Warum Schwächen wunderbare Entwicklungshelfer sind

Alle reden davon, dass man Stärken stärken solle – und Schwächen am besten ignorieren. Vor einigen Tagen habe ich ins Feld, äh in den Blog geworfen, dass ich das nicht so sehe. Daraufhin bekam ich eine Mail von einem geschätzten Kollegen, der mich nach einer Begründung fragte. Ich antworte mit diesem Beitrag sozusagen exklusiv auf seine Frage, warum ich denke, dass die gängige Formel „Stärken stärken“ nicht ganz richtig ist.  Das Thema ist, wie ich finde, von allgemeinem Interesse und verdient ein paar Worte mehr. Vielleicht auch, weil es nicht meine Stärke ist, kurze Antworten zu geben.

Zunächst beginne ich mit der Frage, was denn eigentlich unter Stärken zu verstehen ist. Sind es persönliche oder fachliche? Gut: Sagen wir, es sind persönliche. Das lege ich jetzt einfach mal so per order de Mufti fest. Aber wo ist dann bitte die Grenze von der Stärke zum Können und zum Talent?  Die Grenzen entlang solch schwammiger Begriffe verlaufen ohne Mauer, fließend.

Eine Stärke ist zum Beispiel die Fähigkeit zum Improvisieren, auch vor großen Gruppen. Aber: Ist das nicht auch Können, vielleicht sogar Talent? Kaum zu sagen. Lassen Sie uns deshalb einfach darauf einigen, dass Stärken persönliche Fähigkeiten und die Voraussetzung für Können sind - und Können die Vorstufe von Talent ist? Andernfalls platschen wir schon bei der Definition in den Matsch fehlender Begriffsschärfe.

Neuere Forschungen zeigen, dass Talent nicht angeboren ist. Es ist vielmehr eine Frage des Übens.  Jeder, der Kinder hat, wird dies bestätigen. Je mehr und je früher ich mit ihnen übe, desto besser werden sie. Je klarer ich mich mit ihnen auf ein Themengebiet fokussiere, desto eher werden sie dort Spezialisten werden (es sei denn es handelt sich um kleine Revolutionäre, was vorkommt). Die Zahl der Musikvirtuosen ist auch deshalb in Asien explodiert, weil lauter Mini-Geiger und Dreikäsehoch-Pianisten früh gefördert wurden. Der Pädagoge Laszlo Polgar trainierte seine drei Töchter systematisch im Schach, um damit zu belegen, dass Talent eben nicht angeboren ist. Alle wurden bekannte Schachspielerinnen. Seine These, die er mit diesem familiären Experiment belegt sah: Alles Übung.

Dafür spricht auch die 10.000 Stunden-Regel. Sie ist gleichzeitig aber auch ein Beweis dafür, dass es wichtig ist, sich auf wesentliche Stärken zu konzentrieren, wenn man in etwas überdurchschnittlich gut sein will. Was aber trotzdem nicht heißt, dass man Schwächen vergessen sollte. Nehmen wir den virtuosen Cellisten, der leider den schauspielerischen Auftritt gar nicht beherrscht. Das ist seine Schwäche, vermutlich weil er in dem Gezappel vor Publikum keinen Sinn sieht. Will er Erfolg, muss er trotzdem an seiner Schwäche arbeiten. Das Beispiel zeigt: Entscheidend ist die Motivation etwas zu verändern, für die Arbeit an Stärken genauso wie für das Schwächen-Tuning.

Es zeigt sich auch immer wieder, dass die Selbsteinschätzung erhebliche Folgen für die Wahrnehmung eigener Stärken hat. Mädchen, die sich ihrer Weiblichkeit bewusst sind, erzielen unter diesem Vorurteil in Mathe nachweislich schlechtere Ergebnisse. Selbsteinschätzung wiederum speist sich zu einem großen Teil aus Feedback, Lob oder Kritik oder etwas diffusem dazwischen, auch Vorurteilen sowie Null-Feedback.

Vorurteile wiederum haben eine ganz erhebliche Wirkung auf die Wahrnehmung von Stärken.  Weil ich früh gehört habe, dass Mädchen nicht gut in Mathe sind, habe ich  vor diesem Fach mehr Angst als Jungs. Weil dies die Erfahrung provoziert, nicht Rechnen zu können, steigt die Furcht vorm Unterricht. Diese hält mich schließlich ab vom Üben. Und schon ist die da, die Schwäche, und mit ihr ein Kreislauf.

Ein weiterer Aspekt, der immer wieder vergessen wird: Bei jeder Beurteilung von Stärken, Können und Talenten handelt es sich um Momentaufnahmen! Vielleicht war ein Mensch vor zwei Jahren nicht in der Lage ein Gedicht zu schreiben oder einen Handstand zu machen: Inzwischen ist er das – durch Üben. Vielleicht war jemand vor zehn Jahren unfähig, frei auf der Bühne zu sprechen – und jetzt läuft es wie geschmiert. Sogar die Ergebnisse von Intelligenztests können durch  Üben systematisch verbessert werden, auch „schwache“ kognitive Teilbereiche lassen sich üben. Probieren Sie einmal aus, das hebräische Alphabet von rechts zu lesen. Sie spüren geradezu, wie sich die Verdrahtungen im Gehirn verändern. Das tut fast weh. Am Anfang ist das Anstrengung… irgendwann geht es leicht.

Und nun zum Punkt: Wenn wir beschließen, uns auf Stärken zu konzentrieren, dann dämmen wir damit auch persönliche Entwicklungsmöglichkeiten ein.  Wir beschneiden und verhindern Überraschungen. Ich konzentriere mich seit einiger Zeit auf das, was ich nicht kann. Das strengt an, aber mit zunehmender Übung wird es leichter.  Ich könnte es mir leicht machen und vermeintliche Stärken stärken.  Aber das Arbeiten an Schwächen erweitert viel mehr das Verhaltensrepertoire.

So eröffnen sich ganz neue Chancen: Kennen Sie nicht auch jemand, der immer sagt „das kann ich nicht.“ Sie könnten an der Stelle aufgeben und sagen, „so ist das“. Oder  Sie arbeiten daran, die Schwäche zur Stärke zu machen.

Auch Firmen sollten hier umdenken. Noch immer scheinen Ergebnisse von Tests oder ACs in Stein gemeißelt. Doch jemand mag 2007 wegen seiner schlechten Präsentation durch das Raster der Bewerberauswahl gefallen sein – und 2011 ist er ein rhetorisches Juwel. Weil er an Schwächen gearbeitet hat  – und geübt. Blöd nur, dass manche Unternehmen der Sitte folgen, Sperrungen bei nicht bestandenem AC zu verhängen…


9 Kommentare zu “Warum Schwächen wunderbare Entwicklungshelfer sind

  1. Liebe Frau Hofert,
    was für ein wunderbarer Artikel.
    Meiner Meinung nach ist es eine Frage der Balance. Bei manchen Schwächen würde man sich wohl die Zähne ausbeißen und nur Zeit verlieren, bei anderen lohnt sich das Üben. Hauptsache, man verliert vor lauter Überei an den Schwächen die Stärken nicht aus dem Blickfeld, die brauchen wir ja noch…
    Übrigens, mit einem Augenzwinkern: wir Cellisten sind meistens locker, aufgeschlossen und stehen auch plaudernd gerne auf der Bühne. Wollen wir die Sache mit dem schauspielerischen Auftritt nicht auf einen anderen Instrumentalisten schieben? ;-) ))
    Beste Grüße!
    Katja Zakotnik
    http://www.katja.zakotnik.de

  2. Liebe Frau Zakotnik,
    danke für das Feedback – hier gegeben in Form des Lobs (wir wissen: Lob, Kritik – Herr Zorem? – und Null-Feedback als Foltermethode Nr. 1 für die Leistungsorientierten dieser Welt). “Du spieltest Cello”, mein Sohn auch, ich nicht – aber wenn ich darüber nachdenke, so haben Sie wohl recht: Der bescheidene schauspielerische Ausdruck liegt eher den anderen Instrumentalisten inne ;-) LG Svenja Hofert

  3. Schöner Beitrag. Dann bin ich ja doch nicht so verrückt, wenn ich immer das lernen will, was ich nicht kann ;-) . Zudem schließe ich aus der Argumentation, dass sich das Arbeiten an Schwächen auch auf die Stärken auswirkt (neue Verschaltungen im Hirn und so).

  4. Vielleicht als Ergänzung: Die aktuelle HBR liefert auch Anregungen zu diesem Thema. Zenger, Folkman and Edinger: Making Yourself Indispensable: “If you use nonlinear development – similar to an athlet’s cross-training – you can achieve exponential results. Your technical expertise will become more powerful if, for instance, you build on your communication skills, enabling you to explain technical problems both more broadly and more effectively.”

  5. Hallo Herr Brieger, vielen Dank, den Beitrag werde ich mir gleich anschauen. Aber die Parallele zum Sport und Crosstraining hört sich spannend an. Liebe Grüße Svenja Hofert

  6. Pingback: Business Plan oder nicht ist keine Frage: Warum es am Ende doch nur um den Menschen geht | Karriereblog von Svenja Hofert - Die Expertin für neue Karrieren

  7. Pingback: Der Wurmfortsatz des Chefs: die neue Kollegin (Mia 2) | Karriereblog von Svenja Hofert - Die Expertin für neue Karrieren

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