Dies brachte manch einem schlagartig zu Bewusstsein: »Ich bin ein Gesetzesbrecher.«
Am Tag seines In-Kraft-Tretens entfachte das neue Gesetz eine große Kontroverse. Die staatlichen Medien priesen es einmütig, so als wäre mit ihm die lang ersehnte Lösung für ein drängendes moralisches Problem der chinesischen Gesellschaft gefunden. Dagegen wurden im Internet unzählige kritische Stimmen laut. In ihren Firmen, so klagten manche, müssten sie selbst an freien Tagen noch Überstunden machen, und die Erlaubnis, ihre Eltern in der alten Heimat zu besuchen, würde man ihnen verwehren. Noch häufiger meldeten sich Leute zu Wort, die sagten, eine Reise zu ihren Eltern würde sie ein paar hundert, wenn nicht gar eintausend Yuan kosten, und angesichts ihrer klammen Finanzen müssten sie damit bis zu ihrem großen Urlaub warten. Spötter schließlich wiesen darauf hin, dass die staatlichen Medien Jahrzehnte lang anlässlich jedes Frühlingsfestes ein Loblied auf jene Helden der Arbeit gesungen hatten, die, statt heimzukehren, nicht von ihrem Posten wichen – müsse man nicht nun eingedenk des neuen Gesetzes diese einstigen Modellarbeiter verhaften? Das war natürlich scherzhaft gemeint, schließlich beinhaltet das »sollten«, von dem im Gesetz die Rede ist, keine Strafandrohung.
Mir kommt dabei eine wahre Geschichte in den Sinn, von der ich vor über zehn Jahren gelesen habe. Ein Bauer aus einer armen Gegend sparte sich jeden Groschen vom Mund ab, damit sein Sohn die Universität besuchen konnte. Nachdem der Sohn eine Arbeit gefunden hatte, änderte er seine Telefonnummer, und der Vater konnte ihn nicht mehr erreichen. Aus Sorge um ihn ging der Vater jede Woche über zwanzig Kilometer zu Fuß in die nächste kleine Stadt, um die nicht mehr gültige Telefonnummer anzurufen. Er machte sich immer mehr Sorgen; der Gedanke, dass sein Sohn nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, kam ihm nicht. Als er mit Hilfe der Medien schließlich seinen Sohn fand, war der junge Mann wütend, dass sein Vater ihn derart bloßgestellt hatte. Niedergeschmettert und allein kehrte der Vater zurück in sein ärmliches Zuhause.
Seit einigen Jahren sind unsere Fernsehsendungen, Zeitungen und Websites voll von Berichten über Kinder, die ihren Eltern die kalte Schulter zeigen oder ihnen übel mitspielen. Viele stimmen bittere Klagen an über den moralischen Verfall der chinesischen Gesellschaft. Dies, so meinen sie, sei die Kehrseite der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung der letzten über dreißig Jahre: Jeder sei nur noch auf seinen eigenen Vorteil bedacht. »Wer Geld hat, kann den Teufel die Mühle treten lassen« – dieses Sprichwort müsse man heute abwandeln in: »Wer Geld hat, kann die Mühle den Teufel treten lassen.«
Gleichzeitig haben Hunderte Millionen von Bauern ihr Land verlassen, um in den Städten zu arbeiten, und auch die städtische Bevölkerung ist zu einem Großteil mobil geworden, so dass das traditionelle Gebot »Solange die Eltern leben, bleibt man in ihrer Nähe« seine Gültigkeit verloren hat.
Während das immer weiter verbreitete Phänomen, dass Kinder ihre Eltern vernachlässigen oder schlecht behandeln, allgemeinen Tadel erntet, kritisiert zu meiner Verwunderung niemand die Regierung – oder vielleicht wird derlei Kritik sogleich getilgt.
In meiner Kindheit während der Kulturrevolution las ich heimlich die ›Vierundzwanzig illustrierten Beispiele kindlicher Pietät‹, ein Buch, das damals verboten war. Eine der Geschichten darin ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben: In der Jin-Dynastie (265–420) lebte ein von Kindesliebe erfüllter Sohn namens Wu Meng, dessen Familie so arm war, dass sie sich kein Moskitonetz leisten konnte. Weil die Mücken seinen Vater um den Schlaf brachten, setzte sich der Sohn nackt vor das Bett des Vaters und ließ die Stiche der Mücken widerstandslos über sich ergehen, damit die Quälgeister seinen Vater verschonten.
In der Kaiserzeit legten alle Dynastien großen Nachdruck auf die Ergebenheit gegenüber dem Herrscher und der Nation und auf die kindliche Pietät gegenüber den Eltern. In meiner Kindheit jedoch, als die ›Beispiele kindlicher Pietät‹ verboten wurden, blieb von der Ergebenheit und Pietät nur noch die Ergebenheit – die Ergebenheit gegenüber der Kommunistischen Partei. Wenn die Partei heute nach Kräften die Kindesliebe propagiert, verleugnet sie ihre eigene Geschichte der Unterdrückung dieser traditionellen Tugend. Stattdessen macht sie individuelles Fehlverhalten für den moralischen Verfall der Gesellschaft verantwortlich und zieht einen lachhaften Paragraphen aus dem Hut, um ihre über sechzigjährige Regierungsverantwortung auszublenden.
Im März diesen Jahres wurde der Parteisekretär der Provinz Hunan, Zhou Qiang, nach vorheriger Absprache vom Nationalen Volkskongress zum Präsidenten des Obersten Volksgerichtshofs gewählt. Bei seinem Amtsantritt pries Zhou seinen Vorgänger Wang Shengjun für dessen »festen politischen Standpunkt«. Seine Worte bedurften keiner Erklärung: Die Kommunistische Partei gibt die Kontrolle über das Rechtswesen keinen Moment aus der Hand. Zhou nutzte die Gelegenheit, um zu bekunden, dass seine Treue zuallererst der Partei gilt, nicht den Prinzipien des Gesetzes.
So grotesk ein Paragraph auch ist, der den unregelmäßigen Besuch bei den eigenen Eltern für gesetzeswidrig erklärt, er hat trotzdem gewöhnliche Bürger dazu veranlasst, sich als »Gesetzesbrecher« wahrzunehmen. Der oberste Richter unseres Landes dagegen stellt politische Standfestigkeit über das Gesetz, und dabei fehlt ihm jedes Bewusstsein von Gesetzwidrigkeit.
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Yu Hua ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas. Seine Bücher haben sich in China Millionen Mal verkauft. Dass sein neues Buch ›China in zehn Wörtern‹ von den Chinesen verboten wurde, liegt weniger an seiner Kritik am heutigen China als an den Parallelen, die er zwischen der Kulturrevolution und dem neuen kapitalistischen System zieht. Wie zu Zeiten Mao Zedongs, sieht Yu auch heute Unmenschlichkeit und Gewalt. Der Großteil der chinesischen Gesellschaft profitiert nicht vom Wohlstand, sondern wird auf brutale Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die persönlichen Essays lassen aber auch Yus Verbundenheit zu seinem Heimatland erkennen. ›China in zehn Wörtern‹ wirft einen ganz anderen, einen neuen Blick auf ein Land, von dem noch viel zu erwarten ist.