Im Jahr 2008 reiste ich nach Stockholm, um für die FAZ über das Projekt des Moderna Museets zu berichten, systematisch Kunst von Frauen anzukaufen, um die Lücken in der Sammlung zu schließen. Iris Müller-Westermann war damals Kuratorin am Moderna Museet und Leiterin des Projekts. Auf unserem Rundgang durch das Museum zeigte mir Iris ein Bild aus der »Schwan«-Serie von Hilma af Klint, aus dem Jahr 1915. Das Gemälde ist abstrakt, hat einen schwarzen Hintergrund und zeigt darauf leuchtende Kreissegmente. Ich bin aus allen Wolken gefallen. Ich war begeistert und beunruhigt. Warum hatte ich noch nie von dieser Künstlerin gehört? Iris erzählte mir alles, was sie wusste, und außerdem, dass sie an einer großen Retrospektive arbeiten würde. Mich ließ anfangs eine Frage nicht los: Wer hatte verhindert, dass wir uns an Hilma af Klint erinnern?
Wie sind Sie bei der Recherche für Ihr Buch vorgegangen? Hatten Sie Vorbilder, an denen Sie sich orientieren konnten?
Ein Buch fällt mir sofort ein, es ist aber keine Biographie: »Das Geisterhaus« von Isabel Allende. Die Frauen in diesem Roman erleben übersinnliche Dinge, die Allende erzählt, ohne sie in Frage zu stellen oder zu erklären. Das Unsichtbare ist einfach Teil der Wirklichkeit, einer fantastischen Wirklichkeit. Hilma af Klint und ihre Freundinnen leben in einer sehr ähnlichen Welt. Sie haben Alter Egos, männliche oder weibliche, und sprechen mit Wesen, die unsichtbar sind. Von Allende konnte ich lernen, gegenüber solchen Phänomenen eine agnostische Haltung einzunehmen: Meine Aufgabe ist es, diese Ereignisse zu schildern, nicht sie mit Psychologie oder Soziologie wegzuerklären.
Warum ist Hilma af Klint nicht schon lange berühmt? Wie konnte es passieren, dass Kandinsky und Mondrian als Begründer der abstrakten Kunst in die Geschichte eingegangen sind?
Es gibt einen nachvollziehbaren Grund dafür – und einen verstörenden. Was ich nachvollziehbar finde: Die Abstraktion wurde als Kunststil mit einiger Verspätung erfolgreich. Der Durchbruch erfolgte in Amerika in den späten dreißiger Jahren, in Europa nach 1945. Hilma af Klint starb 1944 und hatte im hohen Alter verfügt, dass ihre Gemälde erst 20 Jahre nach ihrem Tod gezeigt werden dürfen. Sie war also unbekannt, als der Kanon der Abstraktion geschmiedet wurde.
Der verstörende Grund: Hilma af Klint trat, als ihre Werke 1986 zum ersten Mal gezeigt wurden, ungeschützt in die Kunstwelt. Ihre Werke gehören bis heute keinem Museum, hinter ihr steht keine Galerie, kein Sammler, kein Händler, kein Galerist. Die Werke befinden sich in einer kleinen Stiftung ohne Stiftungskapital. Ihre Bilder treten vollkommen ohne die Insignien der Macht an, mit der üblicherweise die Karrieren in der Kunstwelt gemacht werden. Noch dazu ist sie eine Frau. Manchmal kommt mir ihr Werk wie ein Streich vor, um der Kunstgeschichte ihre schreckliche Borniertheit vorzuführen.
Wie sah der Kunstmarkt zu Hilma af Klints Zeiten aus? Waren Künstler und Künstlerinnen gleichberechtigt?
Absolut nicht! 1911 trat Hilma af Klint der Vereinigung schwedischer Künstlerinnen bei, die sich für die Gleichstellung von Malerinnen und Bildhauerinnen einsetzte. Bei Aufträgen. Bei den Preisen. Bei der Hängung in Ausstellungen. Ihre abstrakten Bilder wollte Hilma af Klint jedoch nicht verkaufen: Man nennt einen Zyklus nicht »Gemälde für den Tempel«, um dann darauf zu hoffen, dass die Werke bei Sammlern über dem Sofa hängen.
Woher nahm Hilma af Klint die Inspiration für ihre revolutionären abstrakten Gemälde?
Viele Quellen: In der Physik wurde in ihrer Zeit alles auf den Kopf gestellt, von Forschern wie Marie oder Pierre Curie oder Wilhelm Röntgen. Plötzlich wusste man, dass Atome zerfallen können und dass sich radioaktive Elemente dabei verwandeln. Stockholm, die Stadt der Nobelpreise, war eine Hochburg der Naturwissenschaften. Außerdem waren auch in der Politik Umbruchszeiten: In Russland gab es 1905 die erste Revolution, 1906 führte Finnland das Frauenwahlrecht ein. Hilma af Klint hörte früh auf, den alten Ordnungssystemen Glauben zu schenken, ihr Umfeld ermutigte sie dazu. Sie verkehrte schon als Mädchen in Kreisen, die sich von der autoritären Kirche abgewendet hatten und eigene Wege beschritten. Die Frauen, von denen die Künstlerin gefördert wurde, lebten nach ihren eigenen Regeln. Im Glauben. In der Liebe. In der Arbeit. In der Kunst. Noch dazu kam sie aus einer Familie von Seefahrern und Kartographen: Wer Gewässer verkartet, muss sich immer fragen, was unter der Oberfläche liegt. Die af Klints waren Spezialisten darin, das Unsichtbare sichtbar zu machen.
Die Retrospektive zu Hilma af Klint, die im New Yorker Guggenheim Museum gezeigt wurde, war die meistbesuchte Ausstellung in der Museumsgeschichte. Wie erklären Sie sich das?
Die Gemälde! Sie sind einfach nicht zu fassen, so lebendig, ungewöhnlich, eigengesetzlich. Ich kenne viele Besucher, die mehrmals in die Schau gegangen sind. Ihr Werk ist ein Bau mit vielen Eingängen: Besucher landen bei ganz unterschiedlichen Themen. Abstraktion. Spiritualität. Religion. Feminismus. Liebe. Sex. Physik. Biologie. Pflanzen. Tiere. Schifffahrt. Reisen. Leben nach dem Tod.
Die Bilder von Hilma af Klint wirken auf heutige Betrachter modern, fast aus der Zeit gefallen. Welches ist Ihr Lieblingsgemälde und warum?
Die Gemälde gehören zusammen, sie bilden einen Organismus, deswegen ist es schwer, eines herauszugreifen. Aber sagen wir so: 1916 begann die Künstlerin die »Parsifal«-Serie mit dem Aquarell einer dunklen, blattfüllenden Spirale. An den Rand schrieb sie, dass diese Spirale etwa fünf Mal so groß ausgeführt werden solle, als ob man sich hineinstürzen könnte. Mein Mann ist Künstler. Ich habe ihn gebeten, dass er mir diese Spirale, von der Hilma af Klint wollte, dass sie entsteht, malt.
Die Fragen stellte Yelenah Frahm

Groß, radikal, ihrer Zeit voraus – Hilma af Klint (1862-1944), die Pionierin der abstrakten Malerei.
Sie schuf mehr als 1000 Gemälde, Skizzen und Aquarelle und hat die Malerei revolutioniert. Schon vor Kandinsky oder Mondrian malte sie abstrakte Werke, die durch ihre Farben und Formen zutiefst beeindrucken. Und sie war eine Frau von großer Freiheit und Zielstrebigkeit, die sich bewusst den Regeln des männlich dominierten Kunstbetriebs entzog. Sie wusste, dass sie ihrer Zeit voraus war: Mit siebzig Jahren verfügte sie, dass ihre Bilder erst 20 Jahre nach ihrem Tod zu sehen sein sollten.
Hilma af Klint war eine schwedische Malerin, deren Neuentdeckung als die kunsthistorische Sensation der vergangenen Jahre gilt. Auf Basis umfangreicher Recherchen erzählt Julia Voss jetzt das ungewöhnliche Leben dieser Ausnahmekünstlerin, zerstört zahlreiche Klischees und Mythen und zeichnet zugleich das Bild einer Epoche, in der die weltpolitischen Umbrüche nicht nur die Malerei revolutionierten.