Essay

Die anziehende, herausfordernde Wortlosigkeit der Tiere. Ulrike Draesner begibt sich in die Nachbarbereiche des Gedichts.

Tiersprache 2, Lebensform

Wittgenstein widmet sich in den Philosophischen Untersuchungen dem Verhältnis zwischen Innerem und Äußerem, von Gefühl und Ausdruck. Wenn wir sehen, wie sich jemand in Schmerzen windet, wissen wir, was „los ist“, ja, „verstehen“, auch wenn wir selbst den Schmerz, den dieser Mensch erlebt, nicht kennen. Natürlich kann uns ein sehr geschickter Schauspieler überzeugend etwas vorspielen – doch dies ist die Ausnahme, sie ruht auf der gelingenden Verständigung in der Grundsituation auf. Ich sehe und weiß, was geschieht. Äußeres Verhalten ist, so Wittgenstein, Teil des inneren Gefühls – und umgekehrt. Als Menschen gestehen wie einander Empfindungen zu, wie wir sie selbst kennen, wenn ein bestimmtes Verhalten gezeigt wird, das bei uns mit solchen Empfindungen verbunden ist. Dabei „wissen“ wir nicht, was der andere wirklich empfindet, ob sein Schmerz anders ist als der unsere wäre – doch ist das für unser Verstehen und unsere Kommunikation in der Situation (Hilfe leisten) bedeutungslos.

Bei Tieren jedoch stoßen wir, so Wittgenstein, an eine anspruchsvollere Art von Grenze - die von uns unterschiedene Lebensform. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat diesen Gedanken Ende der 70er Jahre in seinem berühmt gewordenen Aufsatz What is it Like to Be a Bat aufgegriffen. Er geht davon aus, dass jedes Wesen mit Körper und Bewusstsein auch über eine bestimmte Weise der Selbstwahrnehmung verfügt. Es besitzt ein eigenes In-der-Welt-Sein, bestimmt (begrenzt und eröffnet) auch von seinen Sinneswahrnehmungen und deren spezifischen Kanälen. Fledermäuse leben in einer anderen Welt, mit anderen Bewusstseinsweisen als wir. Selbst wenn der Löwe Menschensprache spräche, so Wittgenstein, verstünden wir ihn nicht, weil seine Art und Weise, unsere Sprache zu benutzen, eine völlig andere als die unsere wäre. Eine für uns nicht nachvollziehbare Weise. Wir könnten der Art, wie der Löwe Regeln folgt, nicht folgen – und Sprache implodierte. 

    Da wäre er also: ihr harter Rand. Eine prinzipielle Grenze zwischen Perspektiv-Shifting und Unverständigung, Fremdheit und Empathie. Ich empfinde diesen beweglichen, schwammigen, metamorphotischen fizzy fringe als Kern-„Gegenstand“ poetischer Spracharbeit. Aufregend, nervenaufreibend, uneinholbar. Hat man ihn einmal entdeckt, vervielfältigt er sich und kehrt aus dem Tierkörper in den Menschenkörper zurück: wie sind im Tier Homo sapiens Laute mit Körperreaktionen verknüpft? Wo verläuft die Trennlinie zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Stimmgebung, Intonation? Und wo reicht selbst noch dort, wo das ausgebildete Vokabular einer Sprache betroffen ist, der Körper über diese Sprache hinaus – wie etwa bei Geschmacks- und Geruchseindrücken, deren körperlicher Wahrnehmungsvielfalt, die sich auch in der Erinnerung abrufen lässt, unsere Sprache in fünf dürren Grundadjektiven erbärmlich hinterherhinkt (das Kirscharoma von Weinen, rauchig tamarindig mit einer Note Eichenholz, fruchtig in der Zungenspitze etc.,schmecke ich nie).

Gedichte sind auf betonte, exklusive, haarsträubend fanatische Weise Sprachgebilde. Vielleicht eignen sie sich deswegen dazu, an diese A-Reale der zwischen Willkür, Reflex und Muskelspannung schwankenden Lautlichkeit, der schiefen Vernähung von Sensorik, Erinnerung und Sprache zu rühren. Falls es gelingt, einen Bedeutungspfeil so aus ihren Sprachfügungen und deren Elastizität herauszuschießen und im Herausschießen abzulenken, dass er auf etwas zeigt, was der Sprache selbst nur über den Abprall an ihrer Grenze zugänglich ist. Die dritte dieser Grenzen: das „stumme“ Tier.

Schön paradox. Schön schön.

 

zurück