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![]() Der mysteriöse Totenschädel1.Episode Prolog Lady Eleonora Graycliff war nur milde beunruhigt, als sie in dem begehbaren Kleiderschrank ihrer Enkelin Devon einen Totenschädel entdeckte. Die schmalen Lippen der betagten Adligen kräuselten sich zu einem süffisanten Lächeln. Lady Eleonora wusste allzu gut, dass sich die Pubertät ihrer zwanzigjährigen Nachfahrin ein wenig in die Länge zog. Die junge Frau bemühte sich nach Kräften, ihre familiäre Umgebung zu schockieren und provozieren. Dies gelang Devon zwar vorzüglich bei ihren Eltern, nicht aber bei ihrer Großmutter. Lady Eleonora sah mit amüsiertem Gleichmut über die Piercings und den Musikgeschmack ihrer Enkeltochter hinweg, während ihr zu cholerischen Anfällen neigender Sohn zur Scotch-Karaffe griff und ihre dünnhäutige Schwiegertochter einen Psychotherapietermin nach dem anderen wahrnahm. Gleichwohl wurde die ältere Adlige von einem höchst undamenhaften Anfall von Neugier gepackt. Es war ja schon bezeichnend genug, dass Lady Eleonora überhaupt in Devons Abwesenheit das Zimmer ihrer Nachfahrin inspizierte. Die ältere Dame tat dies auch nur, weil sie eine Brosche vermisste. Dieses Schmuckstück passte nach Lady Eleonoras Meinung recht gut zu dem bizarren Kleidungsstil, den sich Devon momentan angeeignet hatte. Daher wollte sie sich ein wenig in den Räumlichkeiten ihrer Enkeltochter umschauen. Der Schädel lag auf dem Fußboden, zwischen zwei Schuhkartons. Lady Eleonora bückte sich so schnell, wie ihre künstliche Hüfte es zuließ. Sie vermutete, dass dieser Dekorationsgegenstand in Fernost gefertigt worden war. Vermutlich in der ehemaligen britischen Kronkolonie Hongkong. Vor vielen Jahren hatte die Adlige einen Verehrer gehabt, der in der dortigen Kunststoffindustrie tätig gewesen war. Sie wollte nachschauen, ob sich irgendwo auf dem fragwürdigen Artefakt ein Herstellersiegel oder ähnliches befand. Doch zu ihrem Befremden musste Lady Eleonora feststellen, dass der Totenkopf echt zu sein schien. Was hatte ihre Enkelin mit einem solchen Objekt zu schaffen? Hatte sich Devon den Schädel selbst besorgt, und wenn ja, woher? Nach Lady Elenoras Meinung war Störung der Totenruhe durchaus kein Kavaliersdelikt, denn den Kopf eines verblichenen Menschen gab es ganz gewiss noch nicht einmal bei Harrods zu kaufen. Es lag also die Vermutung nahe, dass sich Devon den Schädel auf illegalem Weg beschafft hatte. Lady Eleonora zog unwillig die Augenbrauen zusammen. Sie dachte über eine angemessene Bestrafung nach, doch dazu waren bedauerlicherweise weder ihr Sohn noch ihre Schwiegertochter in der Lage. Was dachte sich dieses Kind nur bei derlei albernen Geschmacklosigkeiten? Die alte Dame setzte sich auf den Schreibtischstuhl ihrer Enkelin und nahm den Schädel noch näher in Augenschein. Da befand sich doch am Hinterkopf tatsächlich ein Loch ob von einer Gewehrkugel oder einem spitzen Gegenstand, konnte Lady Eleonora natürlich nicht beurteilen. Und in dieser Öffnung steckte ein zusammengerolltes Stück Papier! Mit spitzen Fingern zog die Adlige es hervor und drehte es auseinander. Auf dem Zettel stand in Schönschrift ein einziger Satz: DER GOLDENE SKORPION WIRD DICH KRIEGEN. Lady Eleonora hielt sich einiges auf ihre innere Ruhe und Gelassenheit zugute. Doch in diesem Moment begann sie, sich ernsthaft Sorgen um ihre Enkeltochter zu machen. ![]() DER MYSTERIÖSE TOTENSCHÄDEL Lord Stanley Winter wurde von manchen gehässigen Zeitgenossen für einen Snob gehalten, weil er kein Personal beschäftigte. Es war in der besseren Gesellschaft Londons allgemein bekannt, dass der Adlige und seine jüngere Schwester Nora Erben eines beträchtlichen Vermögens waren. Daher stieß es auf Unverständnis, dass sie nicht zumindest einen Butler, eine Köchin und einen Sekretär in Lohn und Brot stehen hatten. In Wirklichkeit waren sowohl humanitäre als auch praktische Gesichtspunkte für diesen Umstand verantwortlich. Da sich Lord Stanley bei seinen kriminalistischen Ermittlungen des Öfteren in Lebensgefahr zu begeben pflegte, wollte er keine Angestellten in brenzlige Situationen hineinziehen. Beispielsweise hatte vor nicht allzu langer Zeit ein hünenhafter Psychopath Lord Stanley in dessen Teesalon seine Aufwartung gemacht. Der ungebetene Besucher ein gewisser Pete Corey - wollte offenbar mit Hilfe eines Brieföffners die inneren Organe des Lords durch die Bauchdecke nach außen befördern. Doch bevor der bedauernswerte Geisteskranke den jungen Adligen tranchieren konnte, hatte Lord Stanley die dramatische Szene mittels seines bleigefüllten Spazierstocks vorzeitig beendet. Pete Corey war bewusstlos, Lord Stanley unversehrt und der Brieföffner wieder an seinem üblichen Platz auf dem Stehpult an der Schmalseite des holzgetäfelten und im Tudorstil eingerichteten Teesalons. Allein diese kleine unerfreuliche Episode wäre für Lord Stanley ein hinreichender Grund dafür gewesen, keine Sekretärin einzustellen. Eine Schreibkraft hätte womöglich einen seelischen Schock erlitten und sich jahrelang in Therapie begeben müssen. Außerdem wäre gewiss auch die Gewerkschaft ungemütlich geworden, weil der Lord eine Büroangestellte solchen unwägbaren Gefahren ausgesetzt hatte. Angesichts solcher vermeidbarer Schwierigkeiten tippte Lord Stanley seine Briefe lieber selbst auf dem Computer. Den PC sowie andere moderne Gerätschaften hatte der Adlige allerdings in ein fensterloses Separee verbannt. In seinem Teesalon versuchte er hingegen erfolgreich, mit Hilfe von Antiquitäten und geerbten Gemälden die Atmosphäre eines Landsitzes im Merry Old England des 19. Jahrhunderts aufrechtzuerhalten. Was körperliche Auseinandersetzungen anbelangte, so war Lord Stanley alles andere als ein Feigling. Abgesehen von seiner eigenen Kampfkraft konnte er in brenzligen Situationen auf die Unterstützung seiner Schwester Nora zählen, die sich ihrer Haut mindestens ebenso gut wehren konnte wie ihr Bruder. Lord Stanley war also stets auf alles gefasst, wenn sich die Tür seines Teesalons öffnete. Vom Treppenhaus hatte man nämlich direkten Zugang ins Allerheiligste. Doch an diesem Spätherbsttag stolperte kein geifernder Gewalttäter über Lord Stanleys Schwelle, sondern eine wohlbekannte magere Damengestalt wehte wie ein Gespenst herein. Der junge Adlige sprang aus seinem Ledersessel auf und verbeugte sich höflich. Dann ging er auf sie zu und half ihr aus dem Mantel. Lady Eleonora!, rief er leutselig. Welch angenehme Überraschung. Darf ich mir die Bemerkung erlauben, dass Sie einen hauchzarten Eindruck auf mich machen? Die alte Dame schmunzelte geschmeichelt. Zu gütig, Lord Stanley. Sie wissen doch, was Wallis Simpson einst sagte: You can never be too rich or too thin. Doch das Lächeln auf ihren Lippen erstarb im Handumdrehen wieder. Lord Stanley ahnte, dass Lady Eleonora wegen eines schwerwiegenden Problems zu ihm gekommen war. Er beschränkte sich zunächst darauf, der alten Dame auf einer bequemen Chaiselongue einen Sitzplatz anzubieten. Darf ich Ihnen einen Tee offerieren, Lady Eleonora? Vielen Dank, das wäre fein. Für manche Menschen ist es höchst unkonventionell, dass Sie das Aufguss-Getränk offenbar selbst zubereiten wollen und auf den Service durch Dienstpersonal verzichten. Nehmen Sie diese Geste als Zeichen meiner modernen und demokratischen Gesinnung, Verehrteste. Lord Stanley verschwand in der kleinen Pantryküche und kehrte im Handumdrehen mit einer Kanne, Tassen sowie dem nötigen Zubehör zurück. Mit fließenden Bewegungen schenkte er Lady Eleonora Tee ein. Wohlwollend bemerkte die ältere Dame, dass ihr Gastgeber traditionelles Wedgewood-Teegeschirr verwendete. Seine Besucherin schlürfte genießerisch einige Schlucke von der heißen aromatischen Flüssigkeit. Dann schilderte sie Lord Stanley den außergewöhnlichen Fund in den Räumlichkeiten ihrer Enkelin. Der Privatermittler hörte konzentriert zu, wobei sein Gesicht einen meditativen Ausdruck annahm. Nachdem die alte Dame ihren kurzen Bericht beendet hatte, schaute sie Lord Stanley erwartungsvoll an. Es wäre hilfreich, wenn ich mehr über die Lebensgewohnheiten Ihrer Enkeltochter wüsste, Verehrteste. Gewiss ist Devon im Besitz eines Handys oder gar eines Smartphones. Haben Sie schon versucht, mit ihr telefonisch in Kontakt zu treten? Allerdings, Lord Stanley. Doch diese fürchterlich kulturlose technische Apparatur ist offenbar ausgeschaltet. Jedenfalls war noch nicht einmal die sogenannte Mailbox in Betrieb, als ich Devon zu kontaktieren versuchte. Sie wissen also nicht, wo sich Devon zurzeit aufhält? Bedauerlicherweise nicht. Und seit wann ist Ihre Enkeltochter verschwunden? Seit drei Tagen und Nächten. Lord Stanley hob eine Augenbraue. Selbst für eine vergnügungssüchtige junge Frau aus der britischen Oberschicht war das eine bemerkenswert lange Zeit. Soweit der Privatermittler wusste, verfügte Devon Greycliff über kein eigenes Einkommen, da sie keiner bezahlten Tätigkeit nachging. Früher oder später würde ihr also das Geld ausgehen, falls sie wirklich freiwillig ihrem Elternhaus fernblieb. Es war, als ob Lady Eleonora Lord Stanleys Gedanken gelesen hätte. Ich erwähnte noch nicht, dass die Kreditkarte meiner Enkelin von ihr zurückgelassen wurde. Und die scheußlichen Textilien, mit denen sich Devon zu verunstalten pflegt, sind offenbar auch noch vollzählig vorhanden obwohl ich gestehen muss, dass ich angesichts von Devons hemmungslosem Kleiderkonsum ein wenig den Überblick verloren habe. Lord Stanley wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch in diesem Moment wurde die Salontür mit Wucht aufgestoßen. Seine Besucherin zuckte erschrocken zusammen, da sie mit dem plötzlichen Geräusch nicht gerechnet hatte. Lady Eleonora drehte instinktiv ihr Gesicht in Richtung Tür. Im ersten Augenblick glaubte sie, ein Gespenst vor sich zu haben. Doch gleich darauf entspannte sich die betagte Adlige. Bei der weißgekleideten Gestalt, die soeben kraftvoll in den Raum geschnellt war, handelte es sich keineswegs um einen Geist oder ein sonstiges überirdisches Wesen. Vielmehr war es Lord Stanleys Schwester Lady Nora, die mit ungebremstem Elan das Büro ihres Bruders betreten hatte. Lady Nora trug einen hautengen blütenweißen Fechtanzug, der ihre schlanke Figur betonte. Ihr leicht geröteter Teint zeugte davon, dass sie gerade ein anstrengendes Training hinter sich gebracht hatte. In der linken Hand hielt sie eine Waffentasche, die ihre kleine Degensammlung enthielt. Außerdem hatte sie ihre Fechtmaske unter den Arm geklemmt. Lady Nora lächelte, während ihr Blick von Lady Eleonora zu ihrem Bruder und wieder zurück wanderte. Ich bitte aufrichtig um Verzeihung, aber ich war der Meinung, dass du allein wärst, Stan. Sonst wäre ich nicht hereingeschneit, ohne anzuklopfen. Zweifellos. Gibt es einen bestimmten Grund, dass du außerhalb der Fechthalle in Sportkleidung erscheinst, Schwesterherz? Hat die British Fencing Association dich für eine Werbekampagne verpflichtet? Lady Nora ging auf die leichte Ironie ihres Bruders nicht ein. Das nicht, Stan. Vielmehr sind die Duschen im Sportzentrum ausgefallen. Daher wollte ich mich lieber erst später daheim duschen und dir zuvor einen kurzen Besuch abstatten. Aber offensichtlich störe ich. Ganz und gar nicht, widersprach Lord Stanley. Lady Eleonora ist mit einem hochinteressanten Problem zu uns gekommen, Ich bin mir sicher, dass wir ihr behilflich sein können. Sie kennen meine jüngere Schwester, Verehrteste? Die ältere Adlige nickte huldvoll. Nach dem ersten Schreck hatte sie schnell ihre Contenance zurückgewonnen. In der Tat, Lord Stanley. Ich bin Lady Nora bei einem Wohltätigkeitskonzert im Royal Opera House begegnet. Lady Nora nahm ebenfalls Platz und genehmigte sich eine Tasse Tee, während ihr Bruder sie mit den bisher bekannten Fakten konfrontierte. Sie horchte auf, als Lord Stanley den Totenschädel erwähnte. Ein solches Objekt ist wirklich im höchsten Grade irritierend. Haben Sie eigentlich schon die Polizei informiert, Lady Eleonora? Die alte Dame nickte, wobei ihr Gesicht einen entnervten Ausdruck annahm. In der Vermissten-Abteilung von New Scotland Yard scheint mir eine fragwürdige Arbeitsmoral zu herrschen. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass man mein Anliegen dort nicht gerade ernst nahm. Vielmehr schienen die Beamten es für völlig normal zu halten, dass eine junge Frau tage- und nächtelang spurlos verschwindet. Es wurde eine Fallakte für Devon angelegt, das schon. Doch ich glaube nicht, dass die Polizei meine Enkelin mit Nachdruck sucht. Genau aus diesem Grund bin ich ja zu Ihnen gekommen, Lord Stanley. Der junge Adlige nickte versonnen. Meine Schwester und ich haben glücklicherweise einen guten Draht zu New Scotland Yard. Unser Kontaktmann Inspektor John Duncan ist ein sehr tüchtiger und genauer Beamter, bedauerlicherweise wurde er aber von Mutter Natur mit einer äußerst geringen Portion Fantasie ausgestattet. Unser Hauptaugenmerk werden wir aber auf eigene Ermittlungen legen. Lady Eleonora brachte durch einen erleichterten Seufzer zum Ausdruck, dass sie diese Aussicht als sehr beruhigend empfand. Lord Stanley erhob sich, sein Tatendrang war ihm förmlich anzumerken. Ich schlage vor, dass meine Schwester und ich das Zimmer Ihrer Enkelin selbst in Augenschein nehmen, Lady Eleonora. Es wird am Sinnvollsten sein, dort nach weiteren Hinweisen auf Devons Verbleib zu suchen. Außerdem bin ich sehr auf diesen Schädel gespannt, von dem Sie mir berichtet haben. Nora, ich gehe davon aus, dass du dich gern noch umziehen und frischmachen möchtest. Die anmutige Frau im Fechtanzug machte eine zustimmende Kopfbewegung. Lady Eleonora lud das Geschwisterpaar für den späteren Nachmittag in ihr Stadthaus ein, das sich nur wenige Straßenzüge weit entfernt in der Half Moon Street befand. ![]() Pünktlich um 17 Uhr betätigte Lord Stanley den bronzenen Türklopfer in Form eines Löwenkopfs. Seine Schwester stand neben ihm und wirkte in ihrem Tweedkostüm mit knielangem Rock weitaus femininer als im Fechtanzug, der Lady Nora nach Meinung ihres Bruders stets eine amazonenhafte Aura verlieh. Im Gegensatz zu dem Geschwisterpaar verfügte die Familie Graycliff durchaus über Personal. Der Herr mit den beeindruckenden graumelierten Koteletten, der nun die Tür öffnete, war jedenfalls gewiss ein dienstbarer Geist. Er trug jenen blasiert-distinguierten Gesichtsausdruck zur Schau, der nach Lord Stanleys Meinung nur auf britischen Butlerschulen eingeübt wird. Der junge Adlige überreichte dem Lakaien seine Visitenkarte. Lady Nora und Lord Stanley Winter. Lady Eleonora erwartet uns bereits. Das ist mir bekannt, erwiderte der Butler mit einem leicht entrüsteten Unterton so, als ob Lord Stanley etwas Selbstverständliches erwähnt hätte. Dann bat er die Besucher, ihm zu folgen. Der Bedienstete führte die beiden Privatermittler direkt zum Jugendzimmer von Devon. Jedenfalls ging Lord Stanley davon aus, dass es sich um das Gemach der Verschwundenen handelte. Lady Eleonora saß kerzengerade auf einem Stuhl. Sie wirkte inmitten der subkulturellen Gothic-Unordnung so deplatziert wie eine Nonne in einer vollbesetzten finnischen Sauna. Ihr Sohn und Ihre Schwiegertochter sind nicht anwesend?, fragte Lord Stanley, nachdem er und seine Schwester von der Großmutter der Verschwundenen begrüßt worden waren. Lady Eleonora schüttelte den Kopf. Eric arbeitet in der Finanzbranche, und Mary-Ann hat wieder einmal einen Termin bei ihrem Therapeuten. Ich bin mir nicht sicher, ob beide überhaupt realisiert haben, dass ihr einziges Kind verschwunden ist. In der Stimme der älteren Dame schwang Bitterkeit mit. Lord Stanley registrierte diese Untertöne, ging aber nicht darauf ein. Die Familienverhältnisse der Graycliffs spielten möglicherweise bei Devons Verschwinden eine gewisse Rolle, aber das konnte er jetzt noch nicht beurteilen. Für unsere Ermittlungen benötige ich zunächst ein aktuelles Foto Ihrer Enkelin, Lady Eleonora. Selbstverständlich. Die betagte Dame öffnete ihre voluminöse Handtasche und zog ein Bild hervor, welches sie dem Privatermittler feierlich überreichte. Lord Stanley hielt die Fotografie so, dass seine Schwester sie ebenfalls betrachten konnte. Die Aufnahme zeigte eine hübsche junge Frau Anfang zwanzig, die ihr Kinn trotzig nach oben reckte. Devon Graycliff lächelte nicht, weil sie sich offenbar große Mühe gab, düster und aggressiv zu wirken. Dennoch war Lord Stanley sicher, dass sie unter dieser Fassade eine Verletzlichkeit verbergen wollte. Lady Nora war offenbar derselben Meinung, drückte sich aber wie gewohnt unverblümt aus. Devon will taff wirken, ist aber tief in ihrem Inneren ein Weichei. Lady Eleonora quittierte diese Bemerkung mit einem Heben ihrer Augenbrauen, und auch Lord Stanley warf seiner Schwester einen strafenden Blick zu. Ich muss doch sehr bitten, meine Gute. Was?, erwiderte Lady Nora mit gespielter Verständnislosigkeit. Es ist niemandem damit gedient, wenn wir die Wahrheit unter Höflichkeitsfloskeln verbergen, Stan. Ich wollte Devon keineswegs kritisieren. Aber die Tatsache, dass sie sich härter gibt, als sie in Wirklichkeit ist, kann ein wichtiger Hinweis auf ihr spurloses Verschwinden sein. Lord Stanley seufzte innerlich. Das war ihm natürlich auch klar. Er hätte sich nur gewünscht, dass seine Schwester ihre Meinung etwas dezenter kundgetan hätte. Andererseits war Noras Direktheit ein Wesenszug, den sie vermutlich niemals ablegen würde. Der Privatermittler konzentrierte sich lieber wieder auf das Foto. Er lenkte die Aufmerksamkeit von Nora und Lady Eleonora auf den silbernen Anhänger, den Devon zur Zeit der Aufnahme um den Hals getragen hatte. Dieses Schmuckstück soll offenbar eine Eule darstellen. Ist Ihnen bekannt, ob sich Ihre Enkelin intensiver mit der Symbolik auseinandergesetzt hat, von der diese Vögel umrankt werden? Lady Eleonora quittierte Lord Stanleys Frage mit einem verständnislosen Schulterzucken. Ich fürchte, dass Devon ihre Gedankenwelt nur äußerst sparsam mit mir geteilt hat. Ich bin auch nicht sicher, ob das Kind dieses Schmuckstück nicht bloß aus einer puren Laune heraus angelegt hat. Devon ist ja, wie Sie an ihrer persönlichen Umgebung erkennen können, geradezu chronisch unkonventionell. Insofern bin ich beinahe verwundert, dass meine Enkelin nicht eine weitaus provokativere Halskette angelegt hat als jene mit der Eule. Lord Stanley schüttelte den Kopf. Da bin ich etwas anderer Auffassung, Lady Eleonora. Die Eule gehört wohl neben dem Adler zu den symbolträchtigsten Vögeln überhaupt. Schon im Altertum wurde sie bekanntlich als ein Platzhalter für Weisheit angesehen. Aus diesem Grund führen auch viele Universitäten oder Bibliotheken eine Eule in ihrem Wappen. Andererseits gilt dieser Vogel aber auch als Totenvogel oder positiver ausgedrückt, als ein Bote, der die Seele des Sterbenden aus unserer Welt hinüber in das Totenreich begleitet. Lady Eleonora war skeptisch. Ich bin mir nicht sicher, ob sich Devon solche tiefschürfenden Gedanken gemacht hat, Lord Stanley. Was sie dort auf dem Foto trägt, ist doch letztlich nur scheußlicher Modeschmuck, den man für ein paar Pennies auf der Petticoat Lane oder jedem anderen Londoner Flohmarkt käuflich erwerben kann. Gerade weil der Halsschmuck zweifellos billig war, wird Ihre Enkelin ihn hauptsächlich wegen seiner Symbolkraft getragen haben, widersprach der Lord. Es ist allgemein bekannt, dass Ihre Familie keine finanziellen Sorgen hat. Devon wäre also in der Lage gewesen, weitaus höherwertigere Ketten oder Broschen anzulegen. Was meinst du dazu, Schwesterherz? Lord Stanley war nämlich aufgefallen, dass sich Lady Nora mit ihren Ansichten zurückhielt, was normalerweise nicht ihre Art war. Die junge Privatermittlerin hatte offenbar intensiv nachgedacht, das merkte er ihr an. Sind wir uns einig darüber, dass das Verschwinden von Devon in Zusammenhang mit diesem Totenschädel und der Drohung steht, der goldene Skorpion würde sie erwischen? Lord Stanley nickte. Mit der Symbolik kenne ich mich nicht so aus, trumpfte Lady Nora auf, aber ich weiß, dass in der Tierwelt Eulen die natürlichen Feinde von Skorpionen sind. Wenn der Skorpion auch ein gefährliches Lebewesen ist gegen eine aus der Luft hinabstoßende Eule hat er meist keine Chance. ![]() LITERRA-ONLINE-SERIE: BIG BEN Ermittlungen im Teesalon
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Schlussakkord
Alisha Bionda - Artikel |
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Eulen und Skorpione
Alisha Bionda - Artikel |
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Eulennacht
Alisha Bionda - Artikel |
ManuskripteBITTE KEINE MANUSKRIPTE EINSENDEN!
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