Brasilianität und die FIFA
Lula weint.
Brasilien hat soeben die Austragung der Weltmeisterschaft zugesprochen erhalten. Dem Staatspräsidenten ist offenbar ein inniger Wunsch in Erfüllung gegangen, sodass er öffentlich Tränen zeigt. Er verspricht sich und der großen Welt des runden Leders ein Fest dort, wo der Fußball das größte Fest ist.
Man schreibt den 30. Oktober 2007. Das Oberhaupt eines der größten Länder der Erde weint in Zürich, wo der internationale Verband seinen luxuriösen Sitz hat. Doch der rührende Sieg, stellt sich kaum sechs Jahre später heraus, birgt womöglich eine Niederlage.
Brasilien, auf dessen Flagge ordem e progresso steht, Ordnung und Fortschritt, assoziiert man seit den Titelgewinnen von 1958, 1962 und 1970 und spätestens seit den Titeln von 1994 und 2002 sogar mehr mit dem Fußball als das »Mutterland des Fußballs« England, das ab 1863 die Grundlagen für die globale Verbreitung des bei weitem populärsten Sports der Welt geschaffen hatte. Wie überall war der Sport auch nach Brasilien mit den Briten gekommen (hier mit den britischstämmigen Pionieren des Fußballs in Brasilien, Charles Miller und Oscar Cox), und wie überall war er in São Paulo und Rio de Janeiro zunächst ein Spiel der Eliten. Ihnen waren nur Weiße in den Teams genehm; 1921 verbot der damalige Staatspräsident Epitácio Pessoa sogar die Nominierung von Farbigen in die Nationalelf, die seleção: Man wolle nicht als »unterentwickeltes Land« dastehen.
Mit dem zunehmenden nationalen Selbstbewusstsein stieg das Bedürfnis, die Brasilianität, was eben Brasilianer ausmache und zusammenhalte, auszudrücken. Dem Estado Novo, den Getúlio Vargas 1937 ausrief, ließ der Diktator nationale Signale und Symbole konstruieren. Dazu gehörte auch der Sport. Sein Populismus behauptete eine »Rassendemokratie«, die aus der vielgestaltigen Gesellschaft ein Ganzes, eine Nation zu bilden vermöge – sichtbar, erfahrbar, gefühlsgeladen im Kollektiv: die eigene Art des Fußballs, jogo bonito, das schöne Spiel. Das spezifisch Brasilianische, die brasilidade, äußere sich im futebol, erklärten unisono Politiker wie Intellektuelle. Man verstehe es, ihn »dionysisch aufzuladen«, erklärte Gilberto Freyre. Dieser futebol-arte kombiniere Überraschungen, List, Raffiniertheit und Wendigkeit mit Brillanz und individueller Spontaneität. Dies sei besonders ein Verdienst der »Mulatten«, betonte der renommierte Soziologe 1938. In diesem Jahr reiste die Seleção zum WM-Turnier nach Frankreich, und der Diktator unterhielt sich beim Abschiedsempfang auffallend intensiv und lang mit dem dunkelhäutigen Star Leônidas da Silva. Der Schriftsteller Nelson Rodrigues sprach damals gar von einem »Vaterland der Fußballer«.
Tatsächlich ist die Seleção wohl das begreifbarste und emotionsstärkste Element, das den Massen ein Bild der Nationalität vermittelt. Als Europa nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern lag, wollte Brasilien der Welt vorführen, dass es als »Land der Zukunft« zu gelten vermochte. Das große Land durfte 1950 die erste Nachkriegs-WM ausrichten und schuf dafür die größte Fußballarena der Welt. »An das Stadion zu glauben, heißt an Brasilien zu glauben«, sakralisierte man es schon vor Baubeginn. Doch hier, im legendären Maracanã, erfuhr die brasilidade einen enormen Dämpfer.
Vor dem entscheidenden Match gegen das winzige Uruguay feierte die Nation bereits ihre vermeintlichen Sieger. Doch Uruguay gewann 2:1 und damit die WM. Das so genannte Maracanaço, zu Deutsch etwa Die Schande von Maracanã, stufen viele als die heftigste Tragödie der jüngeren brasilianischen Geschichte ein. Heute behaupten die Brasilianer, es wäre schon schlimm, diesmal – 2014 – im eigenen Land nicht Weltmeister zu werden; am schlimmsten jedoch wäre es, wieder gegen Uruguay zu verlieren.
Zurück nach Zürich, 30. Oktober 2007. Wieder tritt der größte lateinamerikanische Staat in einer Aufschwungsphase an, um der Welt seine Leistungen vorzuführen. Präsident Lula kann soziale und ökonomische Erfolge vorweisen, das Wirtschaftswachstum beträgt fünf Prozent, man beginnt sich als global player zu verstehen. In den folgenden Jahren scheint man die Finanzkrise besser zu meistern als die meisten Länder, Brasilien folgt auch nicht so willfährig den USA, wie es die Europäer tun. Was würde eine bessere Erfolgsvitrine abgeben als der Sport, für den Brasilien in der Welt als Synonym gilt? An diesem kühlen Zürcher Oktobertag kommt die WM 2014 nach Brasilien. Lula weint, dann erklärt er: »Das ist ein Grund für eine große Party, aber auch eine große Aufgabe, die wir nach Hause tragen.«
Juni 2014: kurz vor Beginn des Turniers, sind die Wirtschaftsdaten und die sozialen Indikatoren deutlich schlechter. Von der Party profitiert nun die FIFA. Lula hätte es – wie alle anderen Staatsleute – wissen müssen. Die FIFA, ein Verein, der wie jeder eidgenössische Kegelclub nach Schweizer Recht funktioniert, ist nicht nur ein korruptes Feudalwesen, sondern auch ein sicherer Verdiener (Der Sportjournalist Thomas Kistner nennt sein fundiertes Buchin aller Deutlichkeit FIFA Mafia). Der brasilianische Fußballverband CBF ist laut einem Bericht des brasilianischen Parlaments von 2001 ein »krimineller Ort, wo Anarchie, Inkompetenz und Verlogenheit herrschen.« Warum nun die politischen Herrschaften akzeptieren, dass bei einer WM die Gastgeberländer Milliarden verlieren, während die FIFA garantiert Milliarden verdient, bleibt schwer verständlich. Für Image und Nationalbewusstsein?
Völlig unverständlich ist auch, dass souveräne Staaten wesentliche Hoheitsrechte an einen Schweizer Verein abtreten, der gänzlich außerhalb demokratischer Kontrolle steht. Und ebenso unverständlich ist es, dass dies in unseren Gesellschaften nicht heftig debattiert wird.
Wer sich für die Abhaltung einer WM bewirbt, muss eine Vereinbarung mit der FIFA unterzeichnen. Für alle von der FIFA genannten Personen setzt Punkt 1 die Kontrolle der Grenzen, Punkt 2 die Arbeitsgesetze außer Kraft, Punkt 3 stellt für sie die Steuerfreiheit sicher, Punkt 5 gewährt ihnen besondere Devisenbestimmungen, die praktisch einer Aufforderung zur Geldwäsche gleichkommen. In und um Stadien herrscht das Recht des Weltverbandes. Nur Waren der Sponsoren dürfen verkauft werden, die einheimischen bleiben draußen. Dafür musste Brasilien das Alkoholverbot im Arenarund aufheben, da eine US-Biermarke sich bei der FIFA eingekauft hatte. Den Zuschauern kann sogar eine bestimmte Kleidung untersagt werden, sollte sie das falsche Logo zeigen. So geschehen mit einer Gruppe holländischer Fans während des »Sommermärchens“ 2006. Sie hatten den »falschen« Biersponsor auf der Brust.
Das Maracanã ist nun wie alle Stadien der WM ein nach FIFA-Vorschriften gestylter Tempel der Eliten. Man möchte meinen, dass eine andere Art von Maracanaço schon vor Anpfiff des ersten Spiels gewiss ist. Es scheint, als ob ein Schweizer Kegelclub über den Staaten stehen würde. Und wenn die Korruption siegt, wenn Geld für Krankenhäuser, Schulen, öffentlichen Verkehr fehlt, verwundert es nicht, dass auch Fußballbegeisterte gegen eine derartige WM auf die Straßen gehen. Die FIFA führe sich wie ein Kolonialherr auf, erklärt Romário, Brasiliens WM-Held von 1994. Die Demonstranten singen: »Das Maracanã ist unser.«Foto: © Chico Peixoto/LeiaJa Imagens/Estadao ConteudoBei den immensen Eintrittspreisen wird man jedoch kaum Menschen aus den umliegenden Vierteln auf den Tribünen finden. Dafür gibt es jetzt sogar einen »offiziellen Champagner der WM«. Und dennoch: Der Fußball ist ein derart faszinierendes Spiel, dass ich die Matches gerne sehen werde. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

Fußball ist mehr als ein Sport
Fußball hat seit jeher die Menschen beflügelt. Indem dieser Sport Stammtisch und Intellektuellendiskurs verbindet, war er immer mehr als die Jagd nach einem Lederball. Hier wird jetzt seine Geschichte als Kulturgeschichte erzählt. Von den Anfängen in der Aristokratie Englands bis zum weltweiten Massenphänomen, von seinen politischen und sozialen Effekten bis hin zu seinen Spuren in der Alltagskultur, von Deutschland über Afrika bis nach Japan, Lateinamerika und den USA, von Mitte des 19. Jahrhunderts über die Zeiten der Diktaturen bis zur Globalisierung. Klaus Zeyringer rückt die schönste Nebensache der Welt ins glänzende Licht: witzig, informiert, überraschend und sehr unterhaltsam.