Vorsichtige Näherung
Mit welcher Erwartungshaltung ich wider besseres Wissen immer wieder an diese Jahrbücher der Lyrik herangehe. Unwillkürlich die (freilich falsche) Annahme: hier halte ich nun also den von kundiger Hand aufbereiteten Kanon des aktuellen deutschsprachigen poetischen Schaffens in Händen. Dabei ist auch mir nicht entgangen, dass die Anthologie des Jahres 2019 wieder nichts anderes sein kann als ein winziger Ausschnitt aus einem Geschehen, über das definitiv niemand mehr wirklich einen Überblick haben kann. Über achttausend Gedichte zu sichten, die selbst nur die Spitze des Eisberges sind, Texte, aus denen nie offenbar werden kann, ob nicht die gelungensten lyrischen Ergebnisse erst gar nicht eingesandt worden sind – was für eine Arbeit.
Seit nunmehr vierzig Jahren stellt sich dieser Herausforderung der Autor und Verleger Christoph Buchwald. 1979 erschien das erste Jahrbuch, und weil sich das Unterfangen aufgrund verschiedener Widrigkeiten nicht durchgängig im jährlichen Rhythmus realisieren ließ, liegt nun sein 33. Versuch vor, das deutschsprachige Lyrikgeschehen zu sichten und zu präsentieren. Die stets wechselnde Position der Mitherausgabe übernimmt in diesem Jahr der Hamburger Autor Mirko Bonné.
Nicht zuletzt Kontinuität konstituiert Institutionen, und eine Institution entwickelt wiederum ihre Traditionen. Viele davon bleiben auch 2019 unangetastet, so etwa der Brauch, vielen bekannten Namen der Branche eher weniger bekannte an die Seite zu stellen – dabei fällt allerdings eine diesmal deutlich männlich dominierte Auswahl auf. Zufall? Das war nicht immer so.
Auch die Gewohnheit, die Überschriften der Kapitel aus Verszeilen der in ihnen enthaltenen Gedichte zu übernehmen wird beibehalten, was die Richtung weist, in welche es in der ganzen Abteilung geht oder gehen könnte. Raumgreifend in diesem Jahr sind die vielen Texte, in denen Natur oder Motive daraus auf unterschiedlichste Art und Weise verhandelt werden, und so bleiben sie nicht auf das eigentliche Natur-Kapitel „Ein frischer Wind macht Husch“ (aus Dieter Schöneckers „blätter“) beschränkt, sondern rhizomisieren gewissermaßen durch das ganze Buch.
Wie schon in den Vorjahren wird auch 2019 wieder einmal ein gewisser semantischer Gestaltungswille der beiden Co-Herausgeber sichtbar, der Motive und Themen über mehrere Texte hinweg miteinander verschränkt und anordnet. So erreicht das Gesamte eine formale Ästhetisierung, die rote Fäden sichtbar werden lässt und obendrein ein Hinweis sein könnte, weshalb eben diese und nicht vielleicht ebenbürtige andere Gedichte (auch anderer Schreibender) zu Wort kommen. Buchwald und Bonné verstehen sich nicht als reine Kompilatoren, wenn auch Bonné im Nachwort anmerkt, dass „das einzelne sprachmusikalische oder wie immer konzipierte und ausgeführte Gedicht“ ihn „überzeugen, irritieren, erstaunen, inkommodieren“ sollte.
Nun liegt die Kunst darin, diese Parameter zusammenzuführen, und im Rahmen des Ausgewählten gelingt das den Herausgebern durchaus gut, etwa wenn Sabine Schiffners melancholisches Online-Beziehungsgedicht „goldruten“ („die gelbe blume da / blühte genauso heftig / als ich noch bei dir war“) an der Seite von Ursula Krechels phantasievoll-erotischem Traumtext „Oh Happiness“ erscheint („nackt sind wir, nichtasketisch, ungestorben“) oder sich die Vogel-Motive aus den Gedichten von Judith Sombray, Àxel Sanjosé, Mara-Daria Cojocaru, Bernhard Malkmus und Kenah Cusanit nacheinander zu einer Art Reflexionsrunde über die Infragestellung eines wie auch immer gearteten Schöpfungsplanes verbinden: bei Sombray erscheint die imaginierte Demiurgin als „eine Dirigentin mit unklarer Richtung“, Sanjosé wechselt gleich ganz in den Konjunktiv, während Cojocaru lakonisch anmerkt: „Nicht jeder Gott wünscht // Dass wir an ihn glauben“, bei Malkmus die „Vogelstimmen in Eisbohrkernen überwintern“ und Cusanit mit den Worten schließt: „Möglich dass, wer zum Himmel sieht, vergessen hat / wie Vögel aussehen oder seinem Schicksal erliegt.“
Bei aller Verschiedenheit der Zugänge zum lyrischen Arbeiten, die im Jahrbuch 2019 zur Sprache kommen, lässt sich doch ein Grundsound ausmachen, der nicht wenigen der versammelten Gedichte zu eigen ist und der sich immer wieder durchzusetzen scheint: viel ist von Vergeblichkeit die Rede. Eine vorsichtige Melancholie, die mitunter gar in Resignation zu münden droht. Sie hat offenbar auch Teile der ganz jungen Dichtenden erreicht, denen vor allem das 4. Kapitel („Wo hörst du auf, wo fang ich an“) zuzuordnen ist. So scheint etwa Philipp Blömeke (*1990) den inneren Rückzug des lyrischen Ichs in einen Rückzug in den Text umzudeuten, „ein kleines verschwinden / zwischen die zeilen schicht / um schicht“, während Manon Hopf (*1990) eine Landjugend portraitiert, die „sich berühren / läßt im schalen Licht einer Toilette, der / abgezogene Schlüssel am Steiß“ und Katia Sophia Ditzler (*1992) feststellt: „ich werde mich nie aufbäumen in den tempeln hinter meinen schläfen“. Ist das repräsentativ? Vermutlich nicht, auch dies könnte der Gesamtkomposition des Bandes, zumindest implizit, geschuldet sein.
Natürlich sind auch wieder einige Texte dabei, die Welt und Weisheit in eins zu fassen suchen, ein Unterfangen, das nicht selten schiefgeht, wenn es etwa bei Durs Grünbein nach einer etwas oberlehrerhaft anmutenden Verknüpfung von Natur-Topoi und deren Zurückführung auf ihren organischen Ursprung heißt: „Jeder Mandelbaum ist ein Quantenschaum“. Überhaupt hinterlassen manche Texte so einen merkwürdigen Geschmack nach Molekularküche, als würden die Quintessenzen elegant mithilfe eines Rotationsverdampfers erzeugt. Da geht es mir wie Thilo Krause, wenn er schreibt: „Ich mag die Kühlen nicht, denen die Verse wie Zinn tropfen. / Schnell erkaltet, spiegelt sich stumpf / nie weniger als alles darin.“
Dass es auch anders geht, beweist einmal mehr Jürgen Brôcan. Der Titel seines essayistisch-formstrengen Gedichtes „die dinge“ lässt zunächst ähnlich apodiktische Einlassungen befürchten, entpuppt sich jedoch als philosophische Blickschule ohne Zeigefinger: „sehen als eine form von sein“.
Ironie ist eher selten spürbar in der lyrischen Sammlung des Jahrbuches 2019, und wenn sie denn auffällt, wirkt sie auf mich oft etwas kraftlos wie in Thorsten Krämers „I remember Finnentrop“ oder Friedrich Anis „In Syrien gibt es keinen Gurkensalat“. Gänzlich fehlt sie in Sepp Malls leicht heimattümelndem „Lignum Crucis“, Oder soll die an Thomas Kling erinnernde Endverstümmelung der Worte „Silbn“, „beißn“ und „haltn“ in diesem Kontext gar ironisch verstanden werden? Ein solches Erkennen funktioniert bei Armin Senser jedenfalls unmittelbarer, wenn er linksliberale Stadtfluchtfantasien durch den Kakao zieht und resümiert: „Vielleicht scheuen / wir auch nur die Mühe. Liebes. Oder sind nicht ganz bei Trost.“
Naturgemäß erschließen sich nicht alle Facetten eines Textes aufs erste Lesen. Wer Gedichte liest, gewissermaßen zu sich nimmt, nimmt auch sich und seine augenblickliche Verfassung mit in den Vorgang des Rezipierens hinein. Entsprechend ist ein Zugang oder ein zumindest vorübergehender Nicht-Zugang möglich. Ein Gedicht braucht manchmal schlicht und einfach den richtigen Zeitpunkt des Gelesen-Werdens oder wie es Jürgen Becker ausdrückt: „Etwas von damals, das noch kein Ende hat, / mischt sich in die Sätze ein, die / vom Augenblick handeln“. Und Eberhard Geisler findet ganz „ohne titel“ die Worte, die vielleicht den Urgrund aller Poesie am besten fassen: „irgendetwas gibt / und ist unbekümmert ums geben.“
Insgesamt ist der vorliegende Jubiläumsjahrgang eine Empfehlung – wenn man, wie eingangs erwähnt, nicht die Quadratur des Kreises erwartet; das beharrliche Unterfangen Buchwalds und seiner Mitverantwortlichen ist eine für die kleine Lyrikleserschaft immer wieder spannende und entdeckungsreiche Einlassung wert. Als Anlesetipps möchte ich auf Lutz Seilers „zuerst siehst du die blätter“ (S.155), Alke Stachlers „etwas tun, das nur im märchen schön ist“ (S.84), Hendrik Rosts „Tagelied“ (S. 96) sowie Christine Kappes „Auf dem Dach“ (S.59) hinweisen.
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