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# 007
IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 007). Zu Gast: Sabina Lorenz
im castello aragonese kaum kontur
mehr setzen die klarissinnen ihre
toten auf mauerbänke fleisch das
langsam zerfiel ins gebet vielleicht
wurde es für sie schließlich zu
jenem bild das die dahinter gehende
sonne seziert: mondbein und kahn
bein danach die wolken welche die
eigenen konstellationen in den
schiefer kratzen: leucothea thalia
danaëso viele namen die mir nicht
von der zunge gehen der wind löscht
sie allein das holz des selben
sterns fällt in die ziegelrote
kerbe der nacht und ein zweites mal
Ok. (liest ein zweites Mal). Also, durch die fehlende Satzzeichen löst das Gedicht auch die Lektüre sehr auf. Im Castello gibt es kaum Kontur und das Gedicht entzieht sich auch selbst jeder Kontur, es will keine Konturen setzen. Gleichzeitig sind da viele sehr genaue, überdeterminierte Begriffe. Was passiert aber, wenn Tote auf Mauerbänke gesetzt werden – in der Gegenwart, und das Fleisch zerfiel – in der Vergangenheit. Was ist denn eine Klarissin? Eine Art Nonne?
Ganz genau.
Die Zeitstruktur ist in jedem Falle schräg. Da läuft irgendetwas rückwärts, aber das Fleisch zerfällt ganz normal: nach vorn. (lacht) Ein Mondbein und ein Kahnbein, ein Stern, der aus Holz sein soll. Das ist schon ziemlich rätselhaft. Es ist ein Verfallsgedicht. Die Dinge fallen. Das Gedicht scheint mir, einen Bedeutungsverlust, eine Bedeutungslosigkeit zu demonstrieren. Die Klarissinnen leben ganz seltsam mit ihren Toten, die jetzt keine Bedeutung mehr haben, die schon zerfallen sind. Es geht um Rituale, die ihrer Bedeutung enthoben worden sind. Es dreht sich alles im Kreis, „und ein zweites mal“, da lebt im Grunde gar nichts mehr.
Ist da ein Widerspruch zwischen dem Zerfall und all diesen recht preziösen Worten?
Für mich ist das kein Widerspruch, denn gerade die Bedeutungslosigkeit drückt sich dadurch stärker aus: eine Aneinanderreihung von Elementen, die sich aber nicht aneinander reihen lassen. Es entzieht sich den Bedeutungszusammenhängen, die Satzzeichen stiften könnten. Es gibt nur zwei Doppelpunkte. Aber die Aufzählung, die sie auslösen, geht dem lyrischen Ich selbst nicht mehr „von der zunge“. Da ist noch die verbindende Kraft des Doppelpunktes, aber was verbindet er eigentlich? Es ist für mich kein Widerspruch, so viele Wörter zu brauchen, um Bedeutungslosigkeit zu umschreiben.
Also eine Leere, die durch Wörter erzeugt wird, und so leer ist, wie sie ohne Wörter gar nicht sein könnte?
Ja, da wird ein Ritus vergegenwärtigt, der kein Geben mehr in sich hat, und deshalb auch keine Bedeutung. Kaum Kontur. Das ist stilistisch schon sehr gut gelöst. Jedes Wort geht ins andere über, aber man kann dem ganzen keinen Umriss geben. Insofern ist es auch sehr konsequent, dass hier auf Satzzeichen verzichtet wird. Das ist hier keine modernistische Manier. Ich hatte früher einmal eine Phase, in der ich ohne Satzzeichen geschrieben habe, aber das habe ich wieder aufgehört. Dahinter kann man sich auch verstecken.
Inwiefern?
Man kann sich in eine Verwirrung verstricken. Manchmal geht das dann auf und es ist stimmig, dass Satzzeichen fehlen. Aber oft ist es eben eine bloßer Manierismus. In diesem Gedicht geht es, wie gesagt, auf. An manchen Stellen, wie etwa beim „kahn / bein“, weiß man nicht einmal, ob da etwas fehlt, ein Trennungsstrich. Das ist gut gemacht. Der Zerfall, der aufgezeigt wird, ist im Gedicht selbst. Es ist wie ein Gedicht, das in ein Gebet, in einen Ritus zerfällt. Wie ein Rosenkranz, ein Mantra, so lange wiederholt, bis kein Mensch mehr weiß, was da eigentlich gesagt wird. Es kommt mir so vor, als könnte das eigentlich nur Raoul Schrott sein.