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Giovannis Zimmer

Von James Baldwin


Jonas Roos schrieb uns am 09.12.2020
Thema: James Baldwin: Giovannis Zimmer

Es ist der vielleicht bekannteste Roman des amerikanischen Schriftstellers James Baldwin, der dieses Jahr in einer Neuübersetzung von Miriam Mandelkow erschien. Der Roman wurde 1956 veröffentlicht und war damals aufgrund der homosexuellen Liebesgeschichte ein Affront. Dieser Aspekt ist heutzutage weder skandalös noch an sich interessant. Obgleich das Thema der Unmöglichkeit von Liebe in einer intoleranten Welt immer noch aktuell ist, erscheint mir ein anderer Aspekt von zeitloser Gültigkeit zu sein: Der Roman zeigt zwei unterschiedliche Positionen zur Welt auf und lässt diese in Form einer Liebesbeziehung aufeinanderprallen. Es wäre zu einfach, zu behaupten, eine der beiden Positionen würde dabei favorisiert werden. Ich möchte diese These innerhalb dieser Rezension erläutern. Ich werde dabei biographische Details und Äußerungen Baldwins in Essays oder Interviews ausblenden und mich auf die Textebene konzentrieren.
David, ein junger Amerikaner, der seit zwei Jahren in Paris lebt, trifft in einer Bar auf Giovanni, "hochmütig, dunkel und löwenahft"(36), der dort arbeitet. Nach einem elektrisierenden Flirt verbringen die beiden eine Nacht zusammen und es entwickelt sich eine intensive und letztlich eine für Giovanni tödliche Beziehung.
Der Roman ist zugleich Liebesgeschichte und Milieustudie. Jacques und Guillaume sind wichtige Charaktere in Zusammenhang mit letzterem. Beide sind ältere, wohlhabenden, weiße, homosexuelle Männer. Guillaume ist der Besitzer der Bar, in der Giovanni arbeitet. Er wird am Ende von Giovanni umgebracht. Jacques ist Geschäftsmann und nutzt seine finanziellen Möglichkeiten, um mit jüngeren Männern zu schlafen. Insbesondere Jacques wird ambivalent geschildert. Einerseits ist er arrogant, hinterhältig und übergriffig. Doch er hat den Kern Davids Charakter, dessen Schwächen und Ängste, erfasst. Er erklärt ihm, dass er die Liebe zu Giovanni zulassen muss, ohne Angst davor zu haben. Doch David kann das nicht und die Frage ist, warum?
Die Geschichte wird vom Ich-Erzähler David anhand von Rückblenden erzählt. Einzelne Rückblenden reichen bis in die Kindheits- und Jugenderinnerungen von David hinein. Seine Mutter, die früh starb, sein Vater und seine Tante, die sich betrunken stritten und die erste erotischen Erfahrung mit einem Jungen, die mit Scham verknüpft ist. Diese Rückblenden dienen der Davids Psychologisierung, doch es wäre zu simpel, hieraus Kausalitäten abzuleiten: Die Liebesbeziehung zu Giovanni scheitert aufgrund Davids Angst vor Intimität, dessen Wurzeln in seiner Kindheit und Jugend zu finden sind. Vielmehr – und hier liegt das Allegorische dieses Romans – verkörpert David eine bestimmte Haltung zur Welt und zur Liebe. Diese Haltung ist von Distanz geprägt: „Du willst sauber sein. Du glaubst, du bist hier in Seife gehüllt hergekommen, und du glaubst du kommst hier in Seife gehüllt raus – und in der Zwischenzeit willst du nicht stinken, nicht mal fünf Minuten lang“ (161), wirft ihm Giovanni bei ihrer letzten Begegnung vor und er hat recht damit. Es geht um etwas grundlegenderes als das fehlende Eingeständnis der eigenen Homosexualität. Es geht um Distanz zur Welt, die David braucht, um Leben zu können und an der Giovanni zugrunde geht. Es ist unmöglich, sauber zu bleiben. Der letzte Satz des Romans zeigt dies noch einmal, wenn David Giovannis Brief an ihn in kleine Schnipsel zerreißt: „Doch als ich mich umdrehe und auf die Wartenden zugehe, bläst der Wind einige auf mich zurück.“
Zweifelsohne wird Davids Haltung im Roman problematisiert, aber wie verhält sich mit Davids Liebhaber und zugleich Antipoden Giovanni? Wir erfahren, dass Giovanni in Italien mit einer Frau zusammen war. Sie hatten eine Tochter. Als ihr zweites Kind tot geboren wurde, verließ Giovanni Frau und Kind und ging nach Frankreich. Zusammen mit seinem Kind ist er damals wohl zum ersten Mal gestorben. Die Liebe zu David ist für ihn der letzte Rettungsring in einem Meer an Verzweiflung und als solcher wird er benutzt: „Wenn du nicht hierwärst […] wäre dies das Ende von Giovanni.“ Und etwas später sagt er zu David: „Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn du mich verlässt […] ich glaube nicht, dass ich leben könnte, wenn ich wieder allein sein muss“ (125).  In diesem Worten die Liebeserklärung und Drohung zugleich sind, liegt etwas unangenehm übergriffiges. Er lastet David eine Verantwortung für sein Schicksal auf, die David nicht schultern kann.
Es geht dabei nicht um Gegenüberstellung von Rationalität und Emotionalität. Giovanni ist nicht der leidenschaftlich kopflose Liebende und David kein kühler Zweifler. Wahrscheinlich waren sie verloren, lange bevor sie sich kennenlernten, weshalb ihre Liebe schicksalhaft scheitert. Ein bisschen trifft auf ihre Liebe das zu, was Hannah Arendt knapp 10 Jahre später in Vita activa über das moderne Individuum schreibt:„In der Rebellion des Herzens gegen die eigene gesellschaftliche Existenz wurde das moderne Individuum geboren, mit seinen dauernd wechselnden Stimmungen und Launen, in der radikalen Subjektivität seines Gefühlslebens, verstrickt in endlose innere Konfliktsituationen, die alle aus der doppelten Unfähigkeit stammen, sich in der Gesellschaft zuhause zu fühle und außerhalb der Gesellschaft zu leben“ (Arendt 1967: 49). David kann sich in der Liebe, das heißt in Giovannis Zimmer nicht zuhause fühlen, Giovanni kann ohne Davids Liebe nicht leben. Der Raum steht für das Intime, das vor der Außenwelt geschützt wird. Es ist die Liebe, an der Giovanni arbeitet, weil er sie nie wieder verlassen kann und die David fürchtet, weil sie distanzlos und allumfassend ist und wenn Giovanni David sagt: „Manchmal erinnerst du mich an einen Mann, der überlegt, sich selbst ins Gefängnis zu bringen, weil er Angst hat, vom Auto überfahren zu werden“ (133). So trifft das ganz gewiss auf beide zu, doch sie werden wohl keine Zellengenossen sein.


Arendt, Hannah (1967): Vita activa. Piper Verlag GmbH, München.  
Baldwin, James (1956): Giovannis Zimmer. Neuübersetzung 2020. dtv Verlagsgesellschaft, München.


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