IN AUGENSCHEIN

# 004

Autoren:
Tobias Roth, Ulrike Draesner
 

# 004

IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 004). Zu Gast: Ulrike Draesner

III.

 

alle wege hierher waren zügig und blau.

vor rehen wurde auf schildern gewarnt,

das grünen der bäume fiel in die augen,

jedes tier in den ästen hielt sich sichtbar

und still. in richtung der fliehenden kronen

warfen wir unsre köpfe zurück, in scharen

flogen knospen im licht, die stämme waren

mit gleißender farbe markiert, hinter den

kurven die kreuze. NATUR sei wurfziel

der jungen von hier, sag ich dir. vergiss

mein nicht, gibst du mir zurück. erinnerst

du dich an die kronen im anderen jahr, an

unseren laufschritt, das tosen der blätter,

die brandung am kieswerk, die bagger,


den see

 

 

Tja – ist das ein Mann? Verraten Sie mir das mal.

Na gut: nein.

Küchenmeister? Bossong?

Wie kam es bei diesem Gedicht gleich zur Frage nach dem Geschlecht des Schreibenden?

Weil ich etwas wahrgenommen habe, das nicht zueinander passt. Die soziale Situation, die ich assoziierte, war eher männlich besetzt: jemand nimmt jemanden mit zum Baggersee, so eine Art Jungsausflug. Andererseits aber habe ich das Gefühl, dass die Sprechweise des Textes nicht zu diesem Eindruck passt, ich könnte mir keinen Dichter dazu vorstellen. Anders als im zweiten Gedicht ist das Metrum viel untergründiger, öfter gebrochen. Es gibt ein Lächeln, es gibt Witz, es ist sehr leise gemacht, erzählerisch und sehr stringent, pragmatisch fortgeführt, dabei doch zart. Das brachte ich nicht mit jener Szene am Baggersee zusammen.

[lange Pause]

Grundsätzlich finde ich dieses Gedicht sehr schön zwischen verschiedene Stühle platziert. Es hat Prosaelemente, wenn wir das einmal der Kürze halber so nennen wollen: eine Erzählsituation, Beschreibung, Anfang, Mitte und Ende, reguläre Satzzeichen. Ein Ich und ein Du sind unterwegs. Auf der anderen Seite arbeitet das Gedicht auch mit ganz verschiedenen Versatzstücken, die klassischerweise der Poesie zugeordnet werden: es gibt Reime, sogar Endreime, auch sehr plakative Binnenreime wie etwa „hier / dir“, die ein gewisses Augenzwinkern in den Text tragen. Da finden sich Sprachzitate wie „vergiss mein nicht“, es herrscht eine feine Ironie aus der Situation des Zurückschauens. Ich glaube, das Problem, dem sich das Gedicht widmet, ist es, ein Fühlen zugleich darzustellen und zu evozieren – und das gelingt sehr gut. Es zeigt zwei Figuren, die sich in einer Situation befinden, der sie selbst nicht mehr ganz trauen, nicht mehr ganz glauben. Sie sprechen in Einfachreimen und Zitaten, evozieren auf diese Weise die Möglichkeit, an den Baggersee zu fahren: und es ist Frühling, alles grünt, alles ist wunderbar, die Knospen fliegen im Licht. Wie kann man das eigentlich so darstellen, dass die Stimmung selbst entsteht? Auch hier wird verneint, aber der Stift, mit dem durchgestrichen wird, ist sehr fein. Die Ironie wird ganz genau und präzise in den Text eingebunden. Dadurch hat es für mich als Leserin einen doppelten Effekt: ich freue mich daran, weil ich mitlächle und die Ironie sehe. Zugleich erlauben die Anspielung auf das Liebesgedicht und das Liebesgedichtklischee, etwas vom Liebesgefühl wirklich zu spüren.

Die Situation, die beschrieben wird, ist ambivalent. Am Ende des Textes entsteht für mich ein ganz anderes Bild des Sees als in der Mitte – als herrschte plötzlich eine andere Jahreszeit. Das wird vor allem lautlich evoziert, ohne dass ein Etikett aufgeklebt werden müsste. Blätter, Brandung und Bagger geben durch die Laute, geben sprachlich, ein ganz anderes Licht als das melodische Frühlingsszenario des Beginns. Die Natur aber wird durch ihre Großschreibung enorm fragwürdig: Was ist die Natur an einem Baggersee?

Gemachte Natur, renaturierte Natur. Eine belebt-unbelebte Natur: manche Tiere sind lebendig und sichtbar, manche nur auf Warnschildern präsent. Entsprechend spricht man in und wirft man mit Liebesfloskeln, die genauso echt-unecht sind. Man merkt das bereits im ersten Vers. Die Geschwindigkeit des geraden Weges, den es in der Natur nicht gibt, den nur der Mensch baut: „zügig und blau“. In diesem Sinne ist „zügig“ hier genau das richtige Adjektiv, indem es nicht das richtige Adjektiv ist. Auf dieses Szenario wird schlüssig aufgebaut: es ist ja nicht umsonst eine große Strophe mit zwei Worten am Ende. Der Naht- und Kreuzungspunkt ist die „NATUR“, hier erst entfaltet sich aus dem Wahrnehmungswesen eine Szene mit zwei Figuren, im Dialog, ganz sparsam gebaut. Dann kippt es wieder in den Wald zurück, aber in eine ganz andere farbliche Mischung. Dadurch, dass der See so frei steht, balanciert sich das Gedicht, erhalten Einleitungs- und Ausleitungsbeschreibung das gleiche Gewicht. Daran sieht man auch wieder, wie deutlich fühlbar sogenannt „Formales“ ist. Es ist ein wesentlicher Teil dieses intelligenten Aufbaus einer Kippbewegung. Nichts würde aufgehen, setzte man den See nicht so: weit, und auffangend, und dazugehörend außerhalb.