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Unheimliches zum Winter
LITERRA EMPFIEHLT 
Da, auf dem großen Eichensessel mit der hohen Rückenlehne, saß der Richter in seiner scharlachroten, hermelinverbrämten Robe, seine unheilbringenden Augen starrten voller Rachsucht, und ein triumphierendes Lächeln lag auf seinem entschlossenen, grausamen Mund, als er mit den Händen seine schwarze Kappe hochhob. Es war Malcolmson, als strömte das Blut aus seinem Herzen. In seinen Ohren rauschte es. Von draußen vernahm er das Heulen des Windes, und auf den Flügeln des Sturmes drangen die Töne der großen Dorfglocke auf dem Marktplatz zu ihm: sie schlug Mitternacht. Das triumphierende Lächeln auf den Lippen des Richters wurde stärker und stärker, und beim letzten Glockenschlag setzte er sich die schwarze Kappe aufs Haupt.
Bram Stoker. Kaum ein Name ist enger mit Dracula verknüpft als dieser und weckt bei seiner Nennung Assoziationen mit dem berühmtesten Vampir der Welt. Dank einiger Verfilmungen von fragwürdiger Qualität ist jedoch bereits das Wissen in den Köpfen vieler Leser verankert, dass der irische Schriftsteller eben nicht nur Dracula geschrieben hat, wenngleich der Vampirroman sein umfangreichstes und wichtigstes Werk ist und bleibt. Nichtsdestotrotz möchte ich an dieser Stelle einen weiteren Band von Bram Stoker vorstellen, der es wert ist, entdeckt zu werden. Es handelt sich um die Kurzgeschichtensammlung Draculas Gast, in der sich sechs Erzählungen befinden, die zu den eindringlichsten und düstersten Gruselgeschichten der Gothic Novelle gehören.
Zum Inhalt:
Draculas Gast
© http://www.titania-medien.de Auf seiner Reise nach Transsylvanien macht der junge englische Anwalt Jonathan Harker in München Zwischenstation. Von dort will er ausgerechnet am Abend des 30. April, der Walpurgisnacht, eine Spazierfahrt unternehmen. An einem Kreuzweg beschließt er, entgegen den Warnungen seines Kutschers Johann, zu Fuß weiterzugehen. Sein Weg führt ihn in ein verlassenes Dorf und zu einer Gruft, an der ihn das Grauen erwartet
Das Haus des Richters
Der junge Mathematikstudent Malcolm Malcomson braucht für seine Studien unbedingt Ruhe und bezieht daher in einem kleinen, verschlafenen Dorf ein altes, verlassenes Landhaus. Die Dorfbewohner reagieren mit Angst und Ablehnung, als sie erfahren, wo er der Neuankömmling untergekommen ist. Malcolm fühlt sich in seiner neuen Behausung jedoch äußerst wohl, nicht ahnend, welchen Schrecken das Haus des Richters für ihn bereithält
Die Squaw
Das frisch vermählte Ehepaar Amelia und George Price verbringt seine Flitterwochen in Deutschland, wo sie dem amerikanischen Lebemann Elias P. Hutcheson begegnen. Da sich die drei Menschen auf Anhieb sympathisch ist, beschließt man, eine Zeit lang gemeinsam zu reisen. Elias P. Hutcheson möchte unbedingt den Folterturm von Nürnberg besichtigen. Auf der Zinnen der Burg kommt es jedoch zu einem tragischen Unglück, bei dem Hutcheson ein Katzenjunges mit einem Stein erschlägt. Die Mutter des Tiers gebärdet sich wie toll, so dass dem frisch vermählten Paar Angst und Bange wird. Elias P. Hutcheson zieht sogar den Vergleich einer rachsüchtigen Squaw, die er einst erschießen musste, so blindwütig vor Hass sei sie gewesen. Doch wenig später ist der schreckliche Vorfall bereits vergessen. Ein schwerer Fehler, wie sich herausstellen soll
Rattenbegräbnis
Ein junger Mann ist unsterblich in die schöne Alice verliebt, doch ihre Eltern verlangen zum Beweis seiner Gunst und Tugendhaftigkeit, dass sich das Paar ein Jahr lang wieder sieht noch schriftlich korrespondieren darf. Um sich von der Sehnsucht abzulenken beschließt der junge Mann auch Reisen zu gehen und das letzte halbe Jahr in Paris zu verbringen, in der Hoffnung, dass die Familie seiner Geliebten ihn bereits vor Ablauf der Frist zurückbeordert. Auf einem seiner Streifzüge gelangt der junge Mann in die heruntergekommene Kehrichtstadt, die von Lumpensammlern, Bettlern und Veteranen bewohnt wird. Schon bald heften sich sämtliche Blicke auf ihn. Bei einem verhärmten Weib und ihrem Mann findet der Reisende für kurze Zeit Unterschlupf, doch die Bettler und Lumpensammler haben es auf das Hab und Gut des vornehmen Mannes abgesehen und beginnen eine mörderische Hetzjagd auf ihn, um ihn den Ratten zum Fraß vorzuwerfen.
Das Geheimnis des wachsenden Goldes
Margaret und Wykham Delandre sind Geschwister eines alten Geschlechts, dass für seine Boshaftigkeit bekannt ist. So leben beide auch in einem ständigen Streit zusammen, der erst endet, als Margaret Delandre sich mit Geoffrey Brent verheiratet. Bei einem Ausflug mit der Kutsche verunglückt Margaret Delandre jedoch tödlich, obwohl ihre Leiche nicht gefunden wird. Einige Zeit später heiratet Geoffrey erneut, dieses Mal eine italienische Schönheit aus gutem Haus. Doch das junge Eheglück ist nicht von langer Dauer, denn der gotteslästerliche Fluch der Delandres fordert Vergeltung
Crooken Sands
Der Londoner Geschäftsmann Mr. Arthur Fernlee Markam erwirbt das sogenannte Rote Haus oberhalb von Mains of Crooken in Schottland. Dort will er mit seiner Familie die Ferien verbringen. Als Liebhaber der schottischen Kultur will er möglichst authentisch auftreten und lässt sich zu diesem Zweck ein traditionelles schottisches Kostüm fertigen, wie es die Clanoberhäupter im Mittelalter trugen. Doch statt Anerkennung und Bewunderung erntet Arthur Markam nur Spott und Gelächter, auch von seiner eigenen Familie. Dennoch ist der Geschäftsmann viel zu stolz, und trägt seine schottische Tracht weiterhin hoch erhobenen Hauptes. Erst als er sich von einem geheimnisvollen Doppelgänger verfolgt sieht und beinahe im gefährlichen Treibsand von Crooken versinkt, kommt er zur Besinnung. Doch da ist es bereits zu spät
© http://www.titania-medien.de Die erste und titelgebende Geschichte dieser abwechslungsreichen Sammlung wurde einst als Kapitel des Schauerromans Dracula verfasst, doch dann passte sie Stokers Meinung nach, nicht mehr recht in das Buch hinein, zumal sie die Handlung auch nicht maßgeblich voranbringt. So liegt sie nun als eigenständige Kurzgeschichte vor, die man gerne auch als inoffiziellen Prolog zu Dracula betrachten kann. So geschehen bei dem Leverkusener Hörspiellabel Titania Medien. Dort erschien Bram Stokers Roman Dracula als hochwertiges Hörspiel in drei Teilen. Draculas Gast wurde separat vertont und als Prolog beworben. Im Buchhandel erschienen die Hörspiele zudem gemeinsam in einem edlen Pappschuber. Für die Macher war diese Veröffentlichung eine Art Startschuss, denn nach und nach erschienen in der Reihe GRUSELKABINETT weitere Hörspiele nach den Geschichten von Bram Stoker. Chronologisch, wie im Buch, wurde als nächstes Das Haus des Richters vertont, mit einem fabelhaften Otto Mellies als Richter, dessen Darstellung wirklich unter die Haut geht. Die Erzählung ist eine richtige, klassische Gruselgeschichte, die sich optimal für dunkle Winterabende zum Vorlesen eignet. Und wer nicht selber lesen möchte, sollte zum oben erwähnten Hörspiel greifen. Ähnlich verhält es sich mit Die Squaw, einer Geschichte, in der es zwar nur am Rande um Indianer geht, die aber dennoch sehr düster und unheimlich ist. Die Vertonung von Titania Medien ist äußerst Originalgetreu und verspricht eine gute Stunde gruseliger Unterhaltung, die unter die Haut geht. Das Rattenbegräbnis ist eine schauerliche Erzählung mit einer beklemmenden Atmosphäre und einem blutigen Ende. Leider ist Stokers Schreibstil bisweilen so zäh und trocken, wie altes Leder. Gleiches gilt für Das Geheimnis des wachsenden Goldes, das aber mit einem originellen Plot aufwartet und der Lektüre durchaus wert ist. Crooken Sands dagegen ist eher eine Art Satire mit unheimlichen Elementen, gewürzt mit bitterbösem, schwarzem Humor. Ob und wann die restlichen drei Geschichten von Titania Medien ebenfalls vertont werden, ist ungewiss. Zumindest Das Rattenbegräbnis wäre durchaus lohnenswert. Auch wenn Bram Stoker als Schriftsteller manchmal so dröge wie ein Reiseführer rüberkommt, so war sein Ideenreichtum enorm. Gerade seine Kurzgeschichten erweisen sich daher als willkommene Abwechslung und als Hörspiele entwickeln die Erzählungen ohnehin eine intensive Eigendynamik. Darüber hinaus wurden die ersten und besten drei Storys des Buches auch als Hörbuch, respektive Lesung, von LPL Records veröffentlicht. Gelesen von Lutz Riedel kommt der Hörer in den Genuss der ungeschnittenen und originalgetreuen Erzählungen in einer wunderbaren Inszenierung. Nur von diversen Verfilmungen muss eindeutig abgeraten werden. Leider ist das schmale Büchlein aus dem Diogenes Verlag zur Zeit nicht im Buchhandel erhältlich, was äußerst bedauerlich ist, denn die Geschichten wurden auch mit schönen Innenillustrationen versehen. Doch dank diverser Internet-Händler und den schön altmodischen Antiquariaten ist das Büchlein bereits für wenig Geld erhältlich. Ich habe mein Exemplar für 1,50 erstanden und damit weniger bezahlt als für einen Kaffee zum Mitnehmen an einer Autobahnraststätte. Allerdings zehre ich von der Lektüre ungleich länger und kann sie jederzeit wiederholen.
In diesem Sinne wünsche ich allen Usern einen schönen, schaurigen Lesewinter.
© http://www.lpl.de/cms/
LITERRA EMPFIEHLT Beitrag vom 28. Nov. 2010
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