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![]() GOWELI I
Thinner lenkte den Wagen auf die Beschleunigungsspur der Autobahn. Ron hätte jede Wette verloren. Entgegen all seinen Erwartungen passte die Melone hinter das Lenkrad des Opel Corsa, ein Modell aus dem Jahr 1994. Damals gab es Extras wie Servolenkung, Airbag, Sitzheizung nur gegen einen enormen Aufpreis, der den Wert des Wagens beinahe verdoppelt hätte. Thinner schien sich nicht für Autos zu interessieren. Anderenfalls hätte er sein Fahrzeug besser gepflegt, zumindest die Staubschicht vom Lack entfernt, damit die Farbe zu erkennen war. Von einer Wachspolitur hatte dieser Ignorant offensichtlich noch nie etwas gehört. ![]() Turin, Via Sàntena Ron hatte jegliches Gefühl in den Beinen verloren. Seine Lunge lechzte nach Frischluft. Jeder einzelne Wirbel schmerzte, als wäre ein Teil der Rückbank in seinen Körper einmarschiert, um die Wirbelsäule Stück für Stück heraus zu brechen, gefangen zu nehmen und entgegen aller Schutzbestimmungen für Kriegsgefangene auf grausamste Art zu foltern. Er sah aus dem Seitenfenster. Der Stadtteil war ihm fremd. Das ist definitiv nicht die Straße zur Kathedrale. Das Tuch ist nicht in der Kathedrale. Sondern? Mark zeigte nach rechts. Ein Gebäude, dreigeschossig, vergitterte Fenster im Erdgeschoss. Eine graubraune Fassade bettelte um Erneuerung. Der rechte, kleinere Teil des Gebäudes schien angebaut worden zu sein. Backsteinziegel trugen ein seltsames Gebilde. Eine moderne Glasfront, eingefasst von bedauernswertem Mauerwerk. Hatte man es aus der ursprünglichen Bausubstanz herausgerissen und hier, einer fragwürdigen Laune des Architekten folgend, wie einen unpassenden Hut einfach aufgesetzt? Thinner lenkte den Wagen nach rechts und hielt vor einem geschwungenen schmiedeeisernen Tor. Sezione di Genetica, Biologia e Biochemica stand auf einem Schild daneben. Ein Institutsgebäude der Turiner Universität. Ron schüttelte verwundert den Kopf. Befindet Italien sich im Krieg? Militärfahrzeuge säumten die Straße, Soldaten patrouillierten die Mauer des Institutsgeländes entlang. Ein Soldat, das Sturmgewehr im Anschlag, kam auf das Auto zu und forderte Thinner durch Handzeichen auf, die Einfahrt zu verlassen. No entrata! FBI! Thinner zeigte seinen Ausweis. Der Soldat nahm ihn an sich. Ein Winken zum Tor. Eine weitere Militärperson eilte herbei, ohne Sturmgewehr. Ein Offizier? Er studierte den Ausweis und starrte Thinner ins Gesicht. Ein prüfender Blick ins Wageninnere. Mark nickte ihm zu. Der Offizier lächelte und gab Thinner den Ausweis zurück. Das Tor öffnete sich. Thinner fuhr los. Er parkte den Wagen neben einer Treppe zum Eingang des Institutes. Ron quälte sich aus dem Wagen, füllte seine Lungen mit der angenehmen Abendluft und streckte die Arme von sich. Langsam kehrte das Gefühl in seine Beine zurück. Ron! Endlich! Professor Hoskins stolperte die Treppe herab, direkt auf Ron zu, der ihn mit einem Lächeln begrüßte. Schön, Sie zu sehen, Einstein. Wer? Ah! Ein kleiner Scherz. Ausgesprochen komisch. Er klopfte Ron kurz auf die Schulter und rückte seine Nickelbrille zurecht. Hoskins war einer dieser Menschen, die sich nie änderten. Er hatte immer noch die zerzausten weißen Haare, die jeden Kamm das Fürchten lehrten. Den Schnauzbart, der Albert Einstein mit Sicherheit dazu veranlasst hätte, ihn wegen Verletzung des Urheberrechtes zu verklagen. Die buschigen Augenbrauen, die ihn ohne Zweifel zum Weihnachtsmann des Jahres nominierten. Und den braunen Anzug, der sich erfolgreich weigerte, an irgendeiner Körperstelle zu passen. Wie war die Reise?, fragte Hoskins und strich über seinen Schnauzbart. Der Flug war laut, die Autofahrt, na ja. Ron zeigte zum Wagen, Hoskins Blick folgte seiner Hand. Verstehe. Hoskins räusperte sich. Genug geplaudert! Die Arbeit ruft! Sie folgten dem Professor über die Treppe und betraten das Gebäude. Eine Frauenstimme überholte sie, drang vom Einfahrtstor ins Haus. Lassen Sie mich rein! Der Professor erwartet mich! Verstehen Sie mich, Soldat? Ron und Mark blieben wie auf Kommando stehen und starrten sich an. Nein, flüsterte Ron. Doch, antwortete Mark. Ah! Sie ist schon da! Hoskins stürmte aus dem Gebäude und raste die Treppe hinab. Der Wachposten versperrte einer Frau den Weg. Sie war um anderthalb Köpfe kleiner als er, wobei der Soldat Goliath keine Konkurrenz machte. Eine dunkelbraune Locke fiel ihr vor die Augen. Mit einer hastigen Handbewegung wurde sie aus dem Gesicht geschleudert. Ihr Mund war eine Schießscharte, ihre Stimmbänder wurden in diesem Moment nachgeladen. Ihre Augen visierten das Ziel an. Entsichern. Feuer! Ich! Muss! Hier! Rein! Der Soldat hatte keine Ahnung, wem er hier den Krieg erklärt hatte. Mercedes Brightman, der Koryphäe auf dem Gebiet der Genetik und Biochemie. Sie hatte Rons vollsten Respekt, wenn er bedachte, was diese Frau mit ihren siebenundzwanzig Jahren alles erreicht hatte. Ihre Fachkenntnis und Kombinationsgabe erstaunten nicht nur eingesessene Hardcore-Genetiker. Sie galt in der Wissenschaftswelt als Genie. Ron schmunzelte über die Zweideutigkeit des Wortes in diesem Zusammenhang. Genie. Das Genie drängte sich an dem Wachposten vorbei und hob die Arme. Und? Werden Sie mich jetzt erschießen? Händeringend lief Hoskins zum Tor. Er wird, flüsterte Ron. Ich würde es verstehen, antwortete Mark. Sie grinsten sich an. Miss Brightman! Alles in Ordnung! Aprire, prego! Das Tor wurde geöffnet und Mercedes betrat das Gelände. Was ist hier los? Sicherheitsvorkehrungen. Die italienischen Behörden. Professor Hoskins schüttelte ihre Hand. Sie blickte nach hinten, verengte ihre Augen und feuerte eine Salve Giftpfeile in Richtung Tor. Der Soldat murmelte unbeeindruckt vor sich hin. Das habe ich verstanden! Sie mich auch!, rief sie und schien zu überlegen, ob sie nochmals zum Tor zurückkehren und diesem Soldaten zeigen sollte, wie man mit einer selbstbewussten amerikanischen Frau umzugehen hatte. Hoskins war bereits am Treppenansatz. Kommen Sie! Wir sind vollzählig. Mercedes nahm zwei Stufen mit einem Satz. Vollzählig? Wer ... Ihr Blick fiel auf Ron. Das hätte ich mir allerdings denken können. Hallo, Mercy. Ron. Sie streckte ihre Hand in Rons Richtung, zog sie aber gleich wieder zurück. Oh. Ich vergaß. Das kleine Problem. Ihr süßsaures Grinsen war ein Schlag in seine Weichteile. Jeder Ringrichter wäre sofort dazwischen gegangen, hätte Mercy des Ringes verwiesen. Ron lächelte und schaute zu dem Soldaten beim Tor. Er hätte schießen sollen. Na, wen haben wir denn hier? Agent Sitting Bull. Hat man dich doch aus deinem Reservat gelassen? Ich freue mich auch, dich zu sehen. Mark schüttelte ihre Hand. Sein Blick gesellte sich zu Rons. Seine Gedanken waren offensichtlich: Der Soldat hätte schießen sollen. Mercedes Brightman war bei der Männerwelt ungefähr so beliebt wie ein Pickel auf der Stirn vor der ersten Verabredung. Sie hatte das Talent, in jedes nur denkbare Fettnäpfchen zu treten, auch wenn es noch so gut versteckt war. In einigen Ausnahmefällen liebte sie es geradezu mit Genuss hineinzuspringen und den Inhalt um sich zu spritzen, bis ihr Opfer Fett triefend am Boden lag. Ron und Mark waren solche Ausnahmefälle. Sie selbst behauptete von sich, ein sehr umgänglicher Mensch zu sein. Höflich, zuvorkommend, zurückhaltend, ein wenig schüchtern, und nicht im Geringsten neugierig. Seid ihr auch so gespannt wie ich? Ich sterbe vor Neugierde! Professor? Hoskins starrte auf einen Eimer in der Ecke neben dem Eingang. Wie? Natürlich! Das Tuch. Kommen Sie. Es ist unglaublich! Da vorne. Hoskins zeigte auf das Ende des Ganges. Zwei Soldaten standen vor einer Tür. Sie nickten dem Professor zu, als er an ihnen vorbei ging und die Klinke drückte. Sie werden begeistert sein. Er öffnete die Tür. Ein Labor kam zum Vorschein. Die Stirnseite war mit Computerbildschirmen verbaut. Vor der rechten Wand war das vier Meter lange und einen Meter breite Tuch aufgehängt. Wie ein altes Bettlaken auf Mutters Wäscheleine. Im Licht zweier Halogen-Scheinwerfer konnte man vage die braunen Verfärbungen erkennen: Vorder- und Rückseite des Körpers eines gefolterten und gekreuzigten Mannes. Na? Was sagen Sie? Ron? Ron ging zum Tuch, wollte es anfassen. Eine eisige Kälte, zwei Zentimeter vor dem Stoff, ließ seine Finger zurückzucken. Was zum Teufel ist das? Mercy stellte sich neben ihn. Ist es das, wofür ich es halte? Der Professor nickte. Ron betrachtete jene Stelle, an der das Gesicht des Mannes abgebildet war. Dorneneinstiche, Verletzungen im Kieferbereich, eine Stichwunde seitlich der Brust. Wundmale des Gekreuzigten an Händen und Füßen. Das alles kannte Ron nur zu gut. Aber das Tuch hatte sich verändert. An all diesen Stellen, an jeder einzelnen noch so kleinen Wunde, war das Tuch durchtränkt von einer dunkelroten Flüssigkeit. Blut, sagte Hoskins und gesellte sich zu Mercy. Blutgruppe und erste genetische Tests haben eine Übereinstimmung ergeben. Wer immer hier eingewickelt war, das ist definitiv sein Blut. Wie ist das möglich?, fragte Ron und starrte zu Hoskins, dann zu Mercy. Deswegen seid ihr hier. Ich hoffe, dass du mit Miss Brightmans Hilfe eine Erklärung findest. Haben Sie die Geräte von der Liste?, fragte Mercy. Der Professor zeigte auf die linke Seite des Raumes. Alles vorhanden. Sie müssen nur noch ihre Software einspielen, dann können Sie beginnen. Mercys Lächeln war der Inbegriff von Motivation. Sie ging zu einem Computer, strich mit den Fingern darüber, entfernte die Hülle von einem Apparat und drehte sich zu Hoskins. Ihre Augen blitzten frech, sprühten vor Tatendrang. Los gehts! Sie rieb ihre Handflächen aneinander. Ron? Ich brauche eine Probe von dem Blut. Mark schlich aus dem Raum, dicht gefolgt von Professor Hoskins. Weitere Leseproben
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