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# 004
IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 004). Zu Gast: Ulrike Draesner
April 2013
Der Fülle des lyrischen Textes steht die besonders hingegebene Lektüre gegenüber. Wie es den Text zu neuen, erleuchtenden Wortverbindungen treiben kann, wenn er sich den Spielen, Zwängen und Anforderungen eines lyrischen Einfalls hingibt, so kann auch die Lektüre durch Beschränkung in neue Richtungen wachsen: und an Aufmerksamkeit gewinnen, wenn die Sicherheit gewohnter Fangnetze fehlt. In dieses Wagnis will sich die Reihe Augenschein begeben, indem sie im Gespräch mit Lyrikern über Lyrik Namen und Titel verdeckt. Der blinde Fleck über dem Namenszug der Autoren soll einen freieren Blick auf das erlauben, was die Signatur ihrer Texte ausmacht. Da geht es um Stile, mehr als um Inhalte; gerade deshalb geht es um Beobachtungen und nicht um Wertungen. Kein Quiz, sondern ein Spiel, dessen Regeln sich im Moment erst formen. Nur das Material ist gegeben und älter als wir. Wir bleiben familiär, wir wollen spazieren, die Augen, Ohren und Hirne weit aufsperren. Deutlichkeit und Lösung können dabei selbstverständlich nicht in unserem Interesse liegen.
Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, tritt nicht nur als Dichterin, sondern immer wieder auch als schreibende Leserin in Erscheinung. 1992 mit einer Arbeit zu Wolframs Parzival, genauer und bezeichnenderweise zur Intertextualität im Parzival, promoviert, hat sie sich bald darauf aus dem universitären Betrieb verabschiedet – dass sie dem Schreiben über Lektüren aber treu geblieben ist, bezeugen eine Vielzahl von Essays, gesammelt in Bänden wie „Schöne Frauen lesen“ (2007) und dem in Kürze erscheinenden „Heimliche Helden“. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Förderpreis zum Leonce-und-Lena Preis (1995), dem Bayerischen Staatsförderpreis für Literatur (1997), dem Drostepreis (2006) und dem Literaturpreis Solothurn (2010).Ulrike Draesner ist Mitglied des P.E.N. Deutschland und der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Seit 2001 erscheinen ihre Gedichtbände, Erzählungen und Romane im Luchterhand Literaturverlag München.
Wie lässt sich vom Stil von Gedichten sprechen?
Mich irritiert die Frage nach Stil, weil sie eine Trennung voraussetzt, die ich insbesondere bei Gedichten nicht fühle und nur intellektuell nachvollziehen kann. Das ist die Trennung zwischen Stil und Inhalt, die ich völlig unsinnig finde. Ich erfahre es beim Schreiben ganz anders: Der Inhalt existiert vorher überhaupt nicht, er entsteht erst in dem Moment, in dem ich auch einen Rhythmus und eine Form gefunden habe. Das kommt gemeinsam oder es kommt gar nicht, das ist miteinander verwoben, verwachsen, eins. Nachträglich in einer künstlich hergestellten, analytischen Situation kann ich mir vornehmen, erst auf den Stil, dann auf den Inhalt zu schauen – muss aber stets im Bewusstsein behalten, dass diese Situation künstlich ist. Natürlich ist es nützlich, etwas über Metrik, Reimschemata und so weiter zu lernen, weil sich dann ein Vokabular entwickelt, durch das man sich mit Anderen über Gedichte unterhalten kann. Aber das Bewusstsein von der Künstlichkeit der Trennung, die dem nicht gerecht wird, was ein Gedicht im Kern sein und wie es wirken kann, muss wach bleiben. Das Gedicht wirkt ja immer als Ganzes: als Semantik und Form, als Form als Semantik. Die Muster der Vokale, die Muster von Längen und Kürzen, das ist alles auch Semantik.
Natürlich, wenn der Stil wegsortiert wird, dann hängt der Inhalt am Baum wie der gehäutete Marsyas. Aber auf der anderen Seite gibt es doch das Phänomen des Personalstils, eines Tons, der wieder erkennbar ist, ohne dass es um einen bestimmten Inhalt geht, ohne dass man es nachzählen könnte?
Das ist in meinen Augen kein Widerspruch. Die Frage nach einem identifizierbaren Ton ist noch einmal etwas anderes als die reine Stilfrage. Da geht es darum, wie sich die Eigenart des Menschen, der die Texte schreibt, umsetzt in eine bestimmte Weise, gleichzeitig Sprache zu gebrauchen und die Welt wahrzunehmen. Da kommt niemand aus seiner Haut – und den armen Marsyas wollen wir nun nicht als Beispiel nehmen. Die spezifischen Neigungen, Fähigkeiten, Wahrnehmungsweisen sind so eng miteinander verdreht und verbunden: die Sprache spiegelt wieder, wie Welt aufgenommen, verarbeitet, gefühlt und gedacht wird und zugleich wirkt das Erfahrene auf den Sprachgebrauch zurück. Das sind zwei sich wechselseitig beeinflussende Systeme. Nun gibt es Dichter, deren Ton sehr deutlich hörbar ist. Gottfried Benn etwa ist so jemand, der Ton des späten Benn bringt eine ganze Welthaltung zum Ausdruck, die Ironie, aber auch die bewussten Entscheidungen für Collagestil, Kühle, Substantive. Das hört man, das erkennt man. Auf der anderen Seite gibt es Dichter, deren Ton nicht so deutlich zu unterscheiden ist oder, das halte ich für spannend, deren Töne wechseln können. Es ist unheimlich interessant, jemanden zu verfolgen, der über vierzig, fünfzig Jahre hinweg Gedichte geschrieben hat, an denen man beobachten kann, wie das Altern, die Lebenserfahrungen und der Fortschritt der Zeit sich in der Sprache niederschlagen. Das handhaben Dichter natürlich auf sehr unterschiedliche Weise. Manche bauen an heterogenen Wegen, andere sortieren Abweichendes in die berühmte Schublade. Ich finde es sehr bereichernd, wenn der individuelle Ton nicht zu sehr eingetaktet ist.
Aber auch der Ton wird erst im Nachhinein beobachtbar.
Ja, ein Ton bildet sich in meiner Wahrnehmung erst heraus, wenn ich eine größere Zahl Gedichte von einer Person kenne. Dann erst kann ich es einordnen. Es gibt, auch in der Prosa, Autoren, deren Stil über Jahrzehnte hinweg gleich bleibt. Diese Kontinuität finde ich manchmal bewundernswert, manchmal erschreckend. Das meine ich wertfrei. Manche Autoren bringen aus ihrer persönlichen Geschichte diese Kontinuität mit, sie wissen, wo sie hin wollen. Andere suchen auf andere Art und Weise. Aber beides sind Suchstrategien, die völlig gleichrangig sind. Allerdings glaube ich, dass man diese Suchstrategien nicht frei wählen kann. Ich arbeite eher an verschiedenen Strängen, in verschiedenen Tunneln auf einmal. Die Gefahr ist natürlich, sich zu verzetteln oder gar nichts zu finden. Andere bauen ein Leben lang an einem einzigen Tunnel – und auch so ist das Risiko, gar nichts zu finden, groß.
Das wäre also eine Temperamentsfrage?
Temperament, Charakter, Seele, wie auch immer man das bezeichnen will. [lacht; und beginnt zu lesen]