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Eulen und Skorpione

LITERRA-ONLINE-SERIE: BIG BEN – Ermittlungen im Teesalon LITERRA-ONLINE-SERIE: BIG BEN – Ermittlungen im Teesalon

8. Episode


Lady Nora saß mit Charles Prentiss im Fond des familieneigenen Bentleys, der von Lord Stanley durch die Nacht gelenkt wurde. Ein uneingeweihter Beobachter hätte die beiden für ein Liebespaar halten können, was sie vor Jahren in der Tat auch gewesen waren. Aber diese Zeiten würden nicht wiederkehren – und das nicht nur, weil die fechterisch begabte junge Adlige das Toupet des Gentleman-Ganoven als Taschentuch missbraucht hatte.
Immerhin unternahm Prentiss keinen Fluchtversuch, denn Lady Nora hatte ihm nicht nur seinen Totschläger abgenommen. Vielmehr behielt sie diese Nahkampfwaffe für sich selbst. Lady Nora spielte damit, als ob sie den Einsatz des gemeinen Schlaginstruments kaum abwarten könne.
Lord Stanley bemerkte im Rückspiegel, was seine Schwester tat. „Man könnte meinen, dass es dich nach einer Gewaltorgie gelüstet, Schwesterherz.“
„Das ist etwas verwegen ausgedrückt, Stan. Ich bereite mich nur darauf vor, es womöglich mit mehreren unnachgiebigen Gegnern zu tun zu bekommen.“
„Wir sollten vielleicht doch besser Inspektor Duncan informieren, um uns Rückendeckung durch New Scotland Yard zu verschaffen.“
Prentiss hüpfte in die Höhe, als ob sich plötzlich eine Reißzwecke unter seiner Kehrseite materialisiert hätte.
„Sie haben mir versprochen, die Polizei herauszuhalten!“
„Und auf eine Zusage durch Lady Nora und Lord Stanley kannst du dich felsenfest verlassen, mein Lieber. Wir sind schließlich keine skrupellosen Kriminellen.“
Der Einbrecher öffnete den Mund, wollte den Einwurf seiner ehemals Geliebten offenbar mit einer scharfzüngigen Antwort quittieren. Aber dann besann er sich doch eines Besseren und starrte nur stumpf vor sich hin.
„Dort vorn müssen Sie links abbiegen, Lord Stanley. Hinter der Schleuse von Teddington Lock endet unsere Fahrt.“
Der Adlige bremste seinen Bentley und stellte den Motor aus. Fahles Licht von wenigen Peitschenlaternen fiel auf die schmuddligen Kaianlagen am Themse-Ufer. Hier reihte sich ein Hausboot an das nächste. Keiner dieser Seelenverkäufer wirkte besonders komfortabel.
Die beiden Privatermittler stiegen aus, wobei sie ihren Gefangenen mitnahmen und genau im Auge behielten.
Aus einigen Bootskajüten drangen Musik oder Fernsehgeräusche, Öfen waren in Betrieb und schickten scharf riechenden Qualm in die Londoner Nachtluft.
Lady Nora rieb sich verblüfft die Augen. „Es gibt mehrere tausend Hausboote in London, wenn ich richtig informiert bin. Diese Umgebung ist kein schlechtes Versteck, sollte man meinen. Die Polizei kontrolliert zwar stichprobenartig die Bewohner, aber mich erinnert diese Community an einen Ameisenhaufen. Ich bezweifle, dass die Behörden genau wissen, was hier vor sich geht und wer genau in welchem Boot haust.“
„Gut, ich verabschiede mich dann. Es hat mich gefreut, dich wiederzusehen, Nora. Und …“
Prentiss konnte den Satz nicht beenden, denn die junge Adlige packte ihn am Kragen. „Nicht so eilig, mein Freund. Zunächst wollen Stan und ich uns davon überzeugen, dass du dich nicht geirrt hast – ganz ohne böse Absicht, selbstverständlich.“
„Ich irre mich nicht“, beteuerte der Einbrecher. Doch Charles Prentiss hatte bereits zuvor bewiesen, dass er es mit der Wahrheit nicht so genau nahm. Lady Nora wollte sich jedenfalls nicht darauf verlassen, dass ihm kein spontaner Fluchtversuch in den Sinn kam. Deshalb packte sie sein rechtes Handgelenk, drehte es auf seinen Rücken und schob ihn vor sich her.
Der Gentleman-Einbrecher gab einen leisen Schmerzenslaut von sich, hielt es aber offenbar für unter seiner männlichen Würde, laut zu schreien. Vielleicht wollte er auch einfach keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Jedenfalls steuerte er zielsicher auf einen Kahn zu, der hauptsächlich durch Rostschutzfarbe zusammengehalten wurde. Das war jedenfalls Lord Stanleys Eindruck. Der adlige Privatermittler hatte schon bei so mancher Regatta gesegelt. Doch das Schiff, über dessen Gangway er nun schritt, konnte sich seiner Ansicht nach höchstens in eine Richtung bewegen – nämlich vertikal abwärts, in Richtung Grund der Themse. Momentan verhinderten allerdings die Stahltrossen, mit denen das Hausboot vertäut war, einen solchen Untergang.
Nicht nur Lord Stanley, sondern auch seine Schwester und Prentiss waren nun an Bord. Sie standen auf dem kleinen Achterdeck so dicht gedrängt wie U-Bahn-Passagiere der Circle Line während der Rush Hour. Da der Adlige unklare Situationen nicht schätzte, stieß er die Tür zur Wohnkabine auf.
Im Inneren hatte sich offenbar eine Person mit bohémienhaftem Lebensstil häuslich eingerichtet. Das war jedenfalls Lord Stanleys Eindruck. Er hätte es sich in diesem dubiosen Stillleben aus leeren Konservendosen, defektem Plastikspielzeug, zerfledderten Comics und Pizzakartons jedenfalls niemals wohlfühlen können. Aber Lord Stanleys Betrachtungen bezüglich Wohnbehaglichkeit traten in den Hintergrund, als er eine gefesselte und geknebelte Person inmitten des Chaos erblickte.
„Lady Eleonora! Beim Zeus, was tun Sie hier?“
Die Frage des Privatermittlers war sinnlos, denn momentan konnte seine Auftraggeberin noch nicht antworten. Lord Stanley und Lady Nora eilten sofort zu ihr, um die rüstige Seniorin zu befreien. Das war die Gelegenheit, auf die Charles Prentiss gewartet hatte. Der Kriminelle nahm die Beine in die Hand und stürmte aus der Kajüte.
Lady Nora wollte ihn verfolgen, aber ihr Bruder legte ihr beruhigend eine Hand auf den Unterarm. „Lass ihn nur, Schwesterherz. Ich bin sicher, dass wir oder die Polizei diesen Vogel sehr schnell wieder einfangen können, wenn es nötig sein sollte.“ Er wandte sich nun an Lady Eleonora. „Benötigen Sie ärztlichen Beistand? Wie lange sind Sie schon in der Gewalt der Kidnapper?“
Während sich der Privatermittler mit der älteren Dame befasste, überprüfte Lady Nora schnell die wenigen übrigen Räume des Hausbootes. Sie kam zu Lord Stanley zurück und schüttelte den Kopf. Offenbar hatten die Kidnapper ihr Opfer allein gelassen.
Lady Eleonora hatte es geschafft, trotz der misslichen Lage ihre Contenance zu wahren. Entsprechend flüssig kam ihr nun auch der Erlebnisbericht über ihre schmalen Lippen.
„Ich hatte gerade dem Butler Anweisung gegeben, meinen Fünf-Uhr-Tee zuzubereiten, als mich zwei maskierte Gestalten mit vorgehaltener Waffe zum Dienstboteneingang komplimentierten. Sie zogen mir eine Art Kapuze über den Kopf und schafften mich in einem motorisierten Gefährt fort. Ich hielt es nicht für opportun, um Hilfe zu rufen.“
„Haben die Kidnapper mit Ihnen gesprochen?“
„Nein, Lord Stanley. Sie gestikulierten lediglich. Und ich halte es für unter meiner Würde, mit derartigen Individuen kommunizieren zu wollen.“
Lord Stanley nickte. Sein versonnener Gesichtsausdruck entging seiner Schwester nicht.
„Woran denkst du, Stan?“
„Es fragt sich natürlich, weshalb die Entführung wortlos über die Bühne ging. Eine Erklärung könnte darin bestehen, dass Lady Eleonora von Täterinnen entführt wurde.“
Die Hobbydetektivin hob eine Augenbraue. „Weshalb auch nicht? Traust du es Frauen nicht zu, ein solches Verbrechen zu begehen?“
„Du solltest mich gut genug kennen, Schwesterherz. Ich hänge nicht am traditionellen Geschlechterverhältnis. Darf ich dich daran erinnern, dass wir bereits eine Verdächtige weiblichen Geschlechts auf unserer Liste hatten?“
„Ja, deine kratzbürstige und Pfefferspray versprühende Bradana Galway“, stichelte Lady Nora. Aber bevor Lord Stanley zu einer Retourkutsche ansetzen konnte, ertönten plötzlich Schritte auf der Gangway. Die beiden Privatermittler waren sofort alarmiert. Sie gingen links und rechts der Tür in Deckung, während Lady Eleonora kaltblütig wieder auf ihrem Stuhl Platz nahm. Die Kidnapper sollten nicht sofort erkennen, dass sie befreit worden war.
Nun wurde die schmale Tür zur Kabine aufgestoßen, und eine Person trat ein. Im Handumdrehen wurde sie von Lady Nora gepackt. Die Verdächtige stieß einen schrillen Überraschungsschrei aus. Den adligen Privatermittlern verschlug es hingegen vor Verblüffung die Sprache. Nur Lady Eleonora ergriff das Wort, als sie die Person erblickte.
„Devon! Du? Aber – was hat dieser groteske Aufzug zu bedeuten?“
Die junge Frau war nämlich in einen roten Lackledermantel gekleidet, der ihre Pobacken nur äußerst knapp bedeckte. Ihre Beine steckten in halterlosen Strümpfen, und sie balancierte auf besorgniserregend hohen Absätzen. Alles in allem war ihre äußere Erscheinung einer jungen Dame aus der besseren Gesellschaft höchst unwürdig.
„Du siehst aus wie eine Stripperin!“, stellte Lady Eleonora mit einem vernichtenden Unterton in der Stimme fest.
„Ich bin eine Stripperin“, erwiderte die Frau im Lackmantel. Daraufhin erhob sich die betagte Adlige von ihrem Stuhl und kam irritiert blinzelnd näher. Sie blieb vor der lasziv gekleideten jungen Dame stehen und taxierte sie mit einem Röntgenblick von oben bis unten.
„Das ist nicht meine Enkelin“, stellte Lady Eleonora mit einem Unterton der Erleichterung in der Stimme fest. „Die Ähnlichkeit ist frappierend, aber nur dann, wenn man nicht genau hinschaut. Was hat das alles zu bedeuten, Miss?“
Lord Stanley fand eigentlich, dass die Befragung einer Verdächtigen ihm und seiner Schwester vorbehalten sein sollte. Er ließ sich ungern das Heft aus der Hand nehmen. Aber die Worte quollen bereits aus der Stripperin heraus, als ob sie an einem Schnellsprechwettbewerb teilnehmen würde.
„Devon ist eine Freundin von mir, wir haben uns vor einem halben Jahr zufällig in der U-Bahn kennengelernt. Wir waren beide völlig geflasht davon, wie ähnlich wir uns sehen. Und Devon brauchte nicht lange, um mich zum Eintritt in den Eulenbund zu bewegen. Verstehen Sie, ich habe noch niemals zuvor etwas wirklich Sinnvolles gemacht. Außerdem fand ich es auch einfach spannend und aufregend, dass wir uns mit dem Goldenen Skorpion angelegt haben.“
Lord Stanley fand die Offenherzigkeit der Verdächtigen bemerkenswert. Bevor sie weiterreden konnte, hakte er ein. „Was genau dürfen wir uns denn unter dem Eulenbund vorstellen? Und wie heißen Sie eigentlich, wenn die Frage gestattet ist?“
„Mein Name ist Poppy. So lautet jedenfalls mein Künstlername, unter dem ich in den Clubs von Soho auftrete. Und der Eulenbund ist eine Geheimorganisation, die der Bewahrung der Weisheit auf ihre Fahnen geschrieben hat.“
„Charles Prentiss gehört auch zu Ihrem illustren Club?“, vergewisserte sich Lady Nora.
Poppy nickte kichernd. „Ja, Devon hat ihn angeworben. Allerdings konnten wir vor ihm stets verbergen, dass es uns im Doppelpack gibt. Manchmal bin ich in ihre Rolle geschlüpft, um ihn zu treffen. Und ich kann behaupten, dass er nie etwas bemerkt hat.“
„Faszinierend“, bemerkte Lord Stanley trocken. „Aus wie vielen Mitgliedern besteht denn Ihre Organisation?“
„Aus Devon, Charles Prentiss und aus mir. Man muss nicht zahlreich sein, wenn man ein überzeugendes Ziel verfolgt.“
„Zweifellos. Aber mir ist immer noch nicht klar, weswegen diese Feindschaft mit dem Goldenen Skorpion besteht.“
Poppys Gesicht nahm einen fanatischen Ausdruck an, als sie Lord Stanleys Frage beantwortete. „Der goldene Skorpion beabsichtigt eine schleichende Verdummung der britischen Bevölkerung, und in London wollen sie damit beginnen. Je geistig schlichter die Menschen sind, desto leichter lassen sie sich manipulieren.“
„Wenn ich mir das TV-Programm so anschaue, scheint diese Absicht größtenteils schon gelungen zu sein“, warf Lady Nora ein. Doch die Stripperin konnte der launigen Bemerkung der Privatermittlerin nichts Komisches abgewinnen. „Das ist nicht lustig! Haben Sie schon mal was von Fluorid gehört? Wenn man dieses Teufelszeug ins Trinkwasser mischt, werden die Leute schleichend immer stumpfer und lassen sich um den Finger wickeln. Der Goldene Skorpion hat einen genialen, aber skrupellosen Chemiker in seinen Reihen, der …“
Poppy konnte den Satz nicht beenden, denn nun erbleichte Lady Eleonora plötzlich. Die Seniorin schien mit Kreislaufproblemen zu kämpfen. Sie schwankte hin und her, wäre vermutlich gestürzt, wenn Lady Nora sie nicht aufgefangen hätte. Es dauerte einen Moment, bis ihre schreckensbleichen Lippen einen Satz formten: „Ich ahne, wer hinter dem Goldenen Skorpion stecken könnte.“

Shikomo
Shikomo
© http://www.shikomo.de

LITERRA-ONLINE-SERIE: BIG BEN – Ermittlungen im Teesalon
Beitrag vom 22. Okt. 2015


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