Warum müssen Berufswechsel mit über 35 so schwierig sein?

Heute erschien ein Kommentar zu diesem Thema von mir im Hamburger Abendblatt, den ich hier erweitert veröffentliche:

 

Veränderungen jenseits der 35 werden einem sehr schwer gemacht. Meister-Bafög – eine reine Aufstiegsqualifizierung. Bafög mit über 30? Gibt es nur in Ausnahmen. Bildungskredite? Werden lediglich bis zum 36. Lebensjahr  ermöglicht. Jobcenter unterstützen keine Studien und verweisen auf die – durchaus nicht in allen Bereichen – niedrige Arbeitslosenzahl unter Akademikern. Es gibt außerdem kaum Töpfe für die (Kredit-)Finanzierung wirklich wichtiger Zertifizierungen, etwa in der IT. Es muss – und sollte! – ja nicht alles geschenkt sein. Wenn es aber leichter würde, sich Geld für teure Bildung zu leihen, wäre dies schon der wichtigste Schritt in eine schöne neue Arbeitswelt.

Schön, dass es trotz aller Schwierigkeiten immer wieder Menschen gibt, die mutige Sprünge wagen. Die Krankenschwester, die mit Mitte 30 aus den eigenen Ersparnissen ihr Medizinstudium finanzierte und schaffte. Die Archäologin, die mit 50 Physiotherapeutin wurde. Oder der Journalist, der sich entgegen aller „guten“ Ratschläge mit 40 noch für ein Informatikstudium einschrieb. Doch solche Schritte sind denen vorbehalten, die das Geld selbst oder durch Familienunterstützung aufbringen möchten. Die sich gegen die oft starken Widerstände und „Buhrufe“ der sicherheitsorientierten Umgebung und unserer Neid-Gesellschaft durchsetzen können. Und die leider mit ihren mutigen Schritten oft Schwierigkeiten haben im neuen Beruf "anzukommen". Während in den USA ein spätes Studium bewundert wird, herrscht bei uns immer noch das Denken in alten Karriere-Dimensionen vor. "Warum willst du mit 40 Architektur studieren, Du hast doch einen sicheren Job", ist eine sehr typische Aussage. Arbeitgeber sind nicht weniger charmant: "Da stimmt doch was nicht, wenn Sie als Akademikerin jetzt als Postbotin arbeiten wollen", bekam eine Leserin meines Abendblatt-Artikels zu hören, die wirklich gern in diesem "niedrigeren" Job arbeiten wollen. Denn bei beruflichen Wechseln geht es nicht nur um Aufstieg, sondern oft auch um einen vermeintlichen "Abstieg", der nicht selten  gewünscht wird. Wenn die akademische Tätigkeit dauernde 60-Stunden-Wochen und ständige Reisen bedeutet, kann eine Zukunft draußen auf dem gelben Fahrrad durchaus attraktiv sein.

Doch berufliche Wechsel werden kaum gefördert, sondern nur Weiter-Bildung. Doch wir brauchen staatliche Unterstützung für radikalere Berufswechsel, zum Beispiel einen Bildungskredit für  jedes Alter! Und zwar auch für die formal bereits gut Aus-Gebildeten und für Zweitstudien. Es muss egal sein, aus welchen persönlichen, gesundheitlichen oder arbeitsmarktpolitischen Gründen, ein Mensch mit 35, 40 oder 45 Jahren noch einmal ein Studium aufnimmt und einen ganz neuen Kurs einschlägt. Vielleicht, weil die Arbeitsbedingungen im erlernten Bereich zu schlecht geworden sind. Vielleicht auch nur, weil sich die Interessen verlagert haben. Vielleicht, weil man endlich für eine vernünftige Bezahlung arbeiten möchte und den Sinn des eigenen Engagements nicht mehr erkennen kann. Ganz oft auch im Gegenteil, weil zu einem späteren Zeitpunkt des Lebens etwas hinzu kommt, was am Anfang des Berufslebens noch wenig wichtig scheint: Sinn.

 

Dieser Beitrag bezieht sich auf eine meiner Thesen im Karrieremacherbuch.


Ein Kommentart zu “Warum müssen Berufswechsel mit über 35 so schwierig sein?

  1. Genau auf den Punkt getroffen:
    Lebenserfahrung steigert den Wunsch nach Sinn in der Arbeit.
    In der Tat tendiert unsere Leistungsgesellschaft immer noch dazu, dass Menschen eine geradlinige Karriere durchlaufen: Einmal Ingenieur – immer Ingenieur…
    Jobwechsel werden heute erwartet – auch jenseits der 45. Allerdings meistens nach der Devise: “Immer auf dem Teppich bleiben”. Anpassungsqualifizierung ja, Veränderung eher nein.
    Manchmal reicht ja auch das Ändern nur eines Aspektes im Koordinatensystem und der nächste Job macht glücklicher. So kann z.B. der Wechsel von großem zu kleinem Unternehmen in derselben Branche mit derselben Tätigkeit bereits Wunder wirken.
    Es gibt aber Menschen, die wollen oder müssen noch einmal komplett etwas Neues starten. Hier ist mit der klassischen Weiterbildung oft nichts erreichbar.
    Zuerst einmal ist dann auch zu klären: „Was will ich denn jetzt wirklich beruflich machen?“. Marktforschung in eigener Sache ist dann angesagt.
    Einen guten Weg dazu bietet die Methode Life/Work Planning. Hier kann ich mich systematisch mit dem befassen, was ich kann und was ich will. Aber noch viel wichtiger ist, Life/Work Planning bietet eine Strategie dann auch tatsächlich an mein Wunschziel zu kommen. Das beste: diese systematische Berufsplanung kann jetzt sogar durch die Arbeitsagenturen per Bildungsgutschein gefördert werden. Also mal was anderes, als die klassische Weiterbildung…
    Mehr unter: http://www.lifeworkplanning.de

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