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# 004
IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 004). Zu Gast: Ulrike Draesner
es ist das trostgesicht aus moos
jetzt umgestülpt die feine
wurzelung der augen mit
erde unterlaufen das
gute braune netz der nerven
enden greift als hätte es nicht recht
verstanden in die luft & auf
den kapillaren resten eines
plötzlich weit versprengten denkens
sitzt der vogel
mit dem wurm
[schmunzelt; liest erneut]
Dieses Gedicht schwingt ganz anders in seiner Rhythmik. Es ist metrisiert, zwar mit ein, zwei Brechungen, aber im Großen und Ganzen läuft es in Jamben dahin. Es wird mit Enjambements gearbeitet, ein einziger großer Satz, der sehr schön auf das Ende zielt. Die Zoombewegungen von Bild und Gefühl laufen parallel auf den „vogel / mit dem wurm“ zu. Ich sehe das Bild und es ist alles klar, ich brauche keine weitere Auskunft. Auffällig ist die Vermischung und Verbindung von Gesicht und Auge mit Moos und Erde. Es geht um Sehen und Nervenverbindungen, um die Frage, wie ein sehendes, denkendes und fühlendes Wesen in seine Umgebung eingebettet ist, wie sich Umfeld und Auge ineinander spiegeln. [Pause]Zunächst haben wir das Bild einer Umstülpung: ich sehe als erstes die Rückseite des Mooses, dann, wie in einem anatomischen Tafelwerk, die Rückseite der Augen. Nerven und Blutgefäße. Diese feine Bildschaltung kommt ohne „wie“ oder ähnliches aus, sehr elegant und gleitend gemacht. Die Bewegung geht hin und her. Diese Denk- und Sprachbewegung kehrt in der hochproduktiven Trennung „nicht recht // verstanden“ wieder: die Einzelteile funktionieren, aber schlagen zusammen ins Gegenteil um. Es ist ganz schlank und exakt gebaut. Das merkt man schon am Metrum.
Ist es nicht erstaunlich, wie schlagartig Metrik und metrische Anklänge spürbar werden?
Natürlich, oder? Die Regelmäßigkeit spüre ich sofort, sie nimmt mich mit hinein. Allerdings löst Metrik in mir durchaus oft auch ambivalente Gefühle aus. Wie auf einer Eisbahn: Metrik kann zu etwas locken, was man eigentlich nicht haben möchte. Das ist die Ambivalenz für mich: ein Teil gibt sich hin und rutscht eifrig mit, weil’s schön ist, ein anderer Teil in mir wird hellwach, weil sich hinter Metrik auch Mogelei verstecken kann.
Aber hier ist es anders, ich glaube, dieses Gedicht braucht sein Metrum, um den Umstülpungsprozess zeigen zu können. Es ist bemerkenswert, wie gewaltlos die Umstülpung funktioniert. Es wird kein Bruch irgendeiner Art dafür benötigt: dadurch kann die Ununterscheidbarkeit der Dinge deutlich werden. Wenn das Gedicht das Metrum nicht hätte, könnte es mir die Sanftheit und Infamie des Umstülpens nicht beibringen. Hier sieht man insgesamt auch, dass Stil und Inhalt verschlungen zusammenhängen, wie das Moos. Es lässt sich vor- und zurückkippen, es dreht sich und bleibt verflochten. Dann plötzlich: „weit versprengten denkens“. Das würde, alleine stehend, rätselhaft wirken, aber da ich immer noch das Bild des Mooses im Kopf habe, mit all den heraushängenden Fädchen und Würzelchen, immer noch das Bild des Auges, das ja in unserer westlichen Tradition stark als Organ des Denkens ikonisiert ist, habe ich eine wunderbar konkrete Füllung für dieses abstrakte „versprengte denken“. Plötzlich ist es gar nicht mehr abstrakt. Dann das schöne Ende mit dem Wurm, auch so einem Wurzelende, und dem zwangsläufig stummen Vogel in seiner Spannung.
Es handelt sich um die Spannung vor einem Geschehen.
Damit ende das Gedicht ganz anders als das erste, das den Leser wieder in das Gedicht zurückschickte. Es läuft auf sein Ende zu und stellt dieses Ende frei, das tut es auch formal. [Kringel]Auf die Dreiergruppen folgt eine Zweiergruppe. Minimaler Aufwand: die beiden Schlussverse haben nur sieben Silben, aber sie sind angefüllt mit allem, was zuvor geschehen ist. Was aber wird der Vogel nun tun?
[Lacht]. Eigentlich sitzen hier zwei Vögel zum eine der „echte“, der Würmer frisst. Und zum anderen ein Vogel des Denkens. Dieses Gedicht gefällt mir sehr gut – aber wieder könnte ich nicht sagen, von wem das ist.