: das Auge gibt die Richtung an, der Finger hilft - und man teilt sogar, was in der Ferne liegt.

Tierwelt bedeutet, dass wir vielfachen Sprachen und Sprachkompetenzen, Lauten und Anpassungen sowie Formen stummer, aber sehr realer Kommunikation gegenüberstehen. Sie alle sind Nachbarbereiche des Gedichts.

Les Murray übersetzt Menschensprache durch kleine Manipulationen in Kuhsprache. Jeder weiß, dass Kühe nicht so sprechen, jeder glaubt es für die Lektüre des Gedichtes doch, weil er, paradox gerade im Gedicht, die Sprachlichkeit der Kuh in den Versen sowohl fühlt als auch übersieht. Das Paradox gelingt auch deswegen, weil wir von Kindesbeinen an durch Literatur darin eingeübt sind, dass Tiere Menschensprache sprechen, untereinander und mit uns. Im Vergleich zur Sprache der Fabeln und Märchen, der Fantasygeschichten  und Tierwundererzählungen strengt Les Murrays Kuhgedicht Normalsprache und –wahrnehmung an: er dehnt sie, treibt sie über sich selbst hinaus. Doch, meine ich, könnte das weiter gehen.

Müsste das innere Sprechen eines Tiers nicht viel – tierlicher klingen?

Genauer: wie weit lässt die (Menschen)Sprachgrenze sich in diese Tierlichkeit schieben? Inwiefern sich etwas erfassen von der Daseinsanwesenheit oder Lebensform etwa einer Fledermaus und ihres „täglichen“ (dieses Wort ist schon falsch) nächtlichen Fluges durch Gärten (ebenfalls falsch) voller Futter und Sex (Sex?), eines Fluges, fast blind (falsch: sie „sieht“ durch die Taktung ihrer Neuronen, die in Mikrosekundenfenstern zwischen Eigen- und Fremdgeräusch unterscheiden – und wie „fühlt sich“ das an?).