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# 007
IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 007). Zu Gast: Sabina Lorenz
übertreibung des himmels, hier wirft
die wolke den adlerschatten, ein flimmern
ein riesiger chor, für zehntausend blaue stimmen
und wind und steine am strand.
manisches rauschenantiker träumer
hier wird ein trümmer zum kiel eines kriegsschiffs
stehlen sich pinien aus den ruinen
wurzeln am weißbemähnten wasser
hier summen bienen, an deren pfoten gold klebt.
der schrott des ikarus liegt in den felsen
braun wie mönchskutte, durchlöchert
von ratten, von asche und sand überweht.
Hier sind die Zeilenbrüche wirklich Brüche, die auf Überlappung gebaut sind, nicht so nahtlos wie im ersten Gedicht. Das Schattenwerfen der ersten beiden Verse kann man wörtlich nehmen. Hier wird die Natur tatsächlich personifiziert und spiegelt sich in der Form des Gedichtes wieder: der eine Vers wirft seinen Schatten auf den nächsten. Die Enjambements sind sehr hart und auffällig. Wo die „stimmen“ herkommen, weiß ich nun nicht, aber da sie blau sind, nehmen sie wahrscheinlich teil an den Übertreibungen des Himmels. Das lyrische Ich taucht hier in eine Landschaft ein und eine Vergangenheit taucht auf. Um die Mitte des Gedichtes herum erscheint plötzlich Menschgemachtes, als Ruine und als Mythos. Dass das Wasser eine weiße Mähne hat, deutet auf Poseidon hin, der nicht nur für das Meer, sondern auch für Pferde zuständig war. Dass die Bienen Pfoten haben, ist, wie ich finde, ein wunderbares Bild. Dazwischen aber sind überall Dramen – Ikarus und ein Kriegsschiff, das ist alles ein Tick zu viel: Dramen der Übertreibung. Ikarus fliegt zu nah an die Sonne und stirbt einen sinnlosen Tod, das läuft alles auf die Vergänglichkeit zu, die die letzten Verse beherrscht. Eine sehr schöne Hymne an eine griechische Landschaft! Natürlich sind da diese antiken Markierungen, aber es ist ganz offensichtlich keine italienische Landschaft, es ist zu karg, zu heiß, zu viel Küste. Zum Drama, das diese Landschaft selbst erzählt, gehört natürlich auch der Chor. Aber ich muss sagen, dass es mich nachhaltig und sehr schön irritiert, dass die Bienen Pfoten haben.
Die Bienen werden dadurch riesig!, aber es bleibt freundlich und wird nicht zur Horrorvorstellung eines Rieseninsekts.
Ja, Pfoten sind etwas Freundliches, Sanftes, unbedingt. (lacht) Die schöne Entsprechung der Laute Gold-Pfote und der Farben! Demgegenüber steht die zerstörerische Vergänglichkeit der Ratten, der Asche und des Sandes, das ist natürlich Kernrepertoire. Ich denke, das Zentrum des Gedichtes ist dieser Gleichklang von „Träumer“ und „Trümmer“, es entsteht und zerfällt, alles im Anblick dieser Landschaft. Die Kriegsschiffe, die großen Schlachten der Antike, diese Dramen, die so furchtbar wichtig gewesen sind – das wird alles relativiert. Was bedeutet das überhaupt? Ist das so wichtig? Die Zeit vergeht so oder so und in ein paar Jahren ist es von der Natur alles wieder überwuchert. Ganze Kulturen sind plötzlich von Sand und Asche zugedeckt: Punkt, aus, basta. Und gleichzeitig demonstriert da Gedicht, wie es alles unvermittelt wieder da ist. Es genügt eine kleine Reibungsfläche.
Man muss nur einmal von Ikarus gehört haben und irgendwo in Griechenland stehen –
Und schon beginnt der Himmel zu übertreiben.