Es muss 2006 gewesen sein. Ich kam erstmals auf die Idee, Dinge im Internet zu verschenken. Zum Beispiel den Karriereanker zur Berufsorientierung, den ich mir selbst aus Büchern des grandiosen Ed Schein zusammengebastelt hatte.
„Das kannst du nicht tun“, sagte ein statusbewusster und im Marketing erfahrener Psychotherapie-Kollege. „Das ist doch dein Herrschaftswissen.“ Ich empfand das nicht so. Ich will gar kein Herrschaftswissen. Es hat mich überrascht als die Teilnehmerin eines Seminars zu mir sagte, sie habe selten jemand erlebt, der so bereitwillig und offen andere an seinen Erfahrungen teilhaben lässt.
Herrschaftswissen? Es ist richtig, dass ich viele Jahre Erfahrung in der Anwendung solcher und anderer Tools habe. Aber dass es diese gibt, kann jeder herausfinden, der sich Bücher kauft und der im Internet surfen kann. Auf Wikipedia lässt sich alles nachlesen. Und dann gibt es noch zahlreiche andere Stellen im Netz. Man weiß zwar nicht immer, was und wer dahinter steckt und wie seriös die Sachen sind…. Aber verfügbar ist alles. Zu jeder These gibt es eine Studie. Zu jedem Problem eine Lösung. Zu jeder Frage ein (kostenloses) Muster.
2006. Ich hörte auf meinen Bekannten und nahm alle Sachen aus dem Netz. Aber es juckte mir schon kurze Zeit später wieder in den Fingern. Ich sah die Probleme des Buchmarkts aufgrund des Internets – und für mich konnte es nur eine Konsequenz geben: „Da Wissen ohnehin überall verfügbar ist, kannst Du nur gewinnen, wenn Du einer der ersten bist, die in deiner Branche verschenken.“ Ratgeber des alten Typs, mit Mustern und vielen Tipps, stehen kurz vorm Exodus, sie werden derzeit noch verkauft, aber immer weniger. Warum sollte auch jemand dafür bzahlen, wenn er das Internet hat? Und E-Books, die nichts oder 99 Cent kosten?
Meinen Kunden, die zwei bis vier Mal im Jahr einen Infobrief von mir erhalten, wenn sie es wollen, schenkte ich all meine unzähligen Muster schon von Anfang an. Seit einem halben Jahr habe ich für Kunden hier im Blog einen geschützten Bereich mit den Highlights. Ich bin eine leidenschaftliche Entwicklerin, liebe Excel-Tabellen, Infografiken und einfache, systematische Lösungen, die am besten auch optisch gut aufbereitet sind: Im Laufe der Zeit habe ich einen Fundus entwickelt, mehr als 1.000 Tools, Muster, Checklisten, von meinen unzähligen Texten gar nicht zu sprechen.
2007 eröffnete ich meinen Blog und begann weiter Wissen zu verschenken. All das, was ich auch in einem Buch hätte aufbereiten können oder mir für die Beratung vorbehalten. Je mehr Erfahrung ich gewann, desto fundierter, schneller, individueller und lösungsorientierter wurde auch Beratung. Natürlich gebe ich auch mal Feedback zu einem Foto – aber der Kern meiner Beratung ist nicht mehr standardisierbar. Ich bin im 4. Sektor angekommen.
Ich muss niemand mehr dazu beraten, ob er Freiberufler oder Gewerbetreibender ist, ob er ein Foto rechts oder links aufkleben oder ein pinkes Shirt anziehen soll, es sei denn es ist ein kurzer Tipp – bezahlt wird deswegen nicht. Das alles sind Ratschläge 1.0 – der von meiner Zunft teilweise – etwa in Videos – immer noch gegeben werden. Dass auch Journalisten 1.0-Rat immer noch nachfragen, sehe ich als Kennzeichen fundamentalen Wandels. Oder anders ausgedrückt: Wenn die Welt sich dreht, brauchen wir noch mehr Sicherheit über die richtigen Entscheidungen von den richtigen Leuten. Ergo: Zitierfähigen Rat kann nicht mehr jeder Hinz und Franz geben.
Kerstin Hoffmann, die ich in den nächsten Tagen hier als Interviewpartnerin zum Prinzip Kostenlos begrüßen werde, sagte mir: Wissen sei zwar überall verfügbar, aber wer kann entscheiden, ob es auch gut und richtig ist? Dafür brauchen wir Experten, die einen Namen haben. Diese wählen für ihre Kunden aus und beurteilen Informationen. Das ist eine wichtige und unterschätzte Funktion. Die Folge ist das, was ich einmal die Expertisierung der Gesellschaft genannt habe. Das hat auch erhebliche Auswirkungen auf das Personenmarketing. Bestimmten Personen trauen wir eine Bewertungskompetenz zu. Dass diese Personen etwas bewerten können, hat nichts mehr mit Ausbildung, Scheinen etc. zu tun – es ist einzig und allein ihr Track Record und Social Graph im Internet.
Ist es Ihnen auch schon aufgefallen? Die normale Arbeitsbevölkerung wird immer mehr nach Scheinen und Zertifikaten bewertet. Die Expertenmarke im Netz nach Followern, Feedbacks, Blogeinträgen.
Da schließt sich der logische Kreis zum Verschenken. Meine Facebook-Fanseite habe ich 2010 eröffnet. Inzwischen gibt es weitere Seiten. Auf „Am besten wirst du Arzt“ verschenke ich die Praxisseiten aus dem Buch. „Wie kannst du nur!“ Höre ich auch jetzt. Ich sage es Ihnen: Das Buch wird sich dadurch auf keinen Fall schlechter, langfristig sogar besser verkaufen. Und wer nur den Praxisteil nutzt, hätte auch das Buch nicht gekauft.
Manchmal weiß auch ich nicht so genau, wo die Grenzen des Schenkens sind. So habe ich neulich einen Vortrag von Uwe Donner aufzeichnen lassen im Grunde mit dem festen Ziel, dieses kostenlos bei Youtube einzustellen. Doch ist das nicht zu weitgehend, wenn es um einen Vortrag geht, denn ich mir teurer bezahlen lasse? Ein Vortrag, der ziemlich polarisiert, also nicht mehr 1.0 ist (reine Wissensvermittlung). Mach eine DVD draus, sagte mir Uwe. Er weiß gar nicht, was das in mir ausgelöst hat
Es hat mir, naja fast das Herz gebrochen, als ich meiner letzten Auftraggeberin von der Wirtschaftsförderung des Landkreis Harburg sagen musste, dass ich nicht möchte, dass die Folien ins Netz gestellt werden. Meine Schenk-Grenzen sind dort, wo ich etwas verkaufen möchte: meine Auftritte als Rednerin.
Freut euch auf das Interview mit PR-Doktor Kerstin Hoffmann zu ihrem Buch, das ich jedem warm ans Herz legen möchte, der mit dem Schenken hadert oder die Grenzen für sich selbst stecken möchte.
Sind Sie reif zum Schenken? Ich habe für Sie eine Grafik erstellt. Die schenk ich Ihnen.
Habt schöne Pfingsten.
Meine Erfahrung ist, dass sich viele so genannte Experten in den Markt hinein verkaufen müssen und deshalb kostenlose Arbeitsproben und Referenzen liefern.
Hm, wenn man keine Basis hat funktioniert auch das Kostenlose nicht. Überlegen Sie mal: Um in größerem Stil verschenken zu können, brauchen Sie eine Plattform. Die schafft man nicht von heute auf morgen – oder nur mit sehr viel Marketingpower, z.B. für ein E-Book. Ob dies dann aber wirklich Kunden zufüttert bewzweifle ich – zummal so gut wie kein Experte von Privatkunden leben kann und will. LG SH
Liebe Frau Hofert,
danke für diesen tollen Artikel – ich verschenke auch auf meiner Homepage, aber wohl eher noch in den Anfängen im Vergleich zu Ihnen. Sie haben dem ganzen nochmal einen wunderbaren therotischen Hintergrund gegeben. Außerdem hat “Verschenken” einen unschätzbaren Wert – nämlich, dass man sich selbst auch noch ganz gut dabei fühlt und die Freude dabei manchmal noch größer ist, als wenn man sein “Expertenwissen” als Coach verkauft.
Pingback: Verschenken macht Spaß: Interview mit Kerstin Hoffmann | Online-Magazin für Karriere & Zukunft von Svenja Hofert