IN AUGENSCHEIN

# 004

Autoren:
Tobias Roth, Ulrike Draesner
 

# 004

IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 004). Zu Gast: Ulrike Draesner

IV.

 

Kalt nach dem Gewitter. Die Kinder

sind zur Scheune gelaufen und klettern

auf den Traktor, der im Stroh steht

seit Ende der Fünfziger Jahre.


Unaufhaltsam geht Land verloren.

Ein Sommer noch für den Feldweg, den Mohn.

Metallgitter sichern das Areal.

 

Wetterleuchten gegen Abend. Die Kinder haben

es vor sich, das Erzählen aus der Kinderzeit.

Nachts steigt der Marder in die Garagen,

die sich auf den Wiesen vermehren.


 

Dieses Gedicht setzt auf die unmittelbare Wirkung von Landschaftsbildern. Es ist leicht zu überblicken. Die erste und die dritte Strophe entsprechen sich, beginnen mit dem Wetter und den Kindern, Rahmen für eine kürzere Mittelstrophe. Mir gefällt gut, dass kein Ich und kein Du, überhaupt keine Person vorkommt. Ein Gedicht kann es sich leisten, einfach nur eine Wahrnehmungsinstanz zu zeigen, egal, wer, was oder wie diese Instanz ist: es zeigt sich allein die innere Wahrheit eines Wesens, das sich dadurch auszeichnet, dass es Sprache hat, und das genügt. Alles, was ich hier erfahre, ist, dass dieses Wesen offensichtlich nicht zu den Kindern gehört. Das Wesen scheint älter zu sein, da es sich der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft bewusst ist. Das scheint mir das Thema des Gedichtes, daher auch seine drei Strophen. Die erste Strophe spannt die Reichweite des Gedächtnisses in die Vergangenheit auf. Die zweite bringt einen Kommentar über die Gegenwart, um gleich in die Zukunft zu kippen. Die Zeitstruktur ist sehr fein gearbeitet, es gibt einen Verlauf, es vergeht tatsächlich Zeit. Alles erscheint wie an einem Nagel aufgehängt, an der Situation des Gewitters, und entfaltet sich von dort aus. Zwar ist im ganzen Text kein Ich gegenwärtig, aber doch zieht das wahrnehmende Subjekt sich im Verlauf immer weiter zurück, es beobachtet, was gar nicht sichtbar ist. Am Ende handeln nur noch die Marder und die Garagen. Das ist ein schönes Bild, aber auch ein enorm trauriger Zusammenhang, da die Vermehrung der Garagen als nicht mehr aufhaltbarer Prozess erkennbar wird. Hier finden wir keine Menschen mehr am Werk, sondern strukturelle Prozesse, das wird hier sehr präzise beschrieben. Die Worte „Struktur“ oder „Prozess“ fallen dabei selbstverständlich nicht, dass es sich darum handelt, wird exakt durch die Selbstvermehrung der Garagen ausgedrückt. Ein schönes Beispiel für den entscheidenden Unterschied, ob ich schreibe „Garagen werden auf den Wiesen gebaut“ oder „Garagen vermehren sich auf den Wiesen“. Wenn da jetzt Gottlob Frege mit seiner Sprachphilosophie käme, würde er sagen, dass Sinn und Bedeutung in beiden Fällen identisch seien, nämlich mehr Garage auf den Wiesen. Aber stilistisch und formal ist es ein himmelweiter Unterschied – und es wird auch etwas ganz Unterschiedliches ausgesagt.

Das steckt auch in den Passivformen, die Gegebenheit des Ortes: niemand nimmt das Land weg, sondern es geht verloren, ganz unpersönlich. Die Spiegelachse des Gedichtes ist der melancholische Satz „Ein Sommer noch für den Feldweg, den Mohn.“ Dieser Satz könnte romantisch sein, im verwendeten Arsenal, er ist es aber nicht in seinem Ton. Dieser Satz wird in der zweiten Strophe eingekreist von den unpersönlichen Prozessen, die sich selbst vorantreiben.

Auch lautlich und in Bezug auf Stilmittel ist das Gedicht ganz unterschwellig und unpersönlich gearbeitet. Alles zieht sich zurück, nur die Strukturen sind in ihren Spiegelungen und Symmetrien prominent. Auch hier könnte ich nicht sagen, von wem das ist. Aber man stellt sich ja immer etwas vor. Mein Eindruck ist der einer älteren Person, das legt die Perspektive nahe. Viel Landschaft und ein starker Bezug zu dieser Landschaft. Deshalb würde ich an jemanden wie Wulf Kirsten denken, wobei ich weiß, dass das nicht sein kann, denn es kling überhaupt nicht nach Wulf Kirsten. Der Text ist sehr intelligent, aber auf versteckte Weise. Im Grunde ist er beinhart. Das zeigt sich auch in seiner durchstrukturierten Form: dieses Gedicht ist gnadenlos gebaut. Und gnadenlos gehen Zeit und Verlust voran.


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