Stechender Blick, krumme Nase: Bestimmt das Gesicht die Karriere?

Da habe ich mich  geärgert. Über das Buch, das ich neulich vom Bestsellertisch mitgenommen habe, „Das Geheimnis, Gesichter zu lesen“. Offenbar gehen immer mehr Unternehmen und Menschen längst widerlegten Annahmen auf den Leim gehen.  »Der Urcharakter eines Menschen steht von Geburt an fest«, behauptete ein Berater namens Klaus Eisenblätter gestern in Zeit Online.  „Psycho-Physiognomik nennt sich der groteske Versuch, vom Äußeren aufs Innere zu schließen“, kommentiert das  Autor Bernd Kramer mit einer Distanz, die man außerhalb von Zeit, Süddeutsche, FAZ und Spiegel nur noch selten findet. So kann sich Unsinn frei entfalten.

Halbseidendes Gedöns und innere Haltungen, deren Wurzel in frühkindlichen Prägungen stecken müssen, sind den Leuten nicht auszutreiben.  „Er hat einen stechenden Blick“, urteilte der Geschäftsführer eines mittelständischen Betriebs und stellte den jungen Absolventen als Projektleiter ein – obwohl die Stelle für mindestens 5 Berufsjahre ausgeschrieben war. Jemand mit stechendem Blick könne sich durchsetzen, war er überzeugt. Natürlich ist das Blödsinn. Für jeden Fall, der das belegt, fällt mir mindestens ein Gegenbeispiel ein. Aber inmitten der Informationsflut macht ein einfaches Kriterium wie “stechender Blick” einem das Leben doch ziemlich leicht. Halbseidenes Gedöns verbreitet sich schneller unter Denkfaulen.

Menschen mit großer krummer Nase seien keine Führungspersönlichkeiten, steht in dem oben erwähnten Buch, das ich lieber nicht verlinken möchte. Das ist nicht nachgewiesen. Und selbst wenn, wäre damit der Beleg immer noch nicht erbracht. Schließlich könnte der fehlende Managementerfolg ja auch auf andere Faktoren, etwa andere Talente, frühe Ausgrenzung im Kindesalter oder eine schauspielerische Laufbahn zurückzuführen sein (Gerard, ich grüße). Und was ist nach einer Nasen-OP? Hat man mit gerichtetem Riechorgan mehr Erfolg? Liegt das dann an der gestiegenen Attraktivität oder verhindert der Ur-Charakter, das sich was ändert? Könnte man gar den Charakter wegoperieren?

Keine Frage: Das Äußere wirkt und bewirkt. Aber deuten herabhängende Mundwinkel auf eine (angeboren) pessimistische Grundhaltung oder schlicht auf ein schlechtes Bindegewebe und nicht genug Geld für oder Interesse an Hyaluron-Unterspritzungen? Ist eine krumme Nase wahrhaft Indiz für einen führungsunfähigen Menschen? Ich denke an das Buch von Ralf Dobelli, das ich neulich gelesen habe: „Die Kunst des klaren Denkens. 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen.“ Da gibt es zum Beispiel den „Overconfidence Effekt. Warum Sie systematisch Ihr Wissen und Ihre Fähigkeiten überschätzen“.  Experten leiden demnach noch stärker am Selbstüberschätzungseffekt als Laien. Der Autor Jonah Lehrer zitiert einen Beleg, dass nur diejenigen Experten besser zutreffende Prognosen als Laien liefern, die sich selbst öfter mal revidieren und in Frage stellen. Physiognomie-Experten können sich nicht selbst revidieren, weil im Mittelpunkt dieser “Wissenschaft” nur eine einzige Frage steht.

Selbstkritiker verkaufen sich schlechter als Selbstüberschätzer. Insofern eignet sich eine selbstkritische Haltung schon mal perse nicht dazu, etwas Altes als Neu und Wissenschaftlich zu verkaufen. Im Zeit-Artikel steht, die Feedbacks von Teilnehmern in einem Unternehme,n, das den Physiognomie-Experten gebucht habe, seien begeistert ausgefallen.  Das kann ich mir vorstellen. Ein Trainer wird gut evaluiert, wenn er gut unterhalten konnte. Das fällt mit eingängigem Gedöns eben besonders leicht.

Wie Sie Gedöns als solchen erkennen?

  • Er wird als neu verkauft.
  • Es führt zu Schwarz-Weiß-Denken.
  • Belege sind nicht vorhanden, uralt oder halten keiner Prüfung stand.
  • Es gibt keinen praktischen Beweis.
  • Das Gedöns schadet Menschen und Gruppen von Menschen.

Und nun ab in die Quatsch-Box mit diesem Physiognomie-Unsinn.


3 Kommentare zu “Stechender Blick, krumme Nase: Bestimmt das Gesicht die Karriere?

  1. Ich bin absolut Ihrer Meinung! Gestern tauchte das Thema ja schon via Twitter auf. Ich war entsetzt. Irgendwie hatte ich mir eingebildet, dass das Thema Phrenologie oder Physiognomik wäre endlich aus der Welt….

  2. Danke Svenja. Voodoo halte ich auch für wissenschaftlicher, als nach Personalauswahl per Nasenfaktor. Mir gruselt es dabei.

    Vermessung von Gesichtern, Nasen und Ohren haben überdies in Deutschland eine sehr leidige Vergangenheit. Schon die Nationalsozialisten vermaßen während einer “wissenschaftlichen Vorführung” bei einem jüdischen Mann das typische arische Ohr, wie bereits bei Inge Deutschkron nachzulesen ist.

  3. Danke, liebe Frau Hofert, für diesen Artikel!

    „Halbseidenes Gedöns verbreitet sich schneller unter Denkfaulen“, hat mich sehr zum Lachen gebracht. Leider ist viel Wahres daran. Auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ändert daran leider nicht viel, außer dass der Umgang mit direkten Äußerungen gegenüber den Betroffenen zu einem Balanceakt wird.

    Äußerlichkeiten, die negative Assoziationen hervorrufen, docken meiner Erfahrung nach an schlechten Erinnerungen an: aus der Familie, der Schulzeit oder Kollegen, mit denen man schlechte Erfahrungen gesammelt hat. Aus diesem Grund einen hochqualifizierten Kandidat auszusortieren, kann sich ein klug und unternehmerisch denkender Entscheider nicht leisten! Grund zum Hinschauen und an sich selbst zu arbeiten.

    Meine Erfahrung hat zudem gezeigt, dass sich das wahrgenommene Äußere mit den Erlebnissen wandelt, die man mit einem Menschen hat.

    Zweifelsohne beeinflusst das Äußere unsere Wirkung auf andere. Daraus Charaktereigenschaften abzuleiten, halte ich für Wunschdenken!

    Herzliche Grüße
    Ulrike Juli Scheld

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