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Der explodierende Weihnachtsmann
LITERRA-ONLINE-SERIE: BIG BEN Ermittlungen im Teesalon Lord Stanley Winter schätzte die Adventszeit überhaupt nicht. Seiner Meinung nach verwandelte sich die Londoner City während dieser Wochen in eine überzuckerte Vorhölle, die von einem nikolausbemützten Lynchmob terrorisiert wurde. Der Amateurdetektiv verschanzte sich so oft wie möglich in seinem Teesalon, um die abgearbeiteten Fälle des Jahres zu archivieren.
Lord Stanley zog die Augenbrauen zusammen, als es an seiner Tür klopfte und gleich darauf jemand forschen Schrittes eintrat. Doch dann entspannte sich der junge Adlige, denn er erkannte seinen Freund John Duncan. Der beflissene, wenn auch äußerst fantasiearme Inspektor von New Scotland Yard trug eine Leichenbittermiene zur Schau.
Schlägt Ihnen das Christbaumkugel-Geklingel auch aufs Gemüt, Inspektor?, rief Lord Stanley jovial. Kann ich Sie vielleicht mit einer Tasse gutem Darjeeling-Tee aufheitern?
Der Polizeibeamte schüttelte den Kopf. Bedauerlicherweise hat mein Besuch einen ernsteren Hintergrund. Vor knapp zwei Stunden wurde das Juweliergeschäft von Sheila Tremaine in der Regent Street überfallen. Eine Weihnachtsmann-Attrappe ist explodiert, in der offenbar eine mit Gas gefüllte Bombe versteckt war. Die Angestellten sowie sämtliche anwesenden Kunden wurden betäubt. Die Diebe drangen in das Geschäft ein und entwendeten Schmuck im Wert von einer halben Million Pfund.
Lord Stanley kniff die Augen zusammen. Und das ist noch nicht die ganze Wahrheit, wenn mich nicht alles täuscht, Inspektor.
John Duncan seufzte. Er konnte seinem adligen Freund wirklich nichts vormachen Bedauerlicherweise befindet sich auch Ihre Schwester Nora unter den Opfern. Aber sie
Der Amateurdetektiv sprang auf wie ein Kastenteufel, der aus seiner Schachtel schnellt. In welches Krankenhaus wurde Nora eingeliefert? Oder ist sie
Nein, zum Glück nicht. Ihre Schwester liegt im Kings College Hospital.
Ich gehe davon aus, dass Sie mich begleiten wollen, Inspektor?
Lord Stanley war in Windeseile in Hut und Mantel geschlüpft. Der Kriminalbeamte hatte Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Doch wenig später erreichten die beiden so unterschiedlichen Männer die Tiefgarage, in der Lord Stanley seinen Bentley abzustellen pflegte. Er raste mit diesem unter Missachtung zahlreicher Verkehrsregeln zum Krankenhaus. Und obwohl es zu Inspektor Duncans Dienstobliegenheiten gehört hätte, dieses Verhalten zu unterbinden, so drückte er in diesem Fall sämtliche Augen zu. Ihm war schließlich bekannt, wie nahe sich die blaublütigen Geschwister standen.
Am Ziel angekommen gelangten die beiden Gentlemen mit Hilfe von Inspektor Duncans Dienstausweis im Handumdrehen zum behandelnden Arzt. Sein Name war Doktor Lawrence.
Der Zustand Ihrer Schwester ist stabil, erklärte er dem Lord, nachdem der Arzt über die Verwandtschaftsverhältnisse informiert wurde. Genau wie die übrigen Anwesenden in dem Juweliergeschäft fiel Lady Winter innerhalb von dreißig Sekunden in eine tiefe Bewusstlosigkeit, hervorgerufen durch das Einatmen eines Gases.
Erste Erkenntnisse der Spurensicherung haben ergeben, dass die Weihnachtsmann-Explosion per Fernzünder hervorgerufen wurde, ergänzte Inspektor Duncan. Im Inneren der Attrappe befand sich eine Patrone, die offenbar jene betäubende Substanz enthielt. Unsere Chemiker analysieren noch die Zusammensetzung des Stoffes. Aber wir können davon ausgehen, dass es sich um eine neuartige Verbindung handelt, die innerhalb kürzester Zeit eine tiefe Bewusstlosigkeit hervorruft.
Lord Stanley nickte zerstreut, was nicht seiner üblichen konzentrierten und kontemplativen Art entsprach. Ich würde gerne Nora sehen, bat er mit matter Stimme.
Dr. Lawrence wies eine Krankenschwester an, die beiden Gentlemen zu der Patientin zu bringen. Wäre der Privatermittler völlig Herr seiner Sinne gewesen, dann hätte er das Parfüm der Pflegerin als ähnlich betäubend empfunden wie das bei dem Raub eingesetzte Gas. So aber kreisten seine Gedanken nur um das Wohlergehen seiner Schwester.
Doch Lord Stanleys Sorgen erwiesen sich als unbegründet. Als er gemeinsam mit Inspektor Duncan das Krankenzimmer betrat, begrüßte Lady Nora ihn mit einem strahlenden Lächeln. Sie wirkte so entspannt, als ob sie sich soeben ein Wellness-Wochenende gegönnt hätte.
Was tust du denn im Hospital, Stan? Du wirst dir doch wohl keinen grippalen Infekt eingefangen haben?, scherzte sie.
Der Lord ging auf die launige Bemerkung nicht ein. Er setzte sich neben das Bett und nahm ihre Hand. Wie geht es dir, Nora?
Wirklich blendend, und dafür gibt es einen Grund. Ich habe den Juwelenraub nämlich mit eigenen Augen beobachten können.
***
Diese Neuigkeit verblüffte sowohl Lord Stanley als auch Inspektor Duncan. Insbesondere der Kriminalist schnitt ein Gesicht, als ob er an einen jahreszeitlich verrutschten Aprilscherz glauben würde.
Aber das Gas müsste Sie ebenso betäubt haben wie die übrigen Opfer, meine Teuerste.
Im Normalfall würde ich Ihnen Recht geben, Inspektor. Allerdings konnten die Täter nicht wissen, dass ich vor Jahren vom tibetischen Hustenfloh gebissen worden bin. Dadurch kam es in meinem Körper zu einer äußerst seltenen allergischen Reaktion, die eine dauerhafte Unempfindlichkeit gegen zahlreiche Betäubungsgase zur Folge hatte. Es erschien mit in dem Moment allerdings taktisch klüger, mich ohnmächtig zu stellen. Ich wollte das Leben der anderen Opfer nicht gefährden, und ich hatte ja auch meinen Degen nicht bei mir.
Der Inspektor nickte. Ihm war natürlich bekannt, dass Lady Nora eine berühmt-berüchtigte Fechterin war. Aber momentan interessierte ihn hauptsächlich, die vermutlich einzige Augenzeugin der infamen Tat vor sich zu haben.
Kann ich von Ihnen eine möglichst detaillierte Täterbeschreibung bekommen, Lady Nora?
Die junge Adlige stieß ein perlendes Gelächter aus, als ob der Kriminalist einen Witz gemacht hätte. Mehr noch, werter Inspektor. Ich habe den Delinquenten sogar erkannt. Er kam sich vermutlich besonders raffiniert vor, weil er ohne Maske das Ladengeschäft betrat. Es würde mich übrigens nicht verwundert, wenn die Überwachungskameras für den fraglichen Zeitpunkt außer Betrieb gesetzt worden wären. Wie auch immer, ich kann Ihnen den Namen des Juwelenräubers nennen.
Wer ist es?, fragte John Duncan auf seine direkte Art.
Lady Nora schüttelte lächelnd den Kopf. Er wird uns nicht entkommen, denn dieser Schurke und seine Komplizin kommen sich sehr raffiniert vor. Was halten Sie davon, wenn wir die Verhaftung auf den ersten Weihnachtsfeiertag verlegen? Ich kann Ihre Geduld belohnen, indem wir für den nötigen Knalleffekt sorgen. Und es wäre nicht verwunderlich, wenn Sie daraufhin im kommenden Jahr zum Oberinspektor befördert werden würden.
Lord Stanley verfolgte den Wortwechsel zwischen seiner Schwester und dem Kriminalbeamten schweigend und staunend. Er musste sich eingestehen, dass er dieses Mal nicht den geringsten Schimmer davon hatte, wer der oder die Verdächtigen sein konnten. Aber er war erleichtert, weil Lady Nora den heimtückischen Angriff offenbar ohne nennenswerte Blessuren überstanden hatte. Und wenn seine Schwester den Fall im Alleingang aufklären konnte, so bereitete ihm diese Vorstellung keine Bauchschmerzen.
Lord Stanley stand der Idee der Frauenemanzipation sehr aufgeschlossen gegenüber.
***
Es wurde in der Londoner Gesellschaft als äußerst positiv aufgenommen, dass sich Sheila Tremaine nach dem Überfall auf ihr Geschäft nicht zurückzog, sondern traditionell am ersten Weihnachtsfeiertag ein Gala-Dinner zugunsten der Londoner Waisenhäuser ausrichtete, so wie sie es traditionellerweise jedes Jahr tat.
Natürlich hatten auch Lord Stanley und Lady Nora schon im Vorverkauf zwei Karten für dieses gesellschaftliche Event erstanden, da sie karitative Zwecke großzügig förderten und sich ansonsten auch gerne in den Kreisen der High Society bewegten.
Umso größer war Sheila Tremaines Irritation, als sie den jungen Lord allein in Empfang nahm. Die Besitzerin des renommierten Juwelengeschäfts schaute sich suchend um.
Erscheint Ihre Schwester später, Euer Lordschaft?
Lord Stanley hob bedauernd die Augenbrauen.
Ich muss Lady Nora leider entschuldigen, Miss Tremaine. Der heimtückische Überfall auf Ihren Laden hat meine Schwester so mitgenommen, dass sie sich psychisch noch nicht zu einem öffentlichen Auftritt in der Lage fühlt.
Das ist wirklich bedauerlich, sagte die Juwelierin. Richten Sie Lady Nora bitte meine Genesungswünsche aus. Darf ich Ihnen meinen Lebensgefährten Rick Barry vorstellen?
Sheila Tremaine deutete auf einen neben ihr stehenden Schönling, der mindestens zwanzig Jahre jünger und einen Kopf größer war als sie selbst.
Sie kommen mir bekannt vor, Mister Barry, bemerkte der Privatermittler.
Das ist gut möglich, erwiderte dieser arrogant. Ich bin ein international gebuchtes Model.
Sheila Tremaine warf ihm einen verliebten Blick zu, doch Lord Stanley schnippte plebejisch mit den Fingern. Jetzt erinnere ich mich! Haben Sie nicht vor einiger Zeit für ein bekanntes Herren-Unterwäsche-Label Modell gestanden?
Der Dressman zuckte zusammen, würdigte Lord Stanley keiner Antwort und wandte sich schon den nächsten Gästen zu, die in der langen Reihe geduldig warteten. Auch Sheila Tremaine bedachte den Privatermittler mit einem giftigen Blick. Lord Stanley war davon gänzlich unbeeindruckt und suchte sich den ihm zugewiesenen Platz an der festlich gedeckten Tafel.
Dort betrieb er im Verlauf des Abends gepflegte Konversation mit seiner Tischdame Lady Woomington. Natürlich war auch hier neben dem Christfest und dem bevorstehenden Jahreswechsel der unaufgeklärte Juwelenraub Thema Nummer eins.
Ist das nicht beunruhigend? Lady seufzte Woomington und nestelte diskret an dem Korsett unter ihrem Abendkleid. Die Polizei hat offenbar immer noch keine Spur von den Juwelendieben. Wenn man den Zeitungen glauben darf, dann hätten zahlreiche Verdächtige die Möglichkeit gehabt, jene Weihnachtsmann-Attrappe zu manipulieren, die dann so spektakulär in den Räumlichkeiten unserer bedauernswerten Gastgeberin in die Luft geflogen ist.
Ja, ob man den Zeitungen glauben sollte, ist in der Tat eine nicht leicht zu beantwortende Frage, bemerkte Lord Stanley süffisant. Aber ich könnte mir vorstellen, dass dieses Verbrechen kurz vor seiner Aufklärung steht.
Das Dinner verlief ohne Zwischenfälle. Doch als das Dessert serviert werden sollte, öffnete sich plötzlich die Tür, und zwei Diener schleppten eine gewaltige Torte herein. Außer Lord Stanley war jeder Anwesende überrascht. Sheila Tremaine schüttelte verständnislos den Kopf.
Was soll das? Ich habe als Dessert Créme brulee geordert und keine kitschige, amerikanisch anmutende Sahnetorte.
Doch die Diener in Wahrheit handelte es sich um Inspektor Duncan und Malvinus Brekker stellten die Torte völlig unbeeindruckt von den Worten der Gastgeberin direkt vor Sheila Tremaine und Rick Barry ab.
Die Juwelierin öffnete den Mund, um die vermeintlichen Lakaien erneut anzufahren. Doch da sprang plötzlich Lady Nora Winter aus der Torte!
Eine allgemeine Panik brach aus insbesondere, da die junge Amateurdetektivin nun auch noch ihre mitgebrachten Handschellen schnell und zielsicher um die Handgelenke des schönen männlichen Models schloss.
Darf ich Ihnen den Juwelendieb präsentieren?, rief Lady Nora und drehte sich kokett einmal um die eigene Achse.
Sind Sie verrückt geworden?, schnarrte Rick Barry und zerrte sinnloserweise an seinen Fesseln.
Die Adlige schüttelte den Kopf. Keineswegs. Ich habe Sie gesehen, als Sie die Warenbestände Ihrer ältlichen Geliebten plünderten
die im Übrigen mit Ihnen unter einer Decke steckt, da sie aufgrund ihrer desolaten Finanzlage das Geld von der Versicherung dringend benötigte, ergänzte Lord Stanley.
D-das können Sie uns nicht beweisen, stammelte die überrumpelte Juwelierin.
Noch nicht, warf Inspektor Duncan ein und präsentierte seinen Dienstausweis. Doch in diesen Minuten durchsuchen Kollegen von mir das Apartment von Rick Barry. Und ich bin sicher, dass sie Hinweise auf den Juwelenraub finden werden.
Einen Augenblick lang breitete sich in dem Saal verblüfftes Schweigen aus, doch dann fand Lord Stanley die passenden Worte. Nachdem nun wieder die Gerechtigkeit gesiegt hat, wünsche ich allen Anwesenden ein frohes Weihnachtsfest!
Shikomo © http://www.shikomo.de
LITERRA-ONLINE-SERIE: BIG BEN Ermittlungen im Teesalon Beitrag vom 24. Dez. 2014
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