Ich freue mich sehr, Sylvia Löhken für ein Interview gewonnen zu haben. Sie ist Kommunikationsberaterin und Autorin des Buchs “Leise Menschen – starke Wirkung”. Das Interview baut auf meinem Artikel vom Samstag auf.
Was sind leise Menschen? Sprechen die weniger als andere?
Ich mag die Bezeichnung “leise Menschen”, weil für so viele der Begriff “introvertiert” negativ besetzt ist – zu Unrecht übrigens! “Leise” bedeutet also “nach innen gewandt”, während extrovertierte Menschen nach außen gewandt sind. Das heißt: Leise Intros zeigen messbar mehr Aktivität im Kopf, während Extros mehr äußere Eindrücke und Rückkopplungen brauchen. Wie viel Sprache sie jeweils dabei benutzen, ist eine ganz andere Frage – ich bin z.B. eine introvertierte Viel- und Gernrednerin…
Warum wird Extraversion in der westlichen Welt – anders als etwa in Asien – als Idealzustand gesehen? Ich erinnere mich an ein „Sie sind doch sicher extrovertiert“ bei einem Auftraggeber… Gehen nicht auch viele Vorurteile mit der Kategorisierung einher?
Ah, noch eine lebhafte Intro Es stimmt, in der westlichen Welt verbinden viele die Eigenschaft “extrovertiert” mit durchsetzungsfähig, selbstbewusst und kommunikationsstark. Noch stärker als in deutschsprachigen Ländern gilt das für die USA. Nur, wer ständig auf sich aufmerksam macht, ist angeblich erfolgreich. Angeblich – denn das stimmt so nicht. Extros fallen lediglich mehr auf. Doch viele der erfolgreichsten Politikerinnen, Geschäftsleute und Stars sind Intros, nutzen also leise Stärken. Barack Obama und Angela Merkel, Bill Gates und Avril Lavigne, Hillary Clinton und Günther Jauch: Das sind lauter leise Erfolgsmenschen! Was sie auszeichnet ist, dass sie ihre eigenen Stärken nutzen und nicht auf die “Laut ist besser!”-Annahme hereinfallen. Das ist eine wichtige Erkenntnis: Denn 30-50 Prozent der Gesamtbevölkerung sind introvertiert.
Klar zu sein scheint, dass Intros weniger gern im Team arbeiten, sondern an eigenen Lösungen arbeiten. Unsere Kultur berücksichtigt das nicht. Bei meinem Sohn in der Klasse sitzen jetzt alle an Tischen und müssen gemeinsam arbeiten. Geht da nicht auch die Chance verloren, dass sich Talente allein entwickeln?
Die Erkenntnis, dass beim Arbeiten allein in vielen Bereichen mehr herauskommt als in der Gruppe, gilt auch für Erwachsene. Der US-Wissenschaftler Anders Ericsson hat das in verschiedenen Studien mit hoch leistungsfähigen Menschen nachweisen können. Meetings, Brainstormings und Gruppenarbeiten in der Schule kommen zwar dem extrovertierten Bedürfnis nach Austausch entgegen, führen aber selten zu exzellenten Ergebnissen. Umso wichtiger ist es, dass wir den leisen Menschen in unserer Umgebung das ermöglichen, was sie besonders gern tun: in Ruhe und längere Zeit allein an einer Sache arbeiten, die gern auch komplexer sein darf. Ohne diese leise Stärke von z.B. Mark Zuckerberg und Albert Einstein gäbe es weder Facebook noch die Relativitätstheorie.
In Ihrem Buch schreiben Sie von einem Kontinuum zwischen Extraversion und Introversion. Liegt die Wahrheit nicht oft mittendrin? Extrovertierte wie Madonna entdecken die (introvertierte) Kabbala und Introvertierte im Alter das Leben in einer Wohngemeinsschaft
Die Neigung zu Introversion und Extroversion ist angeboren – übrigens auch die Ausprägung. Die meisten Menschen sind eher gemäßigt; der weltabgewandte Einsiedler und die sehr weltzugewandte Hella von Sinnen sind relativ selten. Und es stimmt, viele extrovertierte Menschen gehen mit zunehmendem Alter mehr “nach innen” und beschäftigen sich mit Philosophie, spirituellen Richtungen oder der Frage nach der persönlichen Sinnfindung. Auch die Kultur, in der wir leben, bestimmt den Grad, in dem introvertierte Verhaltensweisen gelebt werden. In den USA bringen manche besorgten Eltern ihre leisen Sprösslinge zum Psychologen, damit der sie “fixt”, während ein leiser Mensch in Japan respektiert wird.
Und nicht zuletzt entscheiden wir auch selbst, welche Seiten wir leben wollen. Obama war einst ein richtig mieser Redner – und weil er es wichtig fand, seinen politischen Weg zu gehen, lernte er Stück für Stück, öffentlich zu reden: mit Erfolg, wie wir gesehen haben.Introversion und Extroversion prägen uns zwar, doch sie legen uns nicht fest.
In unserer Kultur sind leise Menschen selten in Führungspositionen. Warum eigentlich? Es gibt doch Belege, dass Introvertierte gerade gut ausgebildete Menschen effektiver führen.
Auch hier gilt: Es gibt reichlich Menschen in Führungspositionen – sie fallen nur weniger auf! Sogar in den extrovertierten USA sind 40 Prozent aller Geschäftsführer introvertiert. Einige Beispiele für erfolgreiche Intros habe ich ja schon genannt. Die Liste ist seeeehr lang… Larry Page von Google, Julian Assange, Warren Buffet, Mitt Romney…
Leise Führungskräfte haben, wie der Psychologe Adam Grant herausgefunden hat, in unserer komplizierten Welt einen wichtigen Vorteil: Sie ermutigen bei ihren Angestellten Unabhängigkeit und persönliche Entscheidungsfähigkeit. Extrovertierte Führungskräfte bevorzugen öfter Angestellte, die Anweisungen entgegennehmen und ausführen. Solche Menschen sind aber in schwierigen Situationen oft überfordert – und die Extro-Führungskraft kann ja nicht alles selbst machen, wenn es mal brennt!
Charisma wird oft mit Extroversion gleichgesetzt. Wie sehen Sie das?
Extros können beeindruckend und mitreißend wirken. Sie sind mit ihrer biologischen Ausstattung besonders begeisterungsfähig und lieben es, Aufmerksamkeit zu bekommen. Viele sehr starke Leitfiguren sind extrovertiert – nehmen Sie Tony Robbins oder Steve Jobs.
Doch es gibt auch leise Methoden, andere Menschen nachhaltig zu prägen und zu beeindrucken.
Kann ich also auch als Intro Charisma entwickeln?
Oh ja! Ich glaube, der Begriff Intensität trifft diese leise Wirkungskraft ganz gut. Intensität zeichnet so unterschiedliche introvertierte Gallionsfiguren wie Loriot, Gandhi und Mutter Theresa aus.
Können leise Menschen auch Unternehmen gründen? Oder sind Sie zu wenig bereit, nach außen zu gehen und zu verkaufen?
Siehe oben: Es gibt uns schon längst überall Dabei haben wir Leisen einen großen Vorteil: Dort, wo Extros stimulations- und belohnungsorientiert sind, ist uns die Sicherheit besonders wichtig. Im Finanzsektor, in der Lebensmittelbranche, in der Medizin oder in der Verkehrsplanung setze ich auf viele, ganz viele einflussreiche Intro-Führungskräfte!
Haben Sie Akquisetipps für Intros?
Suchen Sie einzelne Ansprechpartner. Bauen Sie tragfähige Beziehungen auf. Sie punkten mit Vertrauen und der Fähigkeit, sich auf die Bedürfnisse Ihres Gegenübers einzustellen. Und: Bleiben Sie leise. Das macht Sie echt (und weniger anstrengend als so manches Turbo-Heißluftgebläse . Die Hälfte Ihrer Kunden ist selbst leise und weiß all dies zu schätzen. Und die Extro-Hälfte weiß gutes Zuhören und verlässliche Leistung zu schätzen…
Welche Bewerbungstipps können Sie Introvertierten geben?
- Schauen Sie genau hin: Ist diese Arbeitsumgebung für Sie “artgerecht”?
- Nehmen Sie sich vor dem Interview Zeit, Ihre leisen Stärken herauszufinden. Welche Probleme und Anliegen Ihres möglichen Arbeitgebers könnten Sie mit diesen Stärken besonders gut angehen? Schreiben Sie Ihre Antworten auf. Nutzen Sie sie im Interview.
- Punkten Sie mit genauem Hinhören und dem Aufbau von Vertrauen.
Sind Sie ein leiser Mensch? Hier finden Sie unter anderem auch einen Test.
Interessantes Interview zu einem Thema, dass langsam immer mehr Aufmerksamkeit gewinnt. Leider konnte ich das Buch von Frau Löhken noch nicht lesen.
Vor zwei Wochen gab es zum Thema Introversion einen Leitartikel in der Times: “The Power of Shyness” (der korrekt eigentlich “The Power of Introverts” hätte heißen müssen, aber offensichtlich wurde das Wort Schüchternheit als zugkräftiger erachtet). Darim ging es ebenfalls um die Stärken von Introvertierten, u.a. auch am Beispiel von Obama und Gates. Ich habe einen Blogeintrag über den Artikel geschrieben und nehme mir mal die Freiheit, darauf zu verweisen: http://www.typentest.de/blog/2012/02/die-macht-der-schuchternheit-von-introvertierten/
Abgesehen davon lese ich gerne noch mehr zu diesem Thema!
danke für den Kommentar und den Linktipp, Herr Lober. Schüchternheit har NICHTS mit Introvertiertheit zu tun, auch Extros können schüchtern sein. Das hat der Redakteur wohl nicht richtig recherchiert. LG SH
Interessanterweise hat der Redakteur sogar richtig recherchiert, denn im Artikel wird dieser Unterschied korrekt erklärt. Trotzdem wurde “Shyness” fürs Cover gewählt…
Ja, um auf Ihre Frage ma Schluss des Artikels zu antworten, ich bin eine Intro. Und genau so wie Frau Löhken rede ich gern und bin gern mit anderen Menschen zusammen. Allerdings nur dann, wenn es mir danach ist
Vielen Dank für das Interview und besonders die letzten beiden Punkte: Akquisition und Bewerbungstipps. Mein Thema ist Selbstmarketing und besonders spannend für mich ist das leise Selbstmarketing – ganz ohne “Turbo-Heißluftgebläse”.
Herzliche Grüße
Natalie Schnack
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Tolles Interview, vielen Dank dafür. Hat mich inspiriert, bei der Autorin selbst mal nachzufragen. Mein Interview mit Frau Löhken erscheint morgen bei Geist und Gegenwart.