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Der Stierkopf4. Episode Nein, Bradana Galway war gewiss kein Unschuldslamm. Aber Lord Stanley wollte auf jeden Fall verhindern, dass sie in dieser Silvesternacht in einer stillgelegten Londoner U-Bahn-Station irgendwelchen dubiosen Götzen geopfert wurde. Doch momentan stand er gemeinsam mit seiner Schwester einer vielköpfigen Menge von verkleideten Partygästen gegenüber, die dem Menschenopfer förmlich entgegenzufiebern schienen. Jedenfalls brachen viele dieser Existenzen in wüste Begeisterungsschreie aus, nachdem einige von den Kerlen Bradana gepackt und auf einen Opferstein gepresst hatten. Die junge Frau in dem engen Kostüm strampelte, spuckte und gab nicht druckreife Flüche von sich. Aber gegen die Übermacht hatte sie keine Chance. Lord Stanley blieb keine Zeit zum Nachdenken. In dem Moment, wo er in Aktion trat, würde sein in Deckung befindlicher Mitarbeiter Malvinus Brekker die Polizei rufen. Doch in einer hauptstädtischen Silvesternacht konnte es lange dauern, bis die Einsatzkräfte vor Ort waren. Besonders, da sich die dramatische Szene in der stillgelegten Untergrundbahnstation St. Marys abspielte. Und der Adlige war nicht sicher, inwieweit die Beamten von New Scotland Yard überhaupt mit dieser Lokalität vertraut waren. Doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Es galt, ein Menschenleben zu retten. Da war beherztes Einschreiten gefragt, nicht etwa weitschweifige intellektuelle Betrachtungen. Der Anführer des düsteren Quartetts, das Bradana gepackt hatte, zog ein langes Messer unter seinem schmutzigen Gewand hervor. Währenddessen begannen seine Spießgesellen damit, die Hand- und Fußgelenke des zukünftigen Menschenopfers an Pflöcke neben dem flachen Stein zu binden. Lord Stanley nickte seiner neben ihm stehenden Schwester zu. Und Lady Nora, die längst ihrem eigenen Eingreifen entgegenfieberte, verstand ihren Bruder auch ohne Worte. Sie zog mit einer blitzschnellen eleganten Bewegung ihren Degen. Im nächsten Moment richtete sie die Spitze auf den Mann mit dem Messer. Weg mit der Klinge!, blaffte Lady Nora mit einer Entschlossenheit in der Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Das adlige Geschwisterpaar hatte sich schon häufiger in heiklen Situationen befunden. Doch mit einer Horde von obskuren Finsterlingen hatten sie es noch nie zu tun gehabt. Ein Grollen ging durch die Menge. Einige der in der Nähe befindlichen Partygäste machten Anstalten, auf Lady Nora zugehen zu wollen. Sie schob ihre Degenspitze ein Stück weit vor. Nun lagen nur noch drei Fingerbreit zwischen der tödlichen Blankwaffe und dem Kehlkopf des Anführers. Bleibt zurück!, rief die blaublütige Detektivin. Wer einen Schritt näher kommt, der wird in dem Blut dieses Möchtegern-Märtyrers baden! Die melodramatischen Worte schienen zu wirken, denn die bedrohliche Menschenfront verharrte abrupt wie einst Lots Weib in der Wüste. Offenbar lag den Leuten etwas an dem verwegen aussehenden Burschen, den Lady Nora vor ihrer Klinge hatte. Er wies wirklich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem zerzausten Urchristen auf. Gewiss, momentan konnte Lady Nora die Meute in Schach halten. Aber wie lange würde das möglich sein? Währenddessen blieb ihr Bruder nicht untätig. Lord Stanley knöpfte sich die drei übrigen Gestalten vor, die Bradana Galway auf den Opferstein gepresst hatten. Er war im Gegensatz zu seiner Schwester nicht bewaffnet. Aber es wäre ein großer Fehler gewesen, den als venezianischen Pestarzt verkleideten Detektiv deshalb als harmlos einzustufen. Die bulligen Handlanger des Anführers glaubten offenbar, dass Lord Stanley kein ernstzunehmender Gegner für sie wäre, zumal sie ausnahmslos größer und kräftiger waren als der Adlige. Aber diese Selbstsicherheit wurde innerhalb von wenigen Sekunden handfest in Frage gestellt. Lord Stanley setzte nämlich gleich den ersten Widersacher mit einem gezielten Kung-Fu-Stoß außer Gefecht, den er einst in einem chinesischen Kloster gelernt hatte. Die Attacke hinterließ keine bleibenden Schäden, lähmte aber die Extremitäten eines Gegners für fast eine halbe Stunde. Der starke Kerl ging keuchend zu Boden, ohne Arme und Beine bewegen zu können. Dieser Anblick schockte die beiden Spießgesellen, was Lord Stanley kaltblütig für sich ausnutzte. Den ersten Angreifer setzte er mit einem seitenverkehrten Halbkreisfußtritt gegen die Schläfe außer Gefecht, dem anderen Mann blieb nach einem gezielten Stoß auf dessen Solarplexus buchstäblich die Luft weg. Lord Stanley riss sich die Pestarzt-Vogelmaske herunter, die sein Gesichtsfeld einschränkte. Außerdem wäre es unsinnig gewesen, sich jetzt noch tarnen zu wollen. Jeder der zahlreichen Partygäste war sich inzwischen darüber im Klaren, dass Lord Stanley und Lady Nora nicht zu ihrer fragwürdigen Community gehörten. Auch Bradana Galway riss die Augen auf, als Lord Stanley mit geschickten Fingern ihre Fesseln löste. Sie sind es!, keuchte die Kommilitonin der verschwundenen Devon Graycliff. Ich wusste, dass man Ihnen nicht trauen kann. Immerhin habe ich nicht vor, Sie irgendeinem Moloch zu opfern, erklärte Lord Stanley jovial. Könnten wir unsere Diskussion eventuell auf einen späteren Zeitpunkt verschieben? Es erscheint mir ratsam, dass wir uns möglichst zügig zurückziehen. Bradana nickte zustimmend und schwang sich mit einer fließenden Bewegung von dem Opferstein. Lord Stanley wurde plötzlich bewusst, dass sie ihn im Gegensatz zu ihrer ersten Begegnung gesiezt hatte. Ob das ein gutes Zeichen war? Darüber konnte er sich Gedanken machen, wenn sie den sich zu einem Lynchmob zusammenrottenden Partygästen entkommen waren. ![]() Wir werden nun diesem ungastlichen Ort Adieu sagen, Nora, teilte Lord Stanley seiner Schwester mit. Ja, und dieser Lumpenhund wird uns begleiten, erwiderte diese. Er ist nämlich momentan unsere beste Lebensversicherung. Mit diesen Worten packte sie den Anführer mit ihrer linken Hand am Arm, hielt aber weiterhin die Degenspitze mit rechts drohend auf seinen Hals gerichtet. Mit so einer Wendung hättest du wohl nicht gerechnet, Catha?, höhnte Bradana. Der mit Catha Angesprochene warf seiner ehemaligen Bundesgenossin einen hasserfüllten Blick zu. Du und deine beiden Freunde kommt niemals lebend an die Erdoberfläche, verfluchte Abtrünnige. Lord Stanley entnahm diesen Worten, dass zumindest Catha noch nichts von Malvinus Brekkers Anwesenheit bemerkt hatte, denn sonst wäre ja von drei Freunden die Rede gewesen. Aber jetzt musste er sich zunächst darauf konzentrieren, den Kreis aus vielfältig kostümierten Widersachern zu durchbrechen. Der Lord und Bradana gingen voran, wobei sie die im Weg stehenden Personen einfach hart zur Seite stießen. Lady Nora und ihr Gefangener folgten dicht hinter ihnen, wobei die Adlige und Catha rückwärts gingen. So behielt Lord Stanleys Schwester die Menschenmenge besser im Auge und konnte nicht von hinten angegriffen werden. So bemerkte sie rechtzeitig die Bierflasche, die jemand aus weiterer Entfernung plötzlich als Wurfgeschoss zweckentfremdete. Vorsicht, Stan! Auch ohne den Warnruf seiner Schwester zog Lord Stanley rechtzeitig den Kopf ein. Die Flasche flog an ihm vorbei und traf einen als Pirat verkleideten Partygast direkt ins Gesicht. Der ging zu Boden, als ob er von einer Blitz gefällt worden wäre. Das unfreiwillig zusammengewürfelte Quartett erreichte die Wendeltreppe, über die der Lord und seine Schwester auch gekommen waren. Die Meute folgte ihnen, wurde immer unruhiger. Lord Stanley dachte einen Moment lang über den Begriff der Schwarmintelligenz nach. Ob diesen Existenzen bewusst wurde, dass sich die Chancen der Flüchtenden beim Betreten der Eisentreppe vervielfachten? Auf jeden Fall wurden die Leute immer unruhiger und aggressiver. Dabei nahmen sie auch in Kauf, dass Catha zu Schaden kam. Oder ahnten sie, dass sich Lady Nora niemals an einem Unbewaffneten vergreifen würde? Jedenfalls bedrängten einige der Kerle Lord Stanleys Schwester, und sie musste sich die Angreifer mit Fußtritten vom Hals halten. Bradana und und ihr Bruder hatten die Treppe bereits erreicht und stiegen einige Stufen aufwärts. Lady Nora und Catha stolperten hinterher, wobei sich der Gefangene bewusst ungeschickt anstellte. Ihm war es offenbar wichtig, Zeit zu schinden. Lord Stanley konnte sich lebhaft vorstellen, dass er etwas Übles im Schilde führte. Wer eine wehrlose Frau zum Menschenopfer machen wollte, bei dem musste man mit allem Möglichen rechnen. Lady Nora hatte einen Entschluss gefasst. Sobald sie das obere Ende der Treppe erreicht hatten, packte sie den Anführer und beförderte ihn mit einem gewaltigen Stoß nach unten. Catha stürzte seinen Anhängern entgegen, wobei er sich mehrfach überschlug. War das eine weise Entscheidung, Schwesterherz?, fragte Lord Stanley mit einem leicht tadelnden Tonfall. Durchaus, Stan, erwiderte die junge Adlige selbstbewusst. Dieser behaarte Rabauke wurde zunehmend zu einer Last, und ohne ihn können wir uns viel schneller Richtung Ausgang bewegen. Dann sollten wir das auch. Der Privatermittler begann zu laufen. Bradana und Lady Nora hielten mit ihm Schritt, während die Wut- und Hassschreie des Mobs hinter ihnen zu einem bedrohlichen Crescendo anschwollen. Die Geräusche zahlreicher Tritte auf Metall zeugten davon, dass die Verfolger nun ebenfalls die Wendeltreppe hochstürmten. Lord Stanley musste sich währenddessen mit einer weiteren irritierenden Tatsache auseinandersetzen. Von Malvinus Brekker fehlte jede Spur! Der Detektiv konnte ausschließen, dass sein wackerer Mitarbeiter einfach das Hasenpanier ergriffen hatte. Also war davon auszugehen, dass Malvinus Brekker triftige Gründe für das Verlassen seines Postens gehabt haben musste. Jenseits der eigentlichen Party-Location waren die Lichtverhältnisse dürftig. Daher brachen Lord und Lady Winter wieder ihre Taschenlampen zum Einsatz. Deren Lichtstreifen stachen wie überlange Geisterfinger in die Finsternis. Doch plötzlich wurden sie aus einem Seitengang heraus attackiert! In der Dunkelheit konnte Lord Stanley nicht sehen, mit wie vielen Gegnern er es plötzlich zu tun hatte. Doch die verwegenen Gestalten gehörten zweifellos zu der Gefolgschaft von Catha. Und sie waren mit Bleirohren und anderen Schlaginstrumenten bewaffnet, die einen menschlichen Schädel problemlos zerschmettern konnten. Lord Stanley wurde durch seine schnelle Reaktion vor einem solchen Schicksal bewahrt. Als plötzlich aus der Finsternis heraus ein Schlag mit der Eisenstange erfolgte, wich er fix aus und schickte seinen Widersacher mit einem wohldosierten Schlag gegen die Schläfe ins Land der Träume. Auch Lady Nora bewies wieder einmal, wie exzellent sie mit einer Stichwaffe umgehen konnte. Einem Angreifer verging seine feindliche Absicht, als sie seinen Waffenarm mit ihrer Degenspitze durchbohrte. Er ließ mit einem Schmerzensschrei sein Bleirohr fallen. Ein anderer Schurke stürzte zu Boden, nachdem sein Oberschenkel ebenfalls Bekanntschaft mit Lady Noras scharf geschliffenem Waffenstahl gemacht hatte. Doch hinter diesen Männern drängten weitere Gegner nach. Die Übermacht war einfach zu groß. Die Kerle versperrten nun auch den Weg zu dem Einstieg, wo sich Lord Stanley und seine Schwester auf den Weg in die Unterwelt begeben hatten. Nach links!, rief Bradana. Folgt mir! Lord Stanley blieb nichts anderes übrig, als dieser Frau, die er als gefährlich, geheimnisvoll und i>glamourös umschrieben hatte, zu vertrauen. Zwar war er selbst ebenfalls mit den Gängen und Schächten im dunklen Bauch der britischen Hauptstadt vertraut, doch Bradana kannte sich hier zweifellos besser aus. Sie übernahm die Führung, nachdem Lord Stanley ihr sogar seine Taschenlampe in die Hand gedrückt hatte. Bradana kletterte eine Eisentreppe hinauf, sprang über einige verstaubte Kisten und riss eine Bunkertür auf. Einen Moment lang befürchtete der Privatermittler, dass sie ihn und seine Schwester hereingelegt hätte und sich absetzen wollte. Doch dann zeigte sich, dass er sich umsonst Sorgen gemacht hatte. Bradana hielt die Tür offen, damit das Geschwisterpaar ihr folgen konnte. Dann verschloss sie den Zugang, der aus einer massiven Stahltür bestand. Der Raum wurde mit einem Schließ-System gesichert, das durch drehbare Verriegelungen arretiert werden konnte. Die Verfolger hätten schon Sprengstoff einsetzen müssen, um den drei Flüchtenden folgen zu können. Hier sind wir vorerst sicher. Mit diesen Worten zog Bradana ein Feuerzeug hervor und setzte zwei Fackeln in Brand, die sich in eisernen Halterungen an den Wänden befanden. In deren irrlichternden Schein erblickten Lord Stanley und Lady einen großen wuchtigen Stierkopf aus Altmetall, der an dünnen Ketten befestigt von der Decke des Bunkers herabhing. Gehe ich recht in der Annahme, dass wir uns hier in einer Art Kultraum befinden?, erkundigte sich der Privatermittler. Bradana nickte mürrisch. Wenn Sie das so nennen wollen ja. Wir verehren den Stier als ein ursprüngliches Symbol von Naturkraft. Sie benutzen immer noch den Plural, meine Liebe, stellte Lord Stanley fest. Aber dieses Individuum Catha hat Sie als Abtrünnige diffamiert und wollte Sie sogar opfern, wie man das nebenbei bemerkt in früheren Jahrhunderten auch oftmals mit den Stieren getan hat. Was mag ihn zu dieser Auffassung bewogen haben? Bradana warf dem Amateurdetektiv einen seltsamen Blick zu und antwortete nicht gleich. Vielleicht lag das auch daran, dass nun Cathas Anhänger die Bunkertür erreicht hatten und vehement wenngleich erfolglos dagegendonnerten. Stattdessen ergriff Lady Nora das Wort. Sie sprach laut, und ihre Stimme war so klar und schneidend wie ein gut geschliffener Entersäbel. Nicht nur der Stier ist ein beliebtes archaisches Symbol, Miss Galway. Ich verweise darauf, dass der Stier gemeinsam mit dem Löwen, dem Adler und dem Skorpion ein Totemtier der Evangelisten gewesen sein soll. Mit Skorpionen müssten Sie sich doch auskennen, Miss Galway, nicht wahr? Immerhin sind Sie stolze Besitzerin eines i>Centruroides Exilicauda. Ich gehe zwar davon aus, dass Sie dieses tödliche Tierchen jetzt nicht bei sich haben. Aber dennoch stellt sich die Frage, weshalb Sie überhaupt einen Skorpion besitzen, gegen den ein Kampfhund wie ein harmloser Welpe wirkt. Bradana Galway schnappte nach Luft. Offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, dass jemand von ihrem Skorpionkauf wusste. Sie beide sind verflucht neugierig, sagte sie schließlich mit einem lauernden Unterton. Das bringt der Beruf als Detektiv so mit sich, gab Lord Stanley zurück. Ich hatte Ihnen bereits mitgeteilt, dass wir im Auftrag der Familie nach der verschwundenen Devon Graycliff suchen. Und ich darf Ihnen versichern, dass Nora und ich diese Aufgabe sehr ernst nehmen. Ah, ich hatte Ihnen meine Schwester noch gar nicht vorgestellt. Das ist Lady Nora Winter. Bradana nickte der jungen Adligen mürrisch zu. Meinen Namen kennen Sie ja schon, offenbar schnüffeln Sie mir ja nach. Aber anstatt hier Volksreden zu halten, sollten wir uns lieber überlegen, wie wir die Biege machen können. Es war Lord Stanley nicht entgangen, dass Bradana Noras Anmerkungen ausgewichen war. Aber es lag auch in seinem Interesse, die Silvesternacht nicht in diesem stillgelegten Bunker verbringen zu wollen. Außerdem war der Lord wegen des Verschwindens von Malvinus Brekker immer noch beunruhigt. Zwar konnte der ehemalige Einbrecher sehr gut auf sich selbst aufpassen; doch falls er in die Hände von Catha und dessen fanatischen Gesellen gefallen war, konnte seine Lage mehr als unangenehm werden. Aber solange Lord Stanley in dem Bunker verharrte, konnte er dem wackeren Ex-Kriminellen nicht helfen. Der Privatermittler richtete seinen Blick nach oben. Wenn ich es richtig sehe, zieht der Rauch dieser Fackeln an dem Stierkopf vorbei durch jenes massive Metallgitter dort oben ab. Dort müsste sich ein Lüftungsschacht befinden. Das Licht der Fackeln beleuchtete die Bunkerdecke nur spärlich. Doch als der Lord seinen Taschenlampenstrahl dorthin richtete, war wirklich ein Gitter zu erkennen. Allerdings gab es keine Möglichkeit, an den Wänden hochzuklettern. Die Tatsache, dass Cathas Anhänger permanent gegen die Tür knallten und heulten wie die verdammten Seelen im Fegefeuer, trug auch nicht gerade zur Konzentration der Eingeschlossenen bei. Lady Nora löste mit einer eleganten Bewegung den Strick, den sie sich unter ihrem Wams um die Hüften geschlungen hatte. Erinnerst du dich daran, wie ich über die Multifunktionalität eines Seils sprach, Stan? Nun habe ich Gelegenheit, dies unter Beweis zu stellen. Mit diesen Worten entrollte sie das Seil und warf es in die Höhe. Zum Glück war das Gitter sehr grobmaschig. Geschickt gelang es Lady Nora, das Ende des Stricks zwischen den Eisenstreben hindurchzubringen und das Ende wieder hinabgleiten zu lassen. Dafür war zweifellos viel Fingerspitzengefühl notwendig, aber davon besaß Lady Nora als hochkarätige Fechterin mehr als genug. Selbst Bradana schien beeindruckt, als die als Musketier kostümierte Adlige wenig später an dem Doppelseil hochkletterte. Doch als Lady Nora vor der Lüftungsöffnung ankam, wurde die Sache diffizil. Das Gitter sitzt bombenfest, rief sie nach unten. Ich werde versuchen, es mit meiner Degenspitze aufzuhebeln. Gleich darauf setzte sie ihre Ankündigung in die Tat um. Sie schob die Blankwaffe in den Spalt zwischen Metallrost und Rahmen, drückte mit ganzer Kraft gegen die Klinge und ihr Degen zerbrach! Die Waffe entglitt ihren Händen, stieß gegen den unter ihr hängenden Stierkopf und landete schließlich auf dem Boden. Lady Nora stieß einen äußerst undamenhaften Fluch aus, was Lord Stanley seiner Schwester aber nachsehen konnte. Sie befanden sich in einer äußerst prekären Lage. Natürlich hatte der Adlige auch schon versucht, per Handy mit der Metropolitan Police Kontakt aufzunehmen. Aber tief unten in den Eingeweiden der Stadt bekam er kein Mobilfunknetz wodurch Lord Stanleys Skepsis gegenüber moderner Technik aufs Neue genährt wurde. Seine Schwester versuchte nun, das Gitter mit purer Muskelkraft zu beseitigen. Aber auch diese Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt. Doch es wurde noch schlimmer. Sie drehte sich zu den beiden am Boden stehenden Personen. Und trotz der Entfernung konnte der Amateurdetektiv deutlich die Anspannung auf dem schönen Gesicht seiner Schwester erkennen. Da kommt jemand, sagte sie. Ich kann deutliche Geräusche in dem Entlüftungsschacht hören. Lord Stanley nickte nur. Wenn Catha und dessen Spießgesellen nun auf diesem Weg in den Bunker eindrangen, wurde es wirklich eng für das ungleiche Trio. Der Degen war kaputt, über andere Waffen verfügten sie nicht. Und wenn sich der Adlige auch auf Selbstverteidigung verstand ewig würde er der Übermacht nicht standhalten können. Doch bevor sein unerschütterlicher Optimismus ernsthaft Schaden nehmen konnte, ertönte eine vertraute Stimme aus dem Inneren des Schachtes: Lady Nora? Ich werde Ihr Seil mal woanders befestigen, weil ich das Gitter sprengen will. Ich wette, Sie wollen aus der Rattenfalle raus, oder? Das adlige Geschwisterpaar war sehr erleichtert, dass sich offenbar kein Anderer als Malvinus Brekker durch den Schacht näherte. Der Ex-Einbrecher hatte passendes Werkzeug dabei. Im Handumdrehen krachte das Gitter zu Boden. Brekker hatte ein Ende des Seils an einer der Kletterstiegen im Inneren des Schachtes befestigt. Er reichte Lady Nora, die sich am Rand der Umfassung festgehalten hatte, galant seine Rechte. Die Schwester des Privatermittlers verschwand im Entlüftungsschacht. Nun mussten sich Bradana und Lord Stanley am Seil hochhangeln. Aber auch das war kein Problem. Im Gänsemarsch verließen die drei und ihr Retter den Bunker. Malvinus Brekker führte sie durch einen stillgelegten U-Bahn-Tunnel zu einem Ausstieg, der sich nur einen Steinwurf weit von der Stelle befand, wo sie ihren Weg in die Unterwelt angetreten hatten. Wir waren schon wegen Ihres Verschwindens in Sorge, Mister Brekker, sagte Lord Stanley mit einem dankbaren Nicken. Halb so wild, Sir, wiegelte die gute Seele ab. Da waren ein paar schräge Typen, die wohl Wache geschoben haben. Ich hab die Kerle ausgeknockt und in einen dunklen Winkel geschleift. Dann schien es mir clever, wenn ich mich verdünnisiere und verstecke. Wenig später hab ich dann mitgekriegt, wie Sie von dieser Lumpenbande gejagt wurden. Der alte Malvinus hat ja einen sechsten Sinn für geheime Gänge und so ein Zeug. Jedenfalls fand ich den Einstieg in den Lüftungsschacht, und den Rest kennen Sie. Der Ex-Einbrecher platzte fast vor Stolz. Außerdem fügte er hinzu, dass er auch die Polizei verständigt habe. Diese Ankündigung ließ Bradana Galway aktiv werden. Sie haben mich vor dem Opfertod gerettet und niemand soll mir nachsagen, ich sei undankbar. Trotzdem werden Sie über mich nicht an diese Schnepfe Devon Graycliff herankommen. Aber ich gebe Ihnen einen Tipp: Versuchen Sie es mal bei Ray Allison. Das ist so ein Schönling, für den Devon geschwärmt hat. Vielen Dank aber was hat es denn nun mit diesem Stierkult und dem geplanten Menschenopfer auf sich?, hakte Lord Stanley nach. Bradana Galway antwortete nicht, sondern zog blitzschnell eine kleine Dose Pfefferspray hervor und sprühte die Flüssigkeit verschwenderisch in die Augen von Lord Stanley, Lady Nora und Malvinus Brekker. Damit hatte keiner von ihnen gerechnet. Sie konnten nur halb blind zu Boden gehen und hören, wie sich die Schritte der geheimnisvollen Frau schnell auf dem Straßenpflaster entfernten. ![]() LITERRA-ONLINE-SERIE: BIG BEN Ermittlungen im Teesalon
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Schlussakkord
Alisha Bionda - Artikel |
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Eulen und Skorpione
Alisha Bionda - Artikel |
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Eulennacht
Alisha Bionda - Artikel |
ManuskripteBITTE KEINE MANUSKRIPTE EINSENDEN!
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