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Essay
Zu zwei Versen von Rilke
Denn verinnerlichte Verklemmung und klamme Innerlichkeit hin oder her: der Vers als Vers ist so einfach nicht. Denn wenn auch die Haltung des lyrischen Ichs in diesem Elegieneingang sich aus den Versen lesen lässt (mit allen hier angetasteten Nebenwirkungen), ist doch die Ausdrücklichkeit, die dieser Vers bereit hält, nicht ganz in jenes Raster zu bringen. Rilke sagt zwar, dass diesundjenes, aber er sagt es auch, im Vers, in einer Art und Weise, deren uneindeutige Überdeutlichkeit einen Rückhalt von Kritik oder zumindest Kritikfähigkeit in sich zurück- und für den Leser bereithält. Präsent ist in den Versen beides: eine paulinisch geistbetonte (3), sicherlich bedauerliche und hart wertende, hart schneidende Trennung von Liebe und Sex (expressis verbis, allerdings in nur einer Richtung), aber auch, wes Geistes Kind diese Haltung ist (Minneparadox) und woher ihre Radikalität stammt (Sprachmangel). Das janusköpfige, bzw. doppelt janusköpfige „wehe“ bezeichnet diesen Schnitt: es bezeugt die Spannung der Begierde, in der das lyrische Ich seine Klage erhebt, und markiert den wehen, kaputten Punkt in der Verfasstheit des zu Gebote stehenden, jene weltliche Welt erst formenden Sprachmaterials. Im Laufe des Essays mag man Thesen herausgehört haben à la „gesellschaftliche Restriktionen formen sich ein sprachliches Sediment à la Beton an den Füßen der Versenkten“, aber es verhält sich gerade anders herum nach des Verses Meinung (und meiner). In jener Dopplung wird die Sprache gerade nicht als Material gezeigt, sondern als Geschöpf eigenen Rechts (nicht unser Erschaffenes), als Kleists grüne Augengläser; das Ich, das in den Versen spricht, ist wirklich ein lyrisches Ich und besteht nur aus Sprache, und wie wenig uns von ihm trennt, leuchtet ein. Greifbar wird hier also die paradoxe Leistung von Lyrik, die es vermag mit Sprache über Sprache und über Sprecher zu sprechen, ohne dabei dem zerstörerischen Zirkel aufzusitzen, der solche Bewegungen für gewöhnlich zu Grunde richtet (das kommt in den besten Familien und Philosophien vor). Das hält aber nur einen Moment an. Kaum tritt man noch einen Schritt zurück, wird undeutlich und zweifelhaft, ob sich diese bis zum Paradox gesteigerte Informationsdichte im Text befindet oder im interpretierenden Leser: das unvermeidbare SNAFU der Textexegese.
Die Sprache durchformt ein Weltbild, aus dem sich kein Teil herauslösen und für die Lebens- wie Gesangspraxis hinauswerfen lässt. Wenn Rilke mit altehrwürdiger Begeisterung die Geliebte singen will (schon in dieser Formulierung Rilkes, die ohne „von“ oder „über“ auskommt, zeigt sich der tief im Mark sitzende Minnesang: Liebesdichtung erschafft erst Geliebte und Liebe), dann muss ihm auch der Fluss-Gott schuldig werden. Dass sich umgekehrt jene Sexualmoral auflöst, wenn eine so gesockelte Gesellschaft als Ganzes ins Fadenkreuz gerät, das zeigt etwa am Lebenswandel gewisser Intellektueller sich (4). Wie dem auch sei, Rilke hat sehr gut davon gesprochen in seinem weltliterarischen Vers und Werk, in großer Verdichtung. Und dass unsere Kanonaufsteller, die Sekretäre der Weltliteratur, es anders, weniger verborgen und schuldig, gar nicht lesen wollen, wird an jenem Seitenarm der Literaturgeschichtsschreibung deutlich, dass oft zu lesen ist, die Memoiren des Casanova (5) und der Mutzenbacher (6) seien „dennoch“ Weltliteratur. Was Rilke in zwei Versen ausdrückte, lässt sich also noch weiter komprimieren, wenn auch bei unvermeidbaren Reibungsverlusten und nur bei Lieferung des entsprechenden Kontextes, wenn es um das Hin-und-Her des Sexualitätsdiskurses in der Hochkunst geht: komprimiert bis auf eben jenes „dennoch“.
Gewiss habe ich gelernt, mich möglichst aus Interpretationen herauszuhalten, zumindest in dem Sinne, als ich versuche, meine Meinung durch meine Frage zu ersetzen. Dass Rilke eine fürchterliche Sache, den kapitalsten Kollateralschaden des Christentums, beschreibt – das zu sagen, will ich nicht hintanstehen, wie ich es auch nicht getan zu haben glaube. Wenn wieder einmal sexuelle Revolutionen, atheistische Bevölkerungsmehrheiten, pornographiebasierende Verrohungen und beunruhigende Frühreifen der Brut besprochen, wieder aufgewärmt oder als Neuigkeit dargestellt werden, – dann mag der geneigte Leser zweierlei denken: was für verteufelt gute Christenmenschen wir alle immernoch sind, wie wir uns auch drehen, winden und nennen wollen, und wie unglaublich anders die gottgefällige Körperlichkeit der Antike gewesen sein muss (7), als jeder Flussgott in erster Linie göttlich und freundlich war, und zur Schuld gar keine Möglichkeit hatte. Wann kehrt das wieder, was keine Revolution bringen kann? So, wie ein zukünftiges Stelldichein in Brentanos und Arnims Volksliedsammlung datiert wird:
Wenns schneiet rothe Rosen,
Wenns regnet kühlen Wein;
So lang sollst du noch harren,
Herzallerliebste mein.
Die Sprache durchformt ein Weltbild, aus dem sich kein Teil herauslösen und für die Lebens- wie Gesangspraxis hinauswerfen lässt. Wenn Rilke mit altehrwürdiger Begeisterung die Geliebte singen will (schon in dieser Formulierung Rilkes, die ohne „von“ oder „über“ auskommt, zeigt sich der tief im Mark sitzende Minnesang: Liebesdichtung erschafft erst Geliebte und Liebe), dann muss ihm auch der Fluss-Gott schuldig werden. Dass sich umgekehrt jene Sexualmoral auflöst, wenn eine so gesockelte Gesellschaft als Ganzes ins Fadenkreuz gerät, das zeigt etwa am Lebenswandel gewisser Intellektueller sich (4). Wie dem auch sei, Rilke hat sehr gut davon gesprochen in seinem weltliterarischen Vers und Werk, in großer Verdichtung. Und dass unsere Kanonaufsteller, die Sekretäre der Weltliteratur, es anders, weniger verborgen und schuldig, gar nicht lesen wollen, wird an jenem Seitenarm der Literaturgeschichtsschreibung deutlich, dass oft zu lesen ist, die Memoiren des Casanova (5) und der Mutzenbacher (6) seien „dennoch“ Weltliteratur. Was Rilke in zwei Versen ausdrückte, lässt sich also noch weiter komprimieren, wenn auch bei unvermeidbaren Reibungsverlusten und nur bei Lieferung des entsprechenden Kontextes, wenn es um das Hin-und-Her des Sexualitätsdiskurses in der Hochkunst geht: komprimiert bis auf eben jenes „dennoch“.
Gewiss habe ich gelernt, mich möglichst aus Interpretationen herauszuhalten, zumindest in dem Sinne, als ich versuche, meine Meinung durch meine Frage zu ersetzen. Dass Rilke eine fürchterliche Sache, den kapitalsten Kollateralschaden des Christentums, beschreibt – das zu sagen, will ich nicht hintanstehen, wie ich es auch nicht getan zu haben glaube. Wenn wieder einmal sexuelle Revolutionen, atheistische Bevölkerungsmehrheiten, pornographiebasierende Verrohungen und beunruhigende Frühreifen der Brut besprochen, wieder aufgewärmt oder als Neuigkeit dargestellt werden, – dann mag der geneigte Leser zweierlei denken: was für verteufelt gute Christenmenschen wir alle immernoch sind, wie wir uns auch drehen, winden und nennen wollen, und wie unglaublich anders die gottgefällige Körperlichkeit der Antike gewesen sein muss (7), als jeder Flussgott in erster Linie göttlich und freundlich war, und zur Schuld gar keine Möglichkeit hatte. Wann kehrt das wieder, was keine Revolution bringen kann? So, wie ein zukünftiges Stelldichein in Brentanos und Arnims Volksliedsammlung datiert wird:
Wenns schneiet rothe Rosen,
Wenns regnet kühlen Wein;
So lang sollst du noch harren,
Herzallerliebste mein.