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Der Zylindermann

LITERRA-ONLINE-SERIE: BIG BEN – Ermittlungen im Teesalon LITERRA-ONLINE-SERIE: BIG BEN – Ermittlungen im Teesalon

5.Episode


Zum Glück war es um die Regenerationsfähigkeit von Lord Stanley und Lady Nora recht gut bestellt. Daher hatten sie sich nach dem infamen Pfefferspray-Angriff von Bradana Galway schnell wieder erholt. Und auch ihr Ex-Unterwelt-Mitarbeiter Malvinus Brekker konnte „einen Stiefel vertragen“, wie er selbst es auf seine bodenständige Art ausdrückte. Der wackere Kerl war ebenfalls wieder einsatzbereit.
Nun saßen sie zu dritt in Lord Stanleys Teesalon und ließen die Ereignisse im stillgelegten U-Bahn-Schacht noch einmal Revue passieren – zugegebenermaßen eine eigenwillige Art, die Silvesternacht zu verbringen. Aber in London ist eben nichts unmöglich.
Lady Nora führte die Teetasse an ihre süffisant geschürzten Lippen. „Ich muss zugeben, dass deine kohlenäugige Schönheit uns ausgetrickst hat, Bruderherz. Allerdings frage ich mich, ob der Name, den Bradana vor ihrem Abgang so nonchalant fallen ließ, irgendeine Bedeutung für unseren Fall hat.“
Lord Stanley hob eine Augenbraue. „Erstens sind die romantischen Gefühle für Miss Galway, auf die du anspielst, keinesfalls vorhanden, liebe Nora. Und zweitens kommt es schlicht und einfach auf einen Versuch an, was diesen Ray Allison betrifft. Wir sollten mit dem jungen Mann Kontakt aufnehmen. Dann wird sich sehr schnell zeigen, ob er uns beim Auffinden von Davon Graycliff behilflich sein kann. Doch dazu müssten wir zunächst dieses Ray Allisons selbst habhaft werden.“
Eine erste Online-Recherche hatte nämlich ergeben, dass es in London keine männliche Person namens Ray Allison gab. Er tauchte weder im Telefonbuch noch in den sozialen Netzwerken auf.
Malvinus Brekker schaute zwischen dem Lord und der Lady hin und her – wie ein Sportenthusiast, der in Wimbledon ein spannendes Tennismatch verfolgte. Auch der erfolgreich resozialisierte Kriminelle konnte sein Scherflein zu der Problemlösung beitragen.
„Ich werde mal meine Lauscher aufstellen und meine Unterwelt-Kontakte wach kitzeln. Sollte mich wundern, wenn wir den Typen nicht auftreiben können. Wir werden den Knaben schon aus seinem Versteck holen.“
„Das wäre allerdings wünschenswert, mein Guter“, sagte Lord Stanley jovial. „Benötigen Sie noch Spesengeld?“
Der ehemalige Einbrecher schüttelte seinen markanten Quadratschädel. „Nee, Sir. Da gibt es ein paar Knastvögel, die mir noch einen Gefallen schulden. Und ich werde dafür sorgen, dass sie mir ein fröhliches Liedchen trällern.“
Mit diesen Worten empfahl sich Malvinus Brekker. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
„Manchmal sind seine Formulierungen geradezu tollkühn“, bemerkte Lady Nora trocken.
„Ja, aber unser Mitarbeiter liefert vorzeigbare Ergebnisse. Ich schlage vor, dass wir nach Sonnenaufgang Inspektor Duncan unsere Aufwartung machen. Er wird möglicherweise mit dem Namen Ray Allison etwas anfangen können. Nachdem sich Mister Brekker in der kriminellen Subkultur umtut, haben wir damit sozusagen sowohl die Nacht- als auch die Tagseite des Verbrechens beleuchtet.“
„Ich hätte es nicht treffender ausdrücken können, Stan. Aber bist du sicher, dass wir den Inspektor am Neujahrstag in seinem Office antreffen können?“
„Wenn ich mich nicht irre, dann ist John Duncan zum Feiertagsdienst eingeteilt. Er eröffnete mir diese Tatsache und sparte dabei nicht mit obszönen Flüchen, die er in deiner Gegenwart niemals von sich gegeben hätte.“
„Es hat doch sehr viele Vorteile, eine Dame zu sein“, stellte Lady Nora süffisant lächelnd fest.

Szenentrenner


Lord Stanley war von seinem Gedächtnis nicht an der Nase herumgeführt worden. Als die adligen Geschwister in den Vormittagsstunden des Neujahrstages das imposante Gebäude von New Scotland Yard betraten, wurden sie dort von einer jungen uniformierten Polizistin sogleich zu John Duncan geführt. Das Gesicht des Inspektors wirkte teigig.
„Ich wünsche Ihnen ein frohes und erfolgreiches neues Jahr, Inspektor Duncan.“ Lady Nora versprühte ihren ganzen Charme, den sie zum Glück im Überfluss besaß. Der Anblick ihrer gazellenhaften Figur in dem dunkelbraunen Tweedkostüm schien die miserable Laune des Zivilpolizisten augenblicklich aufzumöbeln. Er sprang wie ein Kastenteufel von seinem Bürostuhl auf und rückte für die Besucherin einen der vor dem Schreibtisch stehenden Metallsessel zurecht.
Lord Stanley nahm ebenfalls Platz. Nachdem die uniformierte Kollegin von Inspektor Duncan unaufgefordert Tee gebracht hatte, kam der adlige Privatermittler sofort zur Sache.
Der Yard-Beamte zuckte zusammen, als der Name Ray Allison fiel. Doch zunächst kam er noch auf den Ausgang des Untergrund-Abenteuers zu sprechen. „Ich hörte von Ihrem Missgeschick bei der Befreiung dieser Bradana Galway. Meine Kollegen von der Kanalbrigade haben mir davon berichtet. Dankbarkeit ist ja offenbar nicht die stärkste Eigenschaft von Miss Galway, die übrigens wegen diverser Delikte von uns gesucht wird.“
„Was Sie nicht sagen, Inspektor.“
Lord Stanley beugte sich gespannt lauschend vor. Es war eindeutig, dass sich der Adlige weitere Informationen über diese Frau wünschte. Und er musste sich eingestehen, dass er inzwischen auch ein höchst privates Interesse an dieser so widersprüchlichen und geheimnisvollen Schönen hatte.
„Ich fürchte, über Bradana Galway kann ich Ihnen aus ermittlungstaktischen Gründen nichts sagen. Sie steht allerdings ganz oben auf der Fahndungsliste von New Scotland Yard, seit sie sich in der Silvesternacht abgesetzt hat. Doch was Ray Allison angeht, darf ich aus dem Nähkästchen plaudern.“
„Wir sind ganz Ohr, Inspektor“, versicherte Lady Nora mit einem koketten Augenaufschlag.
John Duncan blickte verlegen zur Seite und begann zu referieren: „Ray Allison hat es schon vor Monaten verstanden, sich unsichtbar zu machen. Dieser Mann kommt mir vor wie ein Geist, dabei ist er nur allzu real – und zwar als erfolgreichster Juwelendieb des Vereinigten Königreichs.“
„Wirklich?“ Lord Stanleys Stimme klang skeptisch. „Wie kommt es dann, dass ich noch niemals von ihm gehört habe?“
„Seine Opfer aus dem Hochadel bestanden ausnahmslos darauf, die Medien nicht zu informieren. Es soll verhindert werden, dass es womöglich Nachahmungstäter für die Eigentumsdelikte des Zylindermanns …“
„Zylindermanns?“, echote Lady Nora.
„Verzeihen Sie, Ihre Ladyschaft. So nennen wir intern bei der Polizei Ray Allison. Er pflegt bei seinen Juwelendiebstählen einen Zylinderhut zu tragen. Es existieren diverse Aufnahmen von Überwachungskameras, auf denen er zu sehen ist. Leider haben diese Fotografien nicht dazu beigetragen, den Täter fassen zu können.“
Der Inspektor bückte sich und kramte in den altmodischen Hängeregistraturen seines Schreibtischs. Gleich darauf zog er einige Bilder hervor und breitete sie vor dem adligen Geschwisterpaar aus.
„Epochal, diese Kopfbedeckung“, murmelte Lord Stanley. „Ich heiße die Verbrechen natürlich keineswegs gut. Aber ich muss zugeben, dass Ray Allison bei der Wahl seines Zylinderhuts Geschmack bewiesen hat. Dieses gute Stück ist in Handarbeit hergestellt worden, vermutlich von Finnegan & Watkins am Berkeley Square.“
John Duncan nickte. „Auf diesen Hutmacher sind wir auch schon gestoßen, Lord Stanley. Leider führte die Spur ins Leere, denn Finnegan & Watkins haben den Zylinder offenbar für einen Strohmann angefertigt – dabei würde sich doch bei einem solchen eher ein Strohhut anbieten, hahaha!“
Lord Stanley und Lady Nord grinsten pflichtschuldig, denn der Beamtenhumor des Inspektors war nicht wirklich erheiternd. Aber es hätte auch keinen Sinn ergeben, den Kriminalisten durch eine Leichenbittermiene zu verstimmen.
„Wären Sie wohl so freundlich, uns eines der Fotos von Ray Allison zu kopieren?“, fragte Lord Stanleys Schwester.
Der Inspektor war nur allzu erfreut darüber, der Lady einen Gefallen erweisen zu können. Er ließ eine Aufnahme durch einen Zivilpolizisten vervielfältigen und überreichte sie Lady Nora so feierlich wie einen Ehevertrag.
„Verbindlichsten Dank, Inspektor. – Und dieser Mann ist also wirklich nirgendwo aufzufinden?“
„Leider verlaufen alle Hinweise im Sand, Euer Ladyschaft. Wir vermuten, dass Ray Allison nicht sein richtiger Name ist. Er hinterlässt weder Fingerabdrücke noch DNA-Spuren bei seinen Raubzügen. Der Täter hat es bisher meisterhaft verstanden, seine Identität zu verschleiern.“
Lord Stanley schaute die Aufnahme nachdenklich an. Bradana Galway hatte Ray Allison in ihrer unnachahmlichen Art als „Schönling“ bezeichnet. Der Privatermittler konnte sich vorstellen, dass der junge Mann unter dem Zylinderhut wirklich eine gewisse Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht ausstrahlte. Aber diese Erkenntnis half momentan auch nicht weiter.
„Und wenn ich die Indische Girlande wieder einmal anlegen würde?“
Diese Frage hatte Lady Nora gestellt und sich dafür von den Inspektor sogleich einen verständnislosen Blick eingefangen. Ihr Bruder klärte den Kriminalisten auf: „Die Indische Girlande ist ein Diadem, das sich seit über zweihundert Jahren im Besitz unserer Familien befindet und einen unschätzbaren Wert hat. Es wird normalerweise in einem Safe in unserem Landhaus aufbewahrt.“
„Und schon in drei Tagen findet der jährliche Januar-Ball zugunsten der Londoner Waisenhäuser statt“, ergänzte die junge Adlige. „Das wäre eine perfekte Gelegenheit für mich, dieses Diadem zu tragen. Natürlich müsste man zuvor meine Absicht in der Klatschpresse lancieren, damit der Zylindermann garantiert Wind von der Sache bekommt. Ich kann mir gut vorstellen, dass er sich regelmäßig die Gesellschaftsnachrichten zu Gemüte führt, um seine Straftaten entsprechend planen zu können.“
„Bisher ist aber Ray Allison stets der Strafverfolgung entkommen“, gab Lord Stanley zu bedenken.
„Bisher hatte er auch noch nicht dich und mich als Gegner“, erwiderte Lady Nora selbstbewusst, bereute ihre Worte allerdings noch im selben Moment. Ein Blick auf das immer länger werdende Gesicht von Inspektor Duncan bewies ihr nämlich, dass der Kriminalist ihre Bemerkung offenbar als Kritik an der Effektivität der Londoner Polizei auffasste. Sie beugte sich vor und legte ihre schmale, aber kräftige Fechterinnen-Hand auf seinen Unterarm. Daraufhin besserte sich die Stimmung des Inspektors schlagartig.
„Wir sind uns natürlich darüber im Klaren, dass die Metropolitan Police nicht die Mittel hat, um dem Juwelendieb eine solche Falle zu stellen – zumal ein derartig durchtriebener Verbrecher ein gefälschtes Schmuckstück sofort erkennen würde.“
John Duncan nickte seufzend. „Ein unermesslich wertvolles Diadem haben wir in der Tat nicht in unserer Asservatenkammer. Wenn Sie dem Zylindermann eine Falle stellen wollen, können Sie jedenfalls auf meine Hilfe und die meiner Leute zählen.“
„Ich habe nichts anderes von Ihnen erwartet, und wir nehmen Ihr großzügiges Angebot gerne an“, versicherte Lord Stanley. „Dabei geht es uns allerdings nicht so sehr um Ray Allison selbst, sondern um Devon Graycliff, über deren Verbleib Ray Allison möglicherweise eine entscheidende Aussage machen kann.“
„Diese junge Frau ist nach wie vor als vermisst gemeldet und wird von den Einsatzkräften gesucht“, erwiderte der Inspektor steif. Er war offenbar der Meinung, dass New Scotland Yard bezüglich Devon Graycliff alles Menschenmögliche getan hatte.

„Die Zuneigung des Inspektors für dich ist mehr als offensichtlich, meine Treue“, sagte Lord Stanley, sobald sie das Polizeigebäude wieder verlassen hatten.
„Gleiches gilt für dein Faible, was diese scharfzüngige Abenteuerin Bradana Galway angeht, Bruderherz“, gab Lady Nora trocken zurück. Lord Stanley seufzte insgeheim darüber, dass seine Schwester stets das letzte Wort haben musste.

Szenentrenner


Die Vorbereitungen für den Wohltätigkeitsball liefen mit der Präzision eines Uhrwerks. Lady Nora hatte noch am Neujahrstag die Indische Girlande von dem Landsitz nach London geholt. Schon einen Tag später präsentierte sie sich selbst mit dem prachtvollen Stirnreif auf dem Kopf einigen handverlesenen Pressevertretern.
Die Fotografen drückten auf die Auslöser, als ob ihr Seelenheil davon abhinge.
„Was für ein prachtvolles Schmuckstück!“
„Gibt es eine Geschichte zu diesem herrlichen Kleinod?“
„Haben Sie die Indische Girlande für einen besonderen Gentleman angelegt?“
Mit solchen und ähnliche Fragen wurde Lady Nora bestürmt. Doch sie beschränkte sich darauf, sphinxhaft zu lächeln und ihr schönes Antlitz möglichst vorteilhaft zu präsentieren. Die junge Adlige war sich darüber im Klaren, dass sie auch ein klein wenig eitel war. Aber angesichts der finsteren Obsessionen anderer Menschen fand sie diese Eigenschaft nicht besonders verdammungswürdig.
Lord Stanley hatte für die Tage vor, während und nach der Festveranstaltung im Luxushotel The Cavendish für seine Schwester eine Suite gebucht. Er selbst verkleidete sich als Hausdiener und mischte sich inkognito unter das Personal. Der Manager des erstklassigen Hauses war in Eton ein Kommilitone von Lord Stanley gewesen.
Lady Nora hatte sich gerade in der Suite eingerichtet, als es an der Tür klopfte.
„Herein“, sagte sie und ließ sich dabei ihre Anspannung nicht anmerken. Auf jeden Außenstehenden wirkte sie wie eine elegante Dame aus der britischen Oberschicht. Aber sie war auch eine Blankwaffenkämpferin, die jederzeit in den Gefechtsmodus umschalten konnte.
Ihr Bruder trat lächelnd ein. Er trug die Hausuniform des Luxushotels.
„Diese Montur steht dir, Stanley. Falls in der nächsten Wirtschaftskrise unser Familienvermögen im Nirvana verschwinden sollte, würdest du hier garantiert eine Anstellung finden.“
„Damit befasse ich mich, wenn es so weit ist“, entgegnete der Lord mit einem ironischen Augenzwinkern. „Bist du auf deinen mutmaßlichen Überraschungsgast vorbereitet?“
„Auf jeden Fall. Ich frage mich nur, ob der Zylindermann vor oder nach dem Wohltätigkeitsball bei mir erscheinen wird. Es dauert ja noch einige Stunden, bis die Festivitäten losgehen.“
„Ich würde vermuten, dass Ray Allison das Durcheinander und die vielen ankommenden Gäste nutzen wird und schon vor der Veranstaltung lange Finger machen will, wie sich Malvinus Brekker ausdrücken würde. Du solltest also ganz in deiner Rolle als dienstbarer Geist aufgehen und dich jetzt dematerialisieren, Stan.“
„Dein Wunsch ist mir Befehl, meine Teure. Aber ich bin in der Nähe, falls deine Lage indiskutabel werden sollte.“
Mit diesen Worten verschwand der Privatermittler so schnell und unauffällig, wie er gekommen war.

Szenentrenner


Lord Stanley räumte auf Geheiß des Ober-Hausdieners Schmutzwäsche in einen Rollwagen, als ob er den ganzen Tag lang nichts anderes tun würde. Da klingelte sein Handy.
„Ja, Malvinus?“
„Sir, ein paar Typen haben mir was über Ray Allison gesteckt. Er ist kein normaler Ganove. Stattdessen hat er irgendeine irre Gruppe zusammengetrommelt.“
„Sie sprechen von einer Geheimgesellschaft.“
„Häh? Okay, kann schon sein. Jedenfalls brauchen diese Vögel jede Menge Zaster, und nur deshalb macht Ray Allison diese Brüche.“
„Sehr aufschlussreich, mein Guter. Konnten Sie auch schon den Aufenthaltsort dieses Individuums eruieren?“
Malvinus Brekker schwieg, er war offenbar noch damit beschäftigt, Lord Stanleys Frage zu dechiffrieren. Der Privatermittler ermahnte sich selbst dazu, sein Sprachniveau an das seines Mitarbeiters anzupassen. Daher formulierte er den Satz neu. „Wo hat sich der Bastard verkrochen?“
„Keine Ahnung, Sir“, erwiderte Brekker wie aus der Pistole geschossen. „Aber ich arbeite dran. Sobald ich was habe, klingele ich wieder durch.“
Mit diesen Worten beendete der Ex-Einbrecher das Telefonat. Lord Stanley fuhr nachdenklich mit seinen Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich fort und griff tief in den Behälter mit schmutzigen Laken. Zu spät bemerkte er die Bewegung hinter sich. Er wollte herumwirbeln, doch ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf hinderte ihn daran. Bewusstlos brach Lord Stanley auf dem exquisiten Teppichboden des Luxushotels zusammen. Er bekam nicht mehr mit, dass er in der Wäschekammer eingeschlossen wurde.

Szenentrenner


Lady Nora legte sehr großen Wert auf ihre Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Daher gehörte sie zu den wenigen Damen des britischen Adels, die eine aufwendige Ballgarderobe auch ohne Hilfe einer Zofe anlegen konnten.
Lord Stanleys Schwester saß an ihrem Frisiertisch und puderte ihre Wangen, als sie ein fast unhörbares Zischen vernahm. Sie nahm einen unverkennbaren Geruch wahr. Offenbar wurde ein starkes und sehr schnell wirkendes Betäubungsgas in ihre Suite gesprüht. Lady Nora hielt sich nicht mit der Frage auf, wo sich der Schlauch befand, durch den das Gas in ihre Räumlichkeiten gelangte.
Für sie stand nur fest, dass der Juwelenraub unmittelbar bevorstand. Aber der Dieb konnte nicht ahnen, dass er es mit einer Meisterin der Körperbeherrschung zu tun hatte. Lady Nora war einst bei einem indischen Asketen in die Lehre gegangen. Er hatte ihr beigebracht, wie sie ihre Atmung derartig stark reduzieren konnte, dass sie kaum noch Luft benötigte. Der Guru selbst gehörte zu jenen Fakiren, die sich sogar lebendig begraben lassen und schließlich wieder an die Erdoberfläche gelangen, als ob nichts geschehen wäre. Soweit reichten Lady Noras Fähigkeiten nicht. Aber sie war sicher, dass sie lange genug ausharren konnte, bis Ray Allison ihre Suite betrat.
Sie taumelte scheinbar halb betäubt zum Bett und ließ sich theatralisch auf die Matratze fallen. Sie musste damit rechnen, dass versteckte Kameras auf sie gerichtet waren. Das Diadem hatte sie wohlweislich schon aufgesetzt. Ihr Plan basierte darauf, dass sich der Zylindermann über sie beugen musste, wenn er die Indische Girlande entwenden wollte.
Lady Nora konzentrierte sich auf ihre reduzierte Atmung. Sie hielt die Augen geschlossen und lauschte in den Raum hinein. Die Tür wurde geöffnet. Eine Person näherte sich dem Bett. Die junge Adlige konnte nun die Wärme eines anderen menschlichen Körpers wahrnehmen. Ihr Angriff kam schnell und für den Unbekannten völlig unerwartet.
Sie riss die Augen auf, packte den Arm, der schon nach dem Diadem griff. Sie erblickte einen Mann mit Gasmaske vor dem Gesicht und Zylinder auf dem Kopf. Lady Nora war es vom Fechten her gewohnt, einen Kontrahenten mit Maske vor sich zu haben. Sie musste das Antlitz nicht sehen, die Körpersprache verriet ihr genug.
Der Zylindermann wurde von Furcht gepackt. Lady Nora war sicher, dass er jetzt sicher gerne auch ohne Beute geflohen wäre. Aber dafür war es zu spät. Sie schnellte vom Bett hoch und nahm ihn in den Schwitzkasten. Er zappelte und keuchte. Und obwohl er größer war als die schlanke Adlige, hatte er gegen ihren kampferprobten Körper keine Chance. Lady Nora zerrte ihn mit sich zum Fenster und schob es hoch. Währenddessen war ihr Atem immer noch stark reduziert. Ein wenig von dem Gas war aber trotzdem in ihre Lungen gelangt, denn sie fühlte sich etwas benommen. Hastig schob sie das Fenster hoch und sog gierig die von außen hereinströmende Nachtluft in ihre Lungen.
„Ist unsere frische Londoner Brise nicht herrlich, mein Lieber? Sie sollten sich auch ein wenig davon gönnen, finde ich.“
Mit diesen Worten riss sie dem Zylindermann die Gasmaske vom Gesicht. Die leichte Mattigkeit war wie weggeblasen, sie fühlte sich mittlerweile wieder stark und jeder Auseinandersetzung gewachsen.
Diese Empfindung dauerte allerdings nur so lange, bis sie einen Blick auf das Antlitz ihres ungebetenen Besuchers warf. Es gab keinen Zweifel daran, dass es sich um den Zylindermann handelte, der sich Ray Allison nannte.
Aber das war nicht der Name, unter dem Lady Nora ihn einst kennengelernt hatte. Während jener wundervollen Tage in Cornwall hieß er anders. Und sie hatte ihn geliebt wie noch keinen anderen Menschen vor ihm.
„Charles, du bist es?“, brachte sie keuchend hervor. Sie ließ ihn unwillkürlich los, und er taumelte zurück. Dabei massierte er sich seinen Nacken, denn Lady Noras Schwitzkasten war für ihre Gegner kein Vergnügen.
„Ich wünschte, wir hätten uns unter erfreulicheren Umständen wiedergetroffen, Nora“, sagte er. Dann setzte er dieses Lächeln auf, dem die junge Adlige noch nie hatte widerstehen können.

Shikomo
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© http://www.shikomo.de

LITERRA-ONLINE-SERIE: BIG BEN – Ermittlungen im Teesalon
Beitrag vom 18. Sep. 2014


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