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# 004
IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 004). Zu Gast: Ulrike Draesner
Es ist
dasselbe Wasser,
dieselbe
Mühle, nicht?
Das Meer
begann wie
ein siedender
Kessel zu sieden.
Ich erbitte
vom Rumpffaß
blutige Fleisch-
bissen (zum Fraß).
Mein Boot war
kaum vom Ufer
weggeschwommen,
da.
Ich schnitt
Bretter aus
der Wetterseite
der Lärche.
Ich suchte
ein Pfeil-
leichtes Fell
eines Pelzkalbes.
Viele vom
Eisflußwasser
beströmte
Sümpfe.
Ich
werde nicht
über den eigenen
Tod sprechen.
Darf ich hineinmalen?
Bitte!
[liest erneut mit Stift]
Ich sage zunächst, was mir auffällt. Das Gedicht ist einfach gebaut, acht schmale, strophenartige Gebilde, in „normaler“ Prosasyntax. Acht Sätze, es gibt keine Strophenenjambements. Ich würde die Sätze gerne einmal wie Prosa hintereinander schreiben und sehen, was dann passiert. Warum ist es aber so umbrochen? Da gibt es verschiedene, miteinander kombinierte Arten und Weisen, die Sätze zu rhythmisieren. Keine Reime im klassischen Sinne, aber Anaphern, Lautwiederholungen, Vokalreime, Alliterationen. Ich versuche zunächst einmal zu sehen, was für Bilder entstehen. Ich bin eine Bildleserin; zugleich eine Lautleserin. Als Bildleserin habe ich hier das Gefühl, immer wieder aus dem Bild herauszustürzen, ohne zu wissen, wohin. Die Bilder stehen nebeneinander, und ich kann mich nicht orientieren. Wie erklärt sich das, wohin führt mich diese Verfahrensweise? Zu Beginn das Wasser, die Mühle, implizit ein Bach also – dann aber plötzlich das Meer. Der Dialog, der durch die Sprachgeste „nicht?“ der ersten Strophe nahegelegt wird, wird nicht mehr aufgegriffen. Auch das hinterlässt mich mit einem Fragezeichen. Es ist schwer, auf der Bildebene Kohärenzen herzustellen. [Der Stift begleitet Strophe für Strophe mit Kringeln]Mühle, Kessel, Fass – ich sehe Behältnisse, aber fragmentarisch, in einer nicht weiter beschriebenen und zusammengesetzten Landschaft. Da ist vieles, was sich nicht erschließt, rätselhafte Neologismen. Die zusammengesetzten Substantive scheinen eine wichtige Verfahrensweise des Textes zu sein. Ich höre insgesamt eher wenig, wenig Rhythmik, nehme Anläufe war, Fragmente, Bausteine etwa von Landschaft: erst eine Mühle, dann das Meer – und plötzlich doch wieder ein Bach oder Fluss im „Eisflusswasser“. Wo bin ich? [Pause]Das will keine reale Landschaft sein, das ist jetzt klar. Aber ich verstehe noch nicht, wie sie zusammengesetzt ist – sie ist heterogen, zeigt interessante, unvertraute Elemente, aber ich möchte genauer erfahren, warum sie so aussieht. Welche Rolle oder Rollen nehmen die einzelnen Elemente ein? Die letzte Strophe bringt eine neue Irritation, sie nimmt mich völlig heraus aus der Landschaft und auch heraus aus dem Gedicht: „Ich werde nicht über den eigenen Tod sprechen.“ Eine regelrechte Beschließungsstrophe, die die große Aufgabe bekommt, wie der Schlussstein in einem Torbogen das ganze Gebilde zu halten.
Ich weiß nicht sofort, ob ihr das gelingt. Ich muss im Lesen noch einmal ansetzen, zurückgehen. Diese starke Thematisierung der Sprache, die sich in der ersten Strophe schon angedeutet hat, kehrt hier wieder, in einem Sprung, verbunden mit einer Verneinung. Sollen die vorhergehenden Strophen ein Nicht-Sprechen über den eigenen Tod gewesen sein? Ist das, sozusagen, der Schlüssel zu diesem Gedicht? Hm. Der Tod ist benannt, aber ich fühle ihn nicht. Der Text schaut darauf, der Blick erfolgt von weit außen. Das Ich des Textes steht quasi mit einem Du vor einer Lebens-Nichtlebens-Situation, die aus nicht im üblichen Sinn kohärenten Landschaftselementen herüber-übersetzt wird. Zwei Mal „über.“
Aber die Weltlandschaft ist so weiträumig, dass Mühle und Meer und Sumpf in ein Bild passen.
Ja, ein riesiger Zoom. Die Landschaft ist aber in gewisser Weise durchaus tot, unbelebt, leer, einige menschgemachte Dinge. Man sucht ein anderes Lebewesen, ein Pelzkalb. Es ist einsam: ich fühle nichts, ich höre nichts, ich sehe nur Fetzen. Weit weg: ich glaube, da spiegelt sich etwas. [accelerando]Die Distanz des Ich zu dem, was es bespricht, und die Verneinungshaltung des Ich. „Ich werde nicht.“ Das macht für mich den emotionalen Fluchtpunkt des Gedichtes aus. Vielleicht ist das der gewollte Effekt, dann passt auch die Bauform des Gedichtes dazu. Denn die dichterischen Mittel, die eingesetzt werden, sind sehr diskret und unaufdringlich. Es ist, als sähe ich lauter Rückseiten, die Rückseiten von Wörtern, die mich nicht an sich heranlassen. Es ist zäh, nichts bewegt sich: deswegen muss das Gedicht auch so schmal sein, das verstehe ich jetzt, deswegen braucht es die Wiederholungen. Darüber, über die Form und den verneinenden Sprechakt selbst, mehr als über die Bildlichkeit erschließt sich mir das Gedicht. Zusammenschrumpfende Sprache. Alle Wörter sind wie unter Eis. Als könnte man sich nur von hinten nähern. [a tempo]Ich mag es sehr, wenn sich im Laufe des Lesens und Nachdenkens Wörter verändern, dann ist es für mich ein gutes Gedicht. Genau das passiert hier. Das erste „nicht“ macht mir die Dialogform klar, das zweite zeigt mir die Vereisung der Wörter: „nicht“ ist als Zentralwort doppelt, im Inhalt des Textes und in der stilistischen Situation. Es ist eigentlich eine doppelte Vereisung.
Eine gewisse Verunsicherung und Verneinung reißt sich ja schon durch das gegenteilige ostentaive „dasselbe / dieselbe“ der ersten Strophe ein.
Genauso verhält es sich mit dem doppelten „sieden“: Wenn ich das eine „sieden“ rausnehme, sehe ich noch deutlicher, was fehlt. Da ist eine Lücke, die mit Worten, mit „dasselbe / dieselbe“, zugekleistert wird – aber in einer Art und Weise, die spürbar nicht funktioniert, die die Lücke zeigt. Ich werde aufmerksam gemacht auf die Spracharbeit, den Sprachgestus, das Umdrehen von Worten, von Wortgegenständen.