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Die Jagd ist eröffnet ...
LITERRA EMPFIEHLT “Es gibt nichts Schöneres als die Jagd“, sagte er. „Sie entspricht der Natur des Mannes. Und das ist das Problem mit der Hälfte der Welt. Der Mensch ist ein jagendes, tötendes Tier, und er hat nie die Möglichkeit, diesen Trieb auszuleben. Oh ja, sicher, mal jemandem ein Messer in den Rücken rammen, im Büro, ab und zu, aber kein richtiges, tägliches Töten, nicht das Wahre." Ken Frazer
„Jagdzeit“ (Open Season) gehört zu jenen amerikanischen Wildnis-Thrillern, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Nicht, weil ein Irrer mit Kettensäge auf Menschenjagd geht, fiese Mutanten Frischfleisch suchen oder gar ein Rudel Werwölfe durch die Wälder streift. Der Horror geht einzig und allein vom Menschen aus, was an und für sich schon verstörend genug wäre. Was „Jagdzeit“ aber von anderen Krimis abhebt ist, dass es den Tätern Ken, Greg und Art an nachvollziehbaren Motiven mangelt. Es geht weder um Geld, noch um Rache. Die Hobby-Jäger vergewaltigen und töten nur zum Spaß und zur reinen Triebbefriedigung. Dabei sind die drei Männer keine degenerierten Hinterwäldler, sondern vorzeigbare und erfolgreiche Familienväter und Geschäftsmänner. Gerade dieser Umstand hat mich beim Lesen so fasziniert und zugleich abgestoßen. Die Bedrohung wirkt so ungeheuer realistisch und die Spannung steigert sich von Seite zu Seite, bis die Menschenjäger auf drastische Art und Weise erfahren, dass sie selbst zur Beute geworden sind. Die Handlung ist dabei denkbar einfach:
Ken Frazer, Greg Anderson und Art Wallace sind seit dem Studium unzertrennliche Freunde. Auch Jahre später noch machen sie jeden Sommer, zur Jagdsaison, einen Ausflug in die Wildnis. Doch es ist nicht die Jagd auf Rotwild, Enten oder Bären, die sie fasziniert, sondern die Menschenjagd. Jedes Jahr entführen die drei Männer ein Pärchen, demütigen es, vergewaltigen die Frau und geben es dann zum Abschuss frei. Dieses Mal sind es Nancy und Martin, die durch eine heftige Affäre ihrem kleinbürgerlichen Dasein entkommen wollen. Was leidenschaftlich und abenteuerlich beginnt, endet für Beide in einem grauenhaften Höllentrip. Doch dann werden Ken, Greg und Art selbst zu Gejagten, als sie von den Folgen ihrer Taten eingeholt werden …
Der Roman wird in dem Klappentext mit „American Psycho“ verglichen, dem skandalösen Werk aus der Feder von Bret Easton Ellis. Tatsächlich erschien „Jagdzeit“ jedoch bereits im Jahr 1974 und erschien in Deutschland bei den unterschiedlichsten Verlagen: beim Deutschen Bücherbund, im Paul Zsolnay-Verlag, bei Droemer Knaur und zuletzt im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv). Aktuell ist der Roman im Bielefelder Pendragon Verlag veröffentlicht worden und wurde um ein Nachwort von Frank Göhre erweitert. Mit „American Psycho“ verbindet das psychologische tiefsinnige Werk jedoch allenfalls die Skrupellosigkeit, mit der die Jäger zu Werke gehen und die menschenverachtende Triebhaftigkeit, die sich hinter der gutbürgerlichen Fassade verbirgt. Doch wo Patrick Bateman alleine jagt, bilden Ken, Greg und Art eine eingeschworene Gemeinschaft, verbunden allein durch das Bedürfnis ihren Trieben gänzlich freien Lauf zu lassen. Ironischerweise kann aber zumindest Art Wallace nicht mal hier alle seine geheimen Wünsche befriedigen, denn eigentlich würde er nur allzu gerne seinen homosexuellen Neigungen nachgehen, traut sich aber nicht dies vor seinen chauvinistischen Freunden zuzugeben und macht gute Miene zum bösen Spiel. Besonders eindrucksvoll ist David Osborn die Charakterisierung der Beute gelungen. Während Martin aufsässig und renitent bleibt, und jegliche Möglichkeit zur Flucht zu nutzen versucht, merkt Nancy schnell, dass sie nur dann eine Chance hat, wenn es ihr gelingt, sich mit ihren Peinigern zu arrangieren.
Die Geschichte besitzt sicherlich zahlreiche Parallelen zu dem Buch „Flussfahrt“ (Deliverance), das mit Burt Reynolds unter dem Titel „Beim Sterben ist jeder der Erste“ verfilmt worden ist, wobei Ken Frazer, Greg Anderson und Art Wallace keine zurückgebliebenen Hillbillies sind, sondern selbst aus der Großstadt stammen und lediglich ihr anerzogenes, zivilisiertes Verhalten mit dem Eintritt in die Wildnis abstreifen wie eine alte Haut. In seinem Vorwort aus dem Jahr 2010 schrieb Osborn, dass es in „Jagdzeit“ nicht um die Perversionen als solche geht, sondern um die dunkle Seite des Menschen im Allgemeinen, und der Leser muss sich unweigerlich selbst die Frage stellen, was zutage tritt, wenn das Animalische in uns die Kontrolle übernimmt. Die drei Jäger erliegen schlussendlich nicht nur ihren eigenen Trieben und Bedürfnissen, sondern auch dem Gruppenzwang, und nachdem sie einmal die Tür durchschritten hatten (sprich gemeinsam ein Mädchen vergewaltigt hatten), waren sie nicht mehr zu stoppen. Plot und Setting erinnern an zahlreiche Bücher von Richard Laymon („Die Insel“, „Die Jagd“) und Jack Ketchum („Beutezeit“, „Amokjagd“), die zur Zeit sehr gefragt sind, und teilweise von Osborn inspiriert sein dürften. „Jagdzeit“ gehört jedenfalls zu den Meisterwerken der sogenannten Urbanoia-Literatur, in der der zivilisierte Mensch mit seinen atavistischen Neigungen konfrontiert wird, und hat in all den Jahren nichts von seiner Intensität und Spannung eingebüßt. Lesen Sie selbst. Es lohnt sich!
„Jagzeit“ wurde übrigens 1975 ebenfalls verfilmt, mit Peter Fonda in der Hauptrolle. Der Film erschien 2010 unter dem Titel „Open Season“ in Deutschland auf DVD, allerdings in mangelhafter Qualität. Das Drehbuch wurde von Osborn selbst verfasst, der sich unter anderem auch für Klassiker wie „16 Uhr 50 ab Paddington“ verantwortlich zeigt.
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LITERRA EMPFIEHLT Beitrag vom 28. Aug. 2011
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