Kolumne

parasitenpresse-Portrait

Anfang November brachte ich einen Koffer voll parasitenpresse-Bücher mit aus Köln für die Poesiegalerie in Wien. So viele Bücher, wie ich tragen konnte. Beim Aussteigen aus dem Zug bat ich dann einen großen Menschen, mir doch bitte den Koffer herunter zu heben – Vorsicht, schwer! – Wumm – schon ließ er denn Koffer fallen, von ganz oben, er hatte nicht gedacht, dass er so schwer sei – Pff – den Büchern ist nichts passiert. Erschlagen wurde auch niemand. Ich nehme also meinen Koffer und fahre heim.

Die Poesiegalerie war dann auch ein voller Erfolg und drei Tage der Poesieverzauberung sind nun auch schon Geschichte. Es wurden auch Bücher verkauft, aber eben nicht alle. Was tun mit so vielen schönen Büchern? Wieder zurück nach Köln schicken? Jetzt, wo sie schon einmal da sind, in Wien? Nach dem langen Weg? Nein, da hab ich eine andere Idee – ich nütze die Gelegenheit lieber, mich als freiwillige Verlagsvertreterin zu versuchen und die parasitenpresse einigen Wiener Buchhandlungen vorzustellen. Aber natürlich kenne ich nicht alle Bücher, die Adrian Kasnitz mir da eingepackt hat, so gut wie meine drei Gedichtbände. Bevor ich losgehe, möchte ich mich daher erst noch vertrauter machen mit den Büchern meiner Verlagskolleginnen und -kollegen. Und das kann ich am besten schreibend.

Die extra für Wien zusammengestellte kleine Buchauswahl aus dem Verlagsprogramm setzt sich aus einer Mischung von Neuerscheinungen und Autorinnen und Autoren mit Österreichbezug zusammen.

Ich beginne einmal mit Enrique Winter: Oben das Meer unten der Himmel. Aus dem chilenischen Spanisch von Léonce W. Lupette, Sarah Otter und Johanna Schwering übersetzt. Wie uns der Titel schon verrät, geht es darin unter anderem um Meer und Himmel:

Die konzentrischen Kreise des Himmels
beschreiben dutzende Möwen

Der Band ist in der Reihe „Die nummernlosen Bücher / pi poetry international“ erschienen. Die parasitenpresse hat sich zum einen auf zeitgenössische deutschsprachige Lyrik spezialisiert und zum anderen auf Lyrik in Übersetzung. Oben das Meer unten der Himmel versammelt Gedichte aus drei Gedichtbänden von Enrique Winter. Immer wieder sind einzelne Gedichte im Querformat abgedruckt, wodurch man das Buch drehen muss, um einer Besonderheit der Gedichte genügend Raum zu verschaffen: Den langen Verszeilen der Gedichte. Die große Stärke der Gedichte ist in meinen Augen ihr einfühlsamer Blick auf die Menschen. Gerade der Mittelteil, der Gedichte aus dem Band Quía de despacho enthält, widmet sich menschlichen Tragödien und blickt hin, wo andere lieber wegblicken. So geht es in einem Gedicht um einen cracksüchtigen Sohn, während ein anderes aus der Perspektive einer Frau erzählt, die gegen ihren Mann ausgesagt hat:

Vor genau einem Jahr habe ich gegen meinen Mann ausgesagt
wegen sexuellen Missbrauchs an einer anderen.
Seitdem passt die Polizei auf mich auf,
denn seine Schwester hat Rache geschworen. Er sitzt im Knast,
in Handschellen kommt er zum Scheidungstermin.
Die Kinder wollten ihn auch sehen, sie lieben ihn so sehr wie ich.

Es geht auch um Kindheitserinnerungen und Erinnerungen an sich, so erzählt beispielsweise ein Gedicht von Fernando Agüero Catrilef, der sich noch an alle Details der Walfänger-Arbeitersiedlung erinnert und genau weiß, wo welche Gebäude standen, aber den Namen einer seiner Töchter vergessen hat. 

Chile als Land wird uns in den Gedichten von Enrique Winter vor allem durch seine Bewohner, ihr Schicksal und ihre Eigenheiten näher gebracht und so erfahren wir sehr viel über dieses eigenwillige Land, in dem Häuser einfach nicht fertig gebaut werden:

dort, wo kein Haus zu Ende gebaut wurde,
um Steuern zu sparen oder in die Sterne zu schauen,

Die parasitenpresse gibt nicht nur Übersetzungsbände einzelner Autoren und Autorinnen, sondern auch Übersetzungsanthologien heraus. Hier habe ich stellvertretend die Griechenlandanthologie mit im Gepäck: Kleine Tiere zum Schlachten. Neue Gedichte aus Griechenland. Herausgegeben und übersetzt von Wassiliki Knithaki und Adrian Kasnitz.

Die Anthologie enthält je zwei Gedichte pro Dichter und Dichterin und einige schwarz-weiß Fotos von Street-Art auf den Straßen Griechenlands. Die Krise manifestiert sich in den Gedichten und sehr häufig tauchen Krankheit oder Dunkelheit als Motive auf, wie beispielsweise im Gedicht „Erotikon 1“ von Dimitra Kotoula: „(Dunkelheit) (breitet sich) (durch Zeit) (vergeblich) (aus)“

Das Gefühl der Entfremdung und Fremdheit drückt Panayotis Ioannidis in seinem Gedicht „verloren“ aus:

Ich sah einen Faun
unten in der Metro
seine Augen, vom elektrischen
Licht entzündet
hielten Ausschau nach anderen Wäldern

Das Gedicht „Der Krieg kommt“ von Jazra Khaleed ist sehr politisch und ist aus der Perspektive eines syrischen Flüchtlings geschrieben. Es ist in zwölf Unterpunkte gegliedert und führt persönliche Erfahrungen („1. Ich entschied mich, Syrien an dem Tag zu / verlassen, als ein Querschläger vor meiner Nase auftauchte.“) mit allgemeinen Fakten zusammen („7. Am 7. Januar 2014 hörten die Vereinten Nationen damit auf, Syriens Tote zu zählen.“). In Punkt 9. entschuldigt sich der Flüchtling dann für die großen Unannehmlichkeiten, die er der griechischen Bevölkerung bereiten würde:

[…] ich möchte mich bei den Hotelbesitzern und Reiseveranstaltern entschuldigen dafür, dass wir den Inseltourismus schädigen, ich möchte mich dafür entschuldigen, dass wir das Stereotyp des elendigen Migranten durch unsere Handys und saubere Kleidung erschüttern, ich möchte mich bei der Küstenwache entschuldigen, die die undankbare Aufgabe übernimmt, unsere Boote zu versenken, […]

Das ist zum einen sehr zynisch, zum anderen legt das Gedicht damit gnadenlos die Fadenscheinigkeit unserer Gesellschaft bloß.

Wenn in den Gedichten der Anthologie über die Befindlichkeiten des Einzelnen gesprochen wird, ist damit zugleich auch der Zustand, in dem sich das Land Griechenland wiederfindet, gemeint. Das sieht man beispielsweise am Gedicht „Schlaf“ von Christos Koukis, das mit der Schlaflosigkeit des Ichs beginnt:

Seit einiger Zeit kann ich nicht schlafen, ich wälze mich
im Bett, bis der Taumel meine Träume aus der Tiefe holt

Um das dann in der letzten Zeile dieser Strophe auf das ganze Land umzulegen: „Dieses Land geht nicht mit gutem Gewissen schlafen“

Auffallend häufig tauchen Vögel in den Gedichten auf, so auch bei Phoebe Giannisi im Gedicht „ortlos (dachlos)“:

heute morgen fanden wir drinnen
einen Vogel mit schlagenden Flügeln
gefangen bei geöffnetem Fenster
er wollte Schwung nehmen um zu fliegen
knallte aber gegen die Decke

Ob sich in den Gedichten eher Pessimismus oder Realismus niederschlägt, wage ich nicht zu beantworten. Spannend ist die Anthologie in jedem Fall.

Die Lyrikreihe mit gehefteten jeweils 14seitigen Bändchen ist das Herz der parasitenpresse. Hiermit hat es angefangen für den Verlag und auch für viele seiner Autoren und Autorinnen. Denn die parasitenpresse ist und war immer auch ein Verlag für Neuentdeckungen und literarische Debüts. Mit der Zeit wuchs der Verlag und schaffte mit der Reihe „die nummernlosen Bücher“ für sich auch die Möglichkeit, etwas umfangreichere Taschenbücher zu veröffentlichen. Früher war die parasitenpresse wirklich ein Sprungbrett für Autoren und Autorinnen, die sich nach der Erstveröffentlichung in der Lyrikreihe nach anderen Verlagen umsehen mussten. Inzwischen ist es auch möglich, zu bleiben. Die Tradition der wunderschönen 14seitigen Bändchen wurde aber zum Glück trotz der neuen Möglichkeiten beibehalten. Die Lyrikreihe-Exemplare aus meinem Wiener-Bücherpaket stelle ich chronologisch vor.

Der bereits 2008 erschienene Gedichtband kein mund. mündung von Udo Kawasser, „Mr. POESIEGALERIE“ (Zitat Monika Vasik), enthält drei jeweils mehrteilige Gedichte und beginnt mit „leibeigene geschichten (ein kanon)“, drei Gedichte in denen das Ich zuerst mit Petrarca vom Gipfel fällt, dann „mit ovid durchs eiserne tor / über riffe und zacken“ wirbelt um sich schlussendlich von Vergil auf halbem Weg an der Hand nehmen zu lassen. Als nächstes folgt da Titelgebende Gedicht „kein mund. mündung“. Es geht darin um einen winterlichen Fluss:

der erstarrte fluss des geschiebes
auf dieser landzunge inmitten des deltas
schlammgefasst der schutt die schlagschatten

Und zwar nicht um einen x-beliebigen Fluss, sondern um die Ache, ein Fluss, der Udo Kawasser schon sehr lange begleitet. Diese Gedichte wurden schon 2008 veröffentlicht. 2018 erschien nun ein Prosaband mit dem Titel „Ache“ beim Sonderzahl Verlag (https://sonderzahl.at/buch/udo-kawasser-ache/), in dem Udo Kawasser sich ganz dem Flusslauf der Bregenzer Ache widmet. Aber kehren wir wieder zurück zu den bei der parasitenpresse veröffentlichten Gedichten. Die reale Kälte des Winters wird dann übertragen auf die Kälte einer Beziehung und der Einsamkeit, der das Ich ausgesetzt ist, denn die lange schon bewegungslos am anderen Ufer sitzende Frau entpuppt sich dann doch als Baumstumpf und keine Stimme ist zu hören, nur das Krächzen der Krähen. In der mittelhochdeutschen Minnelyrik begegnet es uns häufig, dass die Jahreszeiten die Emotionen der Figuren widerspiegeln und Frühling und Sommer für das Liebesglück stehen, während der Winter mit der Einsamkeit einher geht. Darauf bezieht sich Udo Kawasser, wenn er mit dem Wunsch nach Sommer schließt: 

angelandet zwischen ausgeblichenen
baumgerippen und wurzelstöcken
die ihre spiegelbilder umarmen
[…]
siehst du nicht
die zeit ist ein offener mund
lass es doch sommer werden
(denn die liebe ist groß)

So wie der Gedichtband mit einer drei Gedichte umfassenden Gedichtgruppe begann, endet er auch mit drei Gedichten, zusammengefasst unter dem Titel „heimatlose gedichte“, in denen die Kälte und der Winter doch noch nicht ganz überstanden sind:

am ende der straße
sich verlierende pfade
an der hand führt
der mann das kind
in den schnee

Ilse Kilic und Fritz Widhalm, auch bekannt als das fröhliche Wohnzimmer und im Glücksschweinmuseum in Wien zu Hause, schreiben schon seit Ewigkeiten zusammen an ihrem bereits zehn Bände umfassenden und in der edition ch erscheinenden Verwicklungsroman. In der parasitenpresse ist 2016 der gemeinsame Gedichtband ich rede schon wieder erschienen.

wichtige fragen
stellen sich morgens:
welches bein findet
den weg aus dem bett.
zuerst

Gemeinsam ist allen Gedichten das „ich“, das in jedem der Gedichte ganz selbstverständlich auftaucht, genau genommen aber nicht ein „ich“ sondern „ein ich und ein ich“ ist.

ich weiß
sage ich
und

Es wird nicht angegeben, welches Gedicht bzw. welche Zeilen von wem stammen. Aber wenn man Ilse, Fritz und ihre Texte etwas kennt, hört man beim Lesen manchmal unwillkürlich Ilses Stimme, dann wieder die von Fritz, oder auch abwechselnd oder gemeinsam. Bei den letzten Lesungen, die ich von den beiden hörte, sangen und improvisierten sie ihre Gedichte auch miteinander. Ilse und Fritz, Fritz und Ilse: wo eine/r ist, ist die / der andere nicht weit.

wir kennen uns bereits dreißig jahre
und das kommt uns noch kurz vor

Bastian Schneiders Gedichtband Irgendwo, jemand ist in zwei Abschnitte unterteilt. Der erste, übertitelt mit „Ein Flug“, umfasst vier Gedichte, in denen es um illegale Einwanderung geht, um Menschen, die versuchen unsichtbar zu sein, sich selbst verstecken und verleugnen, vorgeben niemand statt jemand zu sein – „und kein Papier trägt ihre Namen“ – um weiterleben zu dürfen.

eingeschweißt in Tanks eingeschlagen
hinter der zweiten Wand im Laster
stehen atmen stehen atmen stehen
oder aufgebracht gehen sie über border
gebückt von der Last ihrer Hoffnung

Der erste Abschnitt wird vom zweiten durch eine eingebundene geflochtene Plastiktüte getrennt, welche zu einem Absperrband, einer Schranke und Grenze zwischen den beiden mehrteiligen Gedichten wird. „Irgendwo, jemand (sieben unscharfe Idyllen)“ ist der Titel des zweiten Abschnittes und wir befinden uns jetzt von der Perspektive her auf der anderen Seite der Grenze. Unscharf sind die Idyllen deswegen, weil ihre scheinbar heile Welt beim genauen Hinblicken schnell zerbröselt und sich als Selbsttäuschung zu erkennen gibt:

In einem Autogrill // füllt jemand Chicken-Nuggets in die
Fritteuse / irgendwo fällt ein Küchenschrank von der Wand / ganz
dahinten gibt es einen Zaun / das haben die Freilandhühner nicht
erwartet / […]

Die sieben unscharfen Idyllen sind jeweils zweistrophige Gedichte, die Zitate, Nachrichtenmeldungen, Schriftzüge an den Wänden und Alltagsszenen miteinander kurzschließen. In der zweiten Strophe werden die Motive der ersten dann erneut aufgegriffen, wiederholt, gespiegelt und in der Wiederholung variiert und abgewandelt. Diese Wiederholung drückt das Vergehen der Zeit aus, was besonders deutlich an der ersten Idylle zu sehen ist, deren erste Strophe folgendermaßen beginnt:

Die Sonne scheint // irgendwo liegt jemand auf dem Bett und
betrachtet die Risse an der Zimmerdecke / in einem fernen Land
ist ein Krieg ausgebrochen / die Apfelbäume blühen /
[…]

In der zweiten Strophe wird aus den Äpfeln dann bereits ein Apfelkuchen gebacken, was die quälende Untätigkeit und Lähmung, die im Zimmer herrscht, in dem die Zeit still zu stehen scheint, beinahe unerträglich macht:

Der Krieg dauert / die Sonne scheint / irgendwo backt
jemand einen Apfelkuchen / vielleicht hat die Zeitung Recht / die
Risse sehen aus wie ein fernes Land / […]

Es bleibt offen, wer die Risse an der Zimmerdecke betrachtet. Aus dem Kontext heraus könnte man darauf schließen, dass wir möglicherweise einen asylsuchenden Menschen vor uns sehen, der es zwar über die Grenze geschafft hat, nun aber in einem Asylantenheim für viele Monate zum untätigen Warten und Nichtstun gezwungen wird.

Wiederholung mit leichten Verschiebungen kann zu starken Effekten führen, das weiß Bastian Schneider einzusetzen. So endet die erste Strophe der letzten unscharfen Idylle mit „irgendwo spielen Kinder mit einem toten Fisch.“ und das ganze Gedicht, und damit auch der gesamte Gedichtband, mit: „irgendwo spielen die Fische mit einem toten Kind.“

Adrian Kasnitz ist nicht alleine Verleger, Übersetzer und Romanautor, sondern zuallererst auch Dichter. Einzelne Gedichtbände veröffentlicht er zumeist nicht im eigenen, sondern bei verschiedenen anderen Verlagen. In der parasitenpresse erscheint von ihm das Großprojekt Kalendarium: ein Gedicht für jeden Tag, veröffentlicht wird jeweils ein Band pro Monat, zuletzt erschienen ist hier der Band für den Monat April, also das Kalendarium # 4.

Im Kalendarium # 4 ist Adrian Kasnitz „auf der Suche nach der verlorenen Lücke, nach der Durchreiche zum Glück“. Mein absolutes Lieblingsgedicht aus dem Band ist das folgende:

08.04. [Portrait des Künstlers als alter Dackel]

immer schön freundlich
und manchmal beißen

Die Kalendariums-Gedichte sind alle datiert und sollen „einerseits Zeit einfangen, andererseits auch zeitloser sein, als man vielleicht von diesem Datum vermuten kann.“ wie Adrian Kasnitz in seinem Literarischen Selbstgespräch über das Projekt sagt.

Zusätzlich zu den Gedichten enthält jeder Band auch Foto-Kollagen von Adrian Kasnitz, wie diese hier:

Eine Besonderheit des Kalendariums ist auch, das Adrian Kasnitz für jeden Band einen anderen Autor, eine andere Autorin aus seinem Verlag einlädt, das Lektorat zu übernehmen. Kalendarium # 4 hat Kathrin Bach lektoriert, Kalendarium # 3 Georg Leß, ich selbst durfte das Kalendarium # 2 lektorieren und den Anfang machte mit Kalendarium # 1 Dominik Dombrowski. Das kommt einem Rollentausch gleich, da Adrian Kasnitz ansonsten das Lektorat für seine Autoren und Autorinnen übernimmt und es ist auch ein Zeichen des respektvollen Umgangs mit seinen Autoren und Autorinnen – auf Augenhöhe und niemals von oben herab.

Sehr schräg ist dieses Buch von Niklas L. Niskate, das man quer halten muss um es lesen zu können und für das man quer denken muss um einigermaßen mit zu kommen. „allein gehe ich nur noch zu zweit angeln, lem, […]“ Adressat der Privatnachrichten, der oder die immer wieder angesprochen wird, ist Lem und immer wieder Lem: „es gibt treppen hier treppen hoch zu den treppen, lem,“ Aber trotz dieser permanenten Lem-Anrufung, meldet sich Lem selbst nicht zu Wort: „sprich mich an, lem, man könnte ja meinen das sei ein monolog heiteren scheiterns“ Zusätzlich zum Text gibt es dann auch noch Illustrationen von Marina Friedrich. Und Niklas L. Niskate selbst „lebt durch Zufall im Moment als Lyrik schreibendes Kaninchen in Oberösterreich“, wie man im Buch in seiner Autorenbiografie erfährt.

wie
gesagt wird was einmal gesagt wird bleibt immer gesagt wird immer wie gesagt wird

In Wir bauen eine Stadt von Kinga Tóth, der amtierenden Stadtschreiberin von Graz, wird Sprache als Baumaterial verwendet. Aus Fragmenten und Bruchstücken aus Maschinensprache, Bedienungsanleitungen oder Forschungsliteratur wird etwas ganz Neues gebaut. Den Bauplan und Regeln, denen Kinga Tóth dabei folgte, können wir nur erahnen. 

wie viele steine gebraucht
die sprache das haus die wörter die steine
daraus wird das sichere gebaut was grundstein hat
das ist die fügungsregel das ist der plan

In den Gedichten gibt es sehr viel Skurriles, wie zum Beispiel ein Konzert mit Wal und Kindergartenkindern. Die Absurdität liegt nicht in den einzelnen Versatzstücken, sondern in ihrer Zusammenfügung zu etwas Neuem, das wir im Detail als bekannt erkennen, das uns als Ganzes jedoch befremdet oder fremd erscheint. Die verschwimmende Grenze von Mensch und Maschine ist gleich das erste, womit uns der Gedichtband konfrontiert, da er mit folgenden Zeilen beginnt:

die behutete frau wird auf die box geschweißt
in ihrer gebärmutter eine goldene kugel
projektiert die himmelskörper
auf die kuppel ihr hut ist ein planetenring
er spiegelt das stadtlicht zurück

Der Band enthält dann auch noch Illustrationen von Kinga Tóth selbst, welche Zeichnungen mit auf einer Schreibmaschine getippten Worten und / oder einzelnen Buchstaben verbinden. Manchmal ist es möglich, einzelne Worte zu entziffern, die wir schon aus den Gedichten kennen. Aber nicht immer sind es deutsche Worte, was ein Hinweis darauf ist, das Kinga Tóth eine mehrsprachige Autorin ist und auf Ungarisch, Englisch und Deutsch schreibt. Wir bauen eine Stadt ist der erste Gedichtband, den sie auf Deutsch geschrieben und veröffentlicht hat.

Und dann gibt es da noch meine drei Gedichtbände, aber über die schreibe ich nicht selbst, möchte an dieser Stelle nur mit dem größten Dank auf die Rezensionen von Jürgen Brôcan zu „frisch gepresste Parasiten“, Katharina Kohm zu „Poesie passieren & passieren lassen“  und Timo Brandt zu „Satyr mit Thunfisch“  und zu Marcus Neuert über Satyr mit Thunfisch hier auf Fixpoetry verweisen.

 

 

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Literaturliste

Enrique Winter: Oben das Meer unten der Himmel. Gedichte. Aus dem chilenischen Spanisch von Léonce W. Lupette, Sarah Otter und Johanna Schwering. Köln: parasitenpresse, 2018.

Kleine Tiere zum Schlachten. Neue Gedichte aus Griechenland. Herausgegeben und übersetzt von Wassiliki Knithaki und Adrian Kasnitz. Köln: parasitenpresse, 2017.

Udo Kawasser: kein mund. mündung. Gedichte. Köln: parasitenpresse, 2008.

Ilse Kilic / Fritz Widhalm: ich rede schon wieder. Gedichte. Köln: parasitenpresse, 2016.

Bastian Schneider: Irgendwo, jemand. Gedichte. Köln: parasitenpresse, 2. Auflage 2017.

Adrian Kasnitz: Kalendarium # 4. Gedichte. Köln: parasitenpresse, 2018.

Niklas L. Niskate: Privatnachrichten an Lem. Gedichte. Köln: parasitenpresse, 2015.

Kinga Tóth: Wir bauen eine Stadt. Gedichte. Köln: parasitenpresse, 2. Auflage 2017.

Astrid Nischkauer: frisch gepresste Parasiten. Gedichte. Köln: parasitenpresse, 2015.

Astrid Nischkauer: Poesie passieren & passieren lassen. Gedichte Ausstellung Katalog. Köln, parasitenpresse, 2016.

Astrid Nischkauer: Satyr mit Thunfisch. Gedichte. Köln: parasitenpresse, 2018.

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