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Essay
anything goes
Ein weiterer Feyerabendianismus: Das Ausschalten des Fingerspitzengefühls in der Technik ab den 60er Jahren führte zu einer Reihe von schweren Unfällen, etwa der Challenger-Katastrophe. Müssen wir nicht auch viele Kunstformate, wie den neuesten Tatort, als schwere Unfälle bezeichnen, die aufgrund mangelnden Fingerspitzengefühls entstehen? Und lohnt es sich nicht, werde ich meinen Kollaborateur fragen, paradox zu denken, um den Nimbus der Überproduktion loszuwerden: Ein antikes Göttergericht muss nicht schlechter urteilen als eine Sachverständigenkommission, Wissenschaft ist so wenig ein einheitliches Gebiet wie Österreich, Handaufleger heilen manchmal, aber schaden nie. Alles Feyerabend.
Und auch das noch: Anything goes, aber richtig verstanden. Jedes wohlbestimmte System von Maßstäben, Regeln und Vorschriften ist nicht vernünftiger als ein Strauß kruder Ideen. Ich vermisse den produktiven Anarchismus, werde ich meinem Kollaborateur sagen. Es kommt doch auf die kluge Anwendung an, nicht auf den Effekt an sich. Das Windspiel hat in unserem Hörspiel nichts verloren, außer es lässt sich an einer Stelle klug verlauten. Von Fall zu Fall, sage ich ihm, wird unser Hörspiel über Brian Wilson Begeisterung, Gleichgültigkeit oder Enttäuschung auslösen. Ich höre jetzt schon das Misstrauen in seiner Stimme, wenn er mich fragt: Und du glaubst immer noch, die Produktion ist fertig?
Doch, weil The Magic Transistor Radio Show, Windspiel hin oder her, keine Überproduktion geworden ist. Weil unser Hörspiel auf den Punkt produziert ist, also einschließlich zweier oder dreier unperfekter Momente. Es ist der Leberfleck, der Cindy Crawford sexy macht. Weil ich überhaupt nur einen Fall erlaubter Überproduktion kenne. Stille am anderen Ende der Telefonleitung. Ja, ich meine Steely Dans Album Aja. Dann beginne ich, zu erzählen. Dass es eine wunderbare Ironie ist, dass die beiden nerdigen New Yorker Walter Becker und Donald Fagen in die Hauptstadt der Überproduktion, nach Los Angeles, zogen, um ihre Musik aufzunehmen. Dass sie sich prächtig über die Schlagzeuger in Los Angeles amüsierten, die mit einem Truck voller Equipment zu den Sessions fuhren, während ihre New Yorker Kollegen zwei Trommeln und ein Becken ins Studio trugen.
Immer noch Stille, aber diesmal nicht abweisend, sondern gespannt. Dass der Gitarrist Dean Parks, der an den Aja-Sessions im Jahr 1977 beteiligt war, die Steely Dan-Philosophie so beschrieb: „One step beyond perfection.“ Dass Parks im Studio mit einer Band aus fantastischen Session-Musikern probte, und am nächsten Tag hörte er eine ganz andere Band aus fantastischen Session-Musikern proben. Dass eine Armee von Weltklasse-Gitarristen das 28 Sekunden lange Solo des Songs Peg einspielte, ohne dass die beiden Steely Dan-Kollaborateure auch nur ansatzweise zufrieden waren. Dass sie die Songs über Monate hinweg von den Musikern proben ließen, nur von der obligatorischen Lunch break unterbrochen, ohne sie aufzunehmen. Dass sie die Songs endlich produzierten und dann wieder löschten, um sie neu einspielen zu lassen, Zitat: „to loosen it up a little bit“. Fake-Fake-Jazz. Ob ich meinen Kollaborateur dazu überreden kann?