Fünf Meditationen über die Schönheit

Poetische Meditationen

Autor:
Francois Cheng
Besprechung:
Bettina Hartz
 

Poetische Meditationen

Den Berg sehen. Den Berg nicht mehr sehen. Den Berg wieder sehen.

25.07.2013 | Hamburg


Die Frage, was Schönheit sei, warum wir für sie empfänglich sind, ob es Kriterien gibt, sie zu bestimmen, und welche, ob sie einen Sinn hat oder nur einem Zweck dient, beschäftigt die Menschen seit langem. François Cheng, 1929 in China geboren und in seinem 19. Lebensjahr nach Frankreich übergesiedelt, ein Kenner der ost- wie der westeuropäischen Kultur und Philosophie und interessiert daran, beide in einen fruchtbaren Austausch zu bringen, hat in fünf „Meditationen“ über all dies nachgedacht.

Ursprünglich waren die „Meditationen“ als eine Reihe von Vorträgen konzipiert, die Cheng vor einem Kreis aus Künstlern, Wissenschaftlern, Philosophen, Psychoanalytikern, Schriftstellern und Anthropologen hielt, die mit dem Fernen Osten, der chinesischen Denkungsart mehr oder weniger vertraut waren. 2006 wurden sie von den französischen Éditions Albin Michel zu einem Buch zusammengestellt, 2008 sind sie auch in deutscher Übersetzung bei C. H. Beck erschienen.

Jetzt liegen sie als Taschenbuch vor. Das den Vorteil hat, dass es wenig wiegt, man es also einstecken kann, wenn man aus dem Haus geht, um einen Spaziergang zu machen oder um etwas zum Lesen und Nachdenken zu haben während einer nächtlichen U-Bahnfahrt. Da schlägt man das Buch dann auf und verfällt der, wie Roland Barthes es nannte, „aufblickenden Lektüre“. Chengs Sprache ist ruhig, schlicht, dialogisch. Sichtlich geht es ihm darum, das zu erzeugen, worüber er schreibt: Schönheit. Und so liest man die Sätze langsam. Genießt ihren Rhythmus. Kommt über ihnen in eigenes Nachdenken. Schweift ab, in die Welt, kehrt zurück, zum Buch.

In fünf aufwärtsstrebenden Umkreisungen schlägt Cheng einen Bogen von dem Phänomen des Schönen – das er an die Erfahrung der Lust koppelt, die im Menschen einen kreativen Überschuss produziere – zum Nachdenken über den Lebenssinn, zur Erfahrung von Freude wie Tragik des Lebens, die nicht voneinander zu trennen, die vielmehr aufeinander bezogen sind und aus denen Nachdenken und Erkenntnis erwachsen. Schönheit ist für Cheng nichts für sich Bestehendes, Isoliertes, sondern etwas, das zwischen Wahrgenommenem und Wahrnehmendem sich erst herstellt. Schönheit existiert nicht ohne Blick, der das Schöne auffasst, nicht ohne Begegnung, Austausch, Korrespondenz.

Was in der westlichen Welt schlicht Rezeptionsästhetik heißt, sind in der fernöstlichen die delikaten Nuancierungen des „zwischen“ – die Elemente werden hier nie isoliert, sondern immer aufeinander bezogen, als interaktive betrachtet und verstanden, vergleichbar der postklassischen Physik, die den Beobachter auch nicht mehr außerhalb des Beobachteten zu stellen vermag, sondern als Teil des Systems begreift und die wechselseitige, nur mehr durch Wahrscheinlichkeitsannahmen zu bestimmende Durchdringung der Elemente des Experimentierfeldes zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht.

Da Schönheit für Cheng also nicht an sich existiert, sondern nur im Austausch, in der Begegnung, ist sie für ihn immer verknüpft mit dem Tun. Als schön kann in seinen Augen von uns nur das wahrgenommen werden, das uns öffnet und in uns eine positive Produktivität weckt – passivisch ist sie nicht zu haben. Um diese öffnende, aufnehmende Bewegung zu bewirken, muss Energie zugeführt werden, und zwar in beide Richtungen: in Richtung des Angeschauten ebenso wie in die des Anschauenden. Für Cheng ist diese gegenseitige, wechselwirkende Kraft die Liebe. Ohne sie gibt es weder Kunst noch Ästhetik. Sie ist die Schwelle zwischen sinnlicher Wahrnehmung der Phänomene und der hinter ihnen verborgenen, sie synthetisierenden Wahrheit.

Die Ästhetik grenzt bei ihm daher an Ethik wie an Erkenntnistheorie. Schön kann nur sein, was gut, was wahr ist; die Ästhetik nur zu ihrem eigentlichen Kern vordringen, wenn sie die Ethik als eine subversive Kraft in sich aufnimmt.

Schönheit löst Freude aus, und damit eine Bewegung zum Wesentlichen, zur Fülle. In den Augenblicken wahrhaften, unmittelbaren Empfindens, übersteigen wir unser angstbesetztes Selbst. Wir sehen die Vergänglichkeit alles Existierenden, den Wandel, dem alles Seiende unterworfen ist und sein muss, als Verwandlung, und können sie als diese bejahen. Dadurch dass Schönheit das vergängliche So-Sein unserer je subjektiven Existenz zur Transzendenz hin öffnet, verhilft sie uns dazu, (besser) zu verstehen, was das Leben ist, und die Angst vorm Tod zu überwinden.

„Der Zweck des Kunstschönen in seiner höchsten Form ist mehr als ‚ästhetischer‘ Genuss“, schreibt Cheng, „er besteht darin, die Gabe zu leben zu geben.“ Das ist ein ungeheurer Anspruch, den Cheng da formuliert, und er wirkt etwas antiquiert, hat man der Kunst lebensrettende Aufgaben doch eher im 19. Jahrhundert, in ihrer Funktion als säkularer Religionsersatz, zugemutet. Wenn man aber das Romantisch-Aufgeladene, das da mitschwingt, runterkocht auf den reinen Überschuss an Freude und Lust, der in der die Sinne schärfenden, die Aufnahmefähigkeit vertiefenden Begegnung mit dem Erfahrungskonzentrat, sei es nun Gedicht, Bild, Film oder Musikstück, frei wird, so wird eben klar, was das „Kunstschöne“ zu leisten vermag: Es lockert die Fesseln der Gewohnheit, die der Wahrnehmung ebenso wie die des Denkens und Fühlens.

Es lebt dann wieder etwas von dem ursprünglichen, ganz und gar diesseitigen, auf völliger Offenheit und Öffnung beruhenden Ergriffensein des Kindes in einem auf, ein potenziertes Kindsein, denn unmittelbare Erfahrung und Reflexion gehen jetzt in eins. Der Meister Qingdeng aus der Song-Zeit, den Cheng zitiert, nannte das „die drei Stufen“: „den Berg sehen; den Berg nicht mehr sehen; den Berg wieder sehen“.


Exklusivbeitrag

 

François Cheng: Fünf Meditationen über die Schönheit, aus dem Französischen von Judith Klein, Softcover, 156 Seiten, 9,95 Euro, ISBN: 978-3-406-64526-6. C. H. Beck, München 2013

Bettina Hartz hat zuletzt über »Derrida ist nicht zu Hause« von Peter Geimer auf Fixpoetry geschrieben.