Ein paar Gentlemen, die meisten von ihnen aus Elitehochschulen wie Eton und Harrow, trafen sich am 26. Oktober 1863 in der Londoner Freemason’s Tavern. Sie gründeten die Football Association und schufen ein zunächst rudimentäres, jedoch verbindliches Regelwerk.
Der Sport, wie wir ihn heute kennen, und in besonderem Maße der Fußball, ist ein Produkt der Moderne und der Industrialisierung. Die Verbreitung des Association Game, des »Soccer«, fand sich dadurch begünstigt, dass es den English Way of Life repräsentierte und zugleich dem Sozialdarwinismus mit dem Schlagwort survival of the fittest sowie wesentlichen Konzepten der Moderne entgegenkam:
- In allen Schichten strebte man nach politisch-gesellschaftlicher Mitgestaltung (Demokratisierung);
- man begann sich von der engen Bindung an Religionen zu lösen – der Sport vermochte als Religions-Ersatz zu dienen (Säkularisierung);
- die Städte wuchsen vor allem durch Zuwanderung enorm, hier bildete man neue, populäre Kulturformen aus (Urbanisierung),
- sodass vielfältige Ausdrucksweisen Verbreitung fanden und
- der Fußball – sowohl das Spiel als auch sein Umfeld – der beschleunigten Mobilität entsprach.
Die Weltmacht Großbritannien stand für Marktwirtschaft und Parlamentarismus, für den Erfolg von Gentlemen, die als liberal und unternehmungsdurstig galten. Der Fußball war zunächst kurzzeitig eine Domäne der Eliten, mit der baldigen Popularisierung in den 1870er Jahren wurde er schnell zum ökonomischen Faktor.
Die englischen Vereine begannen, ihre Kicker kontinuierlich zu bezahlen, was eine sorgfältige Ein- und Ausgabenplanung nötig machte. Der Wettbewerb um den Pokal der Football Association mit der drohenden Möglichkeit des frühen Ausscheidens im K.O.-Modus wurde ihnen finanziell bald zu unwägbar. 1888 rief man deshalb The League, die erste Profiliga, ins Leben, eben weil den Clubs die fixe Anzahl von Meisterschaftsspielen wirtschaftlich besser planbar erschien.
Etwas ähnliches vollzog sich etwa ein Jahrhundert später: Nachdem Silvio Berlusconi 1986 mit Hilfe des korrupten Sozialdemokraten Bettino Craxi den AC Milan erworben hatte, erklärte er, der europäische Meistercup mit seinem K.O.-System sei weder zeitgemäß noch wirtschaftsgerecht. Also beauftragte er deshalb 1988 – exakt hundert Jahre nach Gründung der League – eine Werbeagentur damit, ein Konzept für eine Europäische Liga zu erstellen. Die UEFA schuf dann 1992 die Champions League und richtete sie nach den ökonomischen Interessen der großen Ligen und Vereine aus.
Der Fußball wurde zu einem gewichtiger Ausdruck der Massengesellschaft, mit der er sich gleichermaßen selbst gewandelt und zu deren Wandel er in nicht unerheblichem Maße beigetragen hat. Mit der Moderne hatte er sich entwickelt, mit dem Neoliberalismus hatte er (zeitgleich mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und mit der nunmehr globalen Herrschaft des Kapitals) eine umfassende Kommerzialisierung durchgemacht und ist heute zum verkäuflichen Spektakel geworden. Die Spieler sind demnach austauschbare Waren mit einem (nicht immer reellen) Marktwert.
Die Auswirkungen dieser Entwicklung können zwei konträre Typen belegen: Uwe Seeler, der während seiner ganzen Karriere für den Hamburger SV auflief, war ein Symbol für Kampfgeist und regionale Verbundenheit, die sich in der dialektalen Identifikation »Uns Uwe« äußerte.
Am Anfang der Ära zunehmender Spielermigration, in dem man von Spielern, die ihr Geld im Ausland verdienten, noch von »Legionären« sprach, steht er für Treue und Hingabe an einen Ort, an »seinen Verein«. Er wurde zu »Uns Uwe« zu einem Zeitpunkt, an dem die Werte, die er verkörperte, an Wert zu verlieren begannen.
Ihm gegenüber steht vierzig Jahre später das Phänomen David Beckham, ein Spieler, der sich im Verlauf seiner Karriere systematisch zur weltweiten Marke gemacht hat. In einem abstrakten kapitalistischen System, das global von Unternehmen beherrscht wird, steht er für den Eigenunternehmer, den »self-made man«, der gezielt seine Haut zu Markte trägt. Er ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sich die Werte und Wertigkeiten einer Gesellschaft im Image ihrer Helden und Stars widerspiegeln.
Ein paar Jahre nach Beckham zahlen die Clubs Unsummen in Höhe von fast 100 Millionen Euro für Spieler wie den Brasilianer Neymar oder den Waliser Gareth Bale. Der Einzug ins Viertelfinale der WM, das in diesen Tagen ausgetragen wird, bringt einem deutschen Spieler vom DFB eine Prämie von 50 000 Euro. Für das Halbfinale sind 100 000 ausgemacht, für das Finale 150 000 und für den Titel 300 000 Euro. Besser würden die Eidgenossen zahlen, ihnen wären ihre Weltmeister pro Kopf und Fußpaar 410 000 Euro wert, den Spaniern gar 720 000. Und von der FIFA bekommt der Verband des Sieger-Teams 35 Millionen Dollar.
Diese, wie im ersten Beitrag bereits erwähnt, als »gemeinnützig« eingestufte FIFA gab kurz vor Beginn der WM bei ihrem Kongress in São Paulo an, über »Reserven« von über einer Milliarde Euro zu verfügen und von 2015 bis 2018 mit Einnahmen in Höhe von 3,7 Milliarden zu rechnen.
Die Phrasen der Kommentatoren, Spieler und Funktionäre aber bleiben im Wortfeld des Werktätigen, nicht der Millionäre, und geraten oft ins billige:
12. Juni 2014, Dante (Brasilien): »... meine Arbeit auf dem Spielfeld ...«
14. Juni, Presse über Iker Casillas: »... bei Real ist er nur noch Teilzeitkraft ...«
14. Juni, ZDF: »... das Umschalten funktioniert zu langsam bei den Griechen ...«
14. Juni, ORF: »... taktisch machen beide Teams einen Superjob ...«
16. Juni, ARD: »... ist das Wechselkontingent der deutschen Mannschaft abgearbeitet ...«
Auswechslung. Ein »Mittelfeldmotor« geht vom Platz. Er habe seinen Arbeitstag beendet, kommentiert der Reporter, er sei aber nicht richtig »in die Gänge gekommen«. Das Spielgerät habe ihm heute keine guten Dienste geleistet, die Passquote sei mangelhaft, die Zweikämpfe habe er nur zu einem geringen Prozentsatz gewonnen, die Laufwege zeigten zu wenige Kilometer.
Auf und neben dem Platz geht es oft auch sehr leistungs- und marktorientiert zu: »Wir sind uns einig, dass wir endlich unser volles Potential abrufen müssen«, sagte Yaya Touré, einer der Stars der Elfenbeinküste vor dem Spiel gegen die Griechen. Und immer wieder wird es auch schwer blutig. So schrieb die Zeitschrift 11 Freunde in ihrer WM-Präsentation über die Matches im tropisch feuchtwarmen Manaus mitten im brasilianischen Urwald: »Bei dieser Witterung Vollgas zu geben, wäre reiner Selbstmord.« Oder man hört und liest solche Sätze: Den nötigen Tempowechsel würden die Italiener besonders gut beherrschen, »die oft in der Schlussphase, wenn der Gegner müde wird, zum tödlichen Schlag ausholen.«
Von Anfang an hat sich rund um das »runde Leder« und auf dessen Spielfeld ein Sprachfeld gebildet. Manche der Metaphern sind von Dauer, andere folgen Moden. Allesamt drücken sie Entwicklungen und bezeichnende Hintergründe aus und hängen aufs Engste mit den Veränderungen in der Gesellschaft, in den Medien und ihrer Berichterstattung zusammen.
Militärische Vergleiche haben sich besonders in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg festgesetzt und bis heute erhalten; sakrale Vergleiche vor allem im Zuge der enormen Popularisierung des Fußballs nach den großen Kriegen:
Der Angriff rollt, den Verteidigern gelingt kein Befreiungsschlag, der Sturmtank reißt die Flanke auf, der Schuss ist eine »Bombe«, der Ball schlägt im Tor ein »wie eine Granate«. Der Zuschauer gilt als »Schlachtenbummler«,Der »Bomber der Nation« mit der »Torjägerkanone« des Jahres 1966 © imago der Coach als »Feldherr« (in England heißt er, vom Unternehmertum der League her konsequent Manager). In Brasilien nennen sie den Torschützenkönig artilheiro, in der Bundesliga erhält er tatsächlich eine kleine Kanone aus Bronze. Didier Deschamps, der französische Teamchef, erklärte als Kapitän der Weltmeister von 1998 seine Mannschaft sogar zu guerriers, Kriegern. Und in Frankreichs Sportzeitungen kann man – wörtlich übersetzt – lesen, dass ein erfolgreicher Schuss den Tormann »gekreuzigt« habe.
Um dem bodenständig Aggressiven einen Gegenpol zu geben, greift man zu sakralen Vergleichen. Sie bringen eine Erhöhung ins Metaphysische. Vom »begnadeten Spieler« ist die Rede, vom »Fußballgott«, vom »heiligen Rasen«, sogar von der »Hand Gottes«. Wenn in Israel ein Tor erzielt wird, rufen die Fans »Yesh Elohim«, Gott ist da. So wird das Stadion zur Kultstätte, zum Ort der Liturgie mit ausgeprägten Riten, von Einzug und Einnebelung bis hin zur Kommunion. Nach der Messe ist vor der Messe. Schon 1954 war zu lesen, der Wettergott habe den »Geist von Spiez«, die Kameradschaft der deutschen Weltmeisterelf von 1954, unterstützt, sagt man über das »Wunder von Bern«, den 3:2-Endspieltriumph der Mannschaft von Sepp Herberger über die hochfavorisierten Ungarn. Der Ball sei ihm »wie ein Geschenk des Himmels« auf den Fuß gefallen, erzählte Helmut Rahn über sein Siegestor. Hochkonjunktur und gestärktes Selbstbewusstsein äußerten sich in Deutschland mit dem ersten großen internationalen Sieg nach der Niederlage von 1945 im so genannten Wunder-Diskurs. Man sprach vom Konditionswunder, vom Fräuleinwunder, vom Wundergreis Konrad Adenauer und vom Wirtschaftswunder.
Die Fußballkommentare von heute deuten nun auffallend oft auf Mechanisierung (Mittelfeldmotor, Gas geben, in die Gänge kommen) und Kommerzialisierung; man bedient sich der Übertreibung der Medien-Event-Kultur. Teamchefs finden »Spielermaterial« vor. Kicker sprechen ins Mikrofon, sie hätten ein gutes (oder eben auch ein schlechtes) Match »abgeliefert«, sie hätten ihre Leistung (nicht) abrufen können – ganz so als gäbe es eine Art Lagerhaltung für Leistungen, die sich wie ein Produkt bestellen und liefern ließe. Die Vergangenheit dient Experten wie Reportern als Archivliste, der sie Aussagekraft für das aktuelle Match geben. Chile habe in einem Pflichtspiel bislang kein einziges Mal gegen Spanien gewonnen, allerdings nur zweimal gespielt – als ob die Statistik ein gültiges Vorzeichen für einen spanischen Sieg gewesen wäre.
Auch in der Statistikgläubigkeit trifft sich der fußballerische mit dem gesellschaftlichen und ökonomischen Diskurs, der Sicherheit sowie Vorhersehbarkeit sucht. Dabei lebt das Spiel gerade von seinen Unwägbarkeiten. Wirtschaft und Medien arbeiten mit der Sprache der Reklame. Die Werbung setzt auf den Superlativ der Superlative: »Das ist eines der allerschönsten Tore«. Dazu fast schon mantra-artig die Formel, die Historie vorgibt, und doch ahistorisch bleibt: »aller Zeiten«.
In Argentinien ließ die Brauerei Quilmes 2002, zur Zeit des Wirtschaftskrachs (im September 2002 lebten 54 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit lag bei fast 40 Prozent), einen Spot senden, der die »Heldentaten« des heimischen Fußballs vorführte. Der Staatspräsident war vom selben Werbemann betreut worden, der dann 2006 für die Quilmes-Reklame bei der WM zuständig war. »Wie glorreich und wie grandios es ist, Argentinier zu sein«, hieß es hier am Schluss, dazu das Bild von einem Tor der Nationalelf, sodann: »Quilmes, auf der Seite des Herzens«. Auf einem Feld, das ohnehin starke Gefühle hervorruft, sind Superlativ und Emotionalisierung gängige Muster.
Markt und Kommerz sind nun die Große Erzählung von heute. Die Quote ist ihr Metrum, die Sicherheit ihre Überschrift. Eine begeisterte Masse lässt sich leicht zu begeisterten Konsumenten machen.
Die WM in Italien 1990 brachte der FIFA für die Fernsehrechte umgerechnet 62,6 Millionen Euro; 2006 waren es schon über 989 Millionen. Allein in Deutschland stieg der Umsatz der Vereine aus Merchandising zwischen 1990 und 1999 von 3,2 Millionen auf 97 Millionen Euro. Von den mehr als zehn Millionen Fußballbegeisterten im Land besitzt heute mindestens jeder Zweite einen Artikel seines Clubs. Mit einer regulären Professur an einer Universität würde ein Nobelpreisträger monatlich ein Zwanzigstel des Lohns eines durchschnittlichen Bundesligakickers verdienen. Für den Gegenwert des renommiertesten Literaturpreises im deutschen Sprachraum, der für ein Lebenswerk vergeben wird, muss dieser Fußballer beim HSV – immerhin nur knapp dem Abstieg entronnen – keine zwei Wochen rennen, einer bei Manchester City gar nur zwei Tage.
In Brasilien beträgt der gesetzliche Mindestlohn, mit dem ein großer Teil der Bevölkerung auskommen muss, knapp 300 Euro. So viel bezahlt man in einem Mittelklassehotel drei Straßen hinter der Copacabana für eine Nacht.

Fußball ist mehr als ein Sport
Fußball hat seit jeher die Menschen beflügelt. Indem dieser Sport Stammtisch und Intellektuellendiskurs verbindet, war er immer mehr als die Jagd nach einem Lederball. Hier wird jetzt seine Geschichte als Kulturgeschichte erzählt. Von den Anfängen in der Aristokratie Englands bis zum weltweiten Massenphänomen, von seinen politischen und sozialen Effekten bis hin zu seinen Spuren in der Alltagskultur, von Deutschland über Afrika bis nach Japan, Lateinamerika und den USA, von Mitte des 19. Jahrhunderts über die Zeiten der Diktaturen bis zur Globalisierung. Klaus Zeyringer rückt die schönste Nebensache der Welt ins glänzende Licht: witzig, informiert, überraschend und sehr unterhaltsam.