Fernunterricht ersetzt die Schule nicht
Lehrer seien „nicht gerüstet, um die Schüler zuhause mit Lernstoff und Aufgaben zu versorgen“, wetterte die Luzerner Zeitung dieser Tage und zog mit einem Pauschalverriss über die Schulen her. (1) „Es kann nicht sein, dass Tausende von wissbegierigen Schülern für Wochen, vielleicht für Monate auf dem Trockenen sitzen“, schimpfte der erboste CH-Media-Redaktor weiter.
Kinder im Homeoffice
Wie wenn dem so wäre! Wer nach dem unerwarteten bundesrätlichen Stopp des Präsenzunterrichts in Arbeitszimmer einzelner Schulen schaute, sah, wie intensiv sich Lehrerinnen und Lehrer um eine sinnvolle Fortsetzung des Unterrichts kümmerten. Sie informierten die Schülerinnen und Schüler, versandten Aufgaben übers Netz und verschickten gedruckte Unterlagen per Post – oft versehen mit persönlichen Notizen und guten Wünschen. So können die Kinder zu Hause lernen – digital und analog. Keine Spur von „Ratlosigkeit“, wie sie der Journalist den Lehrern unterstellte. Im Gegenteil!
Die journalistische Brandrede verkennt, dass sich im Unterricht nicht alles an Digitalprogramme delegieren lässt, auch wenn die IT-Branche so tut als ob. Verdrängt da nicht wirtschaftliches Gewinnstreben die pädagogische Intention? Der Monitor allein ist ein ungeselliger Geselle – gerade für jüngere Kinder und auch für lernschwächere. Sie können sich nicht einfach hinsetzen und sagen: „Ich lern’ jetzt was!“ Hier liegen die Limite des „Teach yourself!“ und die Grenzen der digitalen Revolution. Es geht nicht alles selber; es braucht das angeregte Hirn. Und wer regt es an? Ein lebendig anregendes Vis-à-vis. Schulisches Lernen hat neben dem Inhaltsaspekt eben immer auch einen Beziehungsaspekt.
Medienberichte über Schülerinnen und Schüler im aktuellen Homeoffice zeigen diese meist zusammen mit animierenden Eltern. (2) Erwachsene ersetzen nun das, was Kinder in der Schule zwingend brauchen: die positive Beziehung zu einer verantwortungsbewussten Lehrerin, zu einem vital präsenten Lehrer, kurz: zu einem menschlichen Gegenüber, das ihnen Verbindlichkeit und Orientierung vermittelt. Der Mensch wird am Menschen zum Menschen. „Im Andern zu sich selbst kommen“ – darin erkannte der deutsche Philosoph Hegel das Wesen von Bildung.
Aufbau systematischen Wissens und Können
Kinder und Jugendliche müssen sich in allen Fächern intensiv mit dem Thema der Digitalisierung beschäftigen. Das steht ausser Zweifel. Die Schule ermöglicht dies stufen- und altersgerecht. Lernplattformen und Tablets liefern für den Unterricht neue Möglichkeiten. Es gibt viele gute Beispiele, beispielsweise aus den Naturwissenschaften, wo etwa die Smartphones unter pädagogischer Anleitung der Lehrperson als wissenschaftliche Messinstrumente genutzt werden. Für ihre Berufsbiografie brauchen junge Menschen auch auf diesem Gebiet Fertigkeiten und Fähigkeiten – verbunden allerdings mit der Einsicht in die Grenzen und Risiken dieser Technologie sowie mit der Fähigkeit, sich von deren Dominanz zu lösen.
Im Übrigen aber brauchen Kinder das, was sie immer brauchten: fachliches Wissen, kulturelle Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen, dazu Urteilskraft und Selbsterkenntnis. Diese Kompetenzen kommen nicht von alleine. Darum wohl hat der renommierte Lernpsychologe Franz E. Weinert, Vater der ganzen Kompetenzdiskussion, darauf verwiesen, dass bei anspruchsvollen Lernaufgaben die gezielte und gekonnte Unterstützung durch die Lehrkraft notwendig ist. Nur so könne es zum Aufbau systematischen und fehlerfreien Wissens kommen, betonte er. Beim Lernen gehe es immer um Verstehen, Durcharbeiten und Anwenden des Stoffes durch Schüler – also um zunehmendes Können oder um kontinuierlich verbesserte Kompetenz. Das lässt sich nicht an Digitalprogramme delegieren; Algorithmen allein können diese Aufgabe nicht übernehmen.
Big brother is teaching you?
Viele Studien bestätigen diesen Befund. Diejenigen, die in der Schule häufig mit Laptops und anderen digitalen Geräten arbeiteten, schlossen „bei den meisten Lernergebnissen viel schlechter ab, auch nach Berücksichtigung sozialer Aspekte“. Dies wies eine Analyse mit Millionen von Schülern in den 36 Mitgliedsländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD nach. (3)
Eine andere Studie belegte beispielsweise, dass Achtklässler, die Algebra I online belegten, deutlich schlechter abschnitten als ihre Kolleginnen und Kollegen, die den Kurs persönlich besuchten. (4) Digitales Lernen brachte keinen Mehrwert. Im Gegenteil! Solche wissenschaftlichen Befunde führten auch zu einer (Wieder-)Entdeckung des Lehrens. (5)
Bildung vermitteln, nicht einfach Lernen begleiten
Wer alles algorithmisch regeln will, nimmt dem Bildungssystem das Humane. Schulen haben den Auftrag, Bildung zu vermitteln und nicht einfach Lernen zu begleiten. Das hat der Redaktor der Luzerner Zeitung bei seinem feurigen Votum für die Digitalisierung der Schulen zu wenig bedacht.
Damit ist kein Plädoyer gegen digitale Medien formuliert; das wäre so dumm wie aussichtslos. Ihr schulischer Einsatz ist zu begrüssen und von eindrücklichem Nutzen. Doch es gilt, die Natur der Lern- und Bildungsprozesse zu respektieren – und damit die anthropologischen Konstanten: Die menschliche Evolution ist nicht einfach eine Kaskade technischer Revolutionen. Eine solche Einsicht hätten uns auch Johann Heinrich Pestalozzi oder Jean Piaget in einem Chatroom eröffnet. Sie ist nicht neu. Neu ist bloss die unsinnige Idee, dass die digitalen Medien das Lernen revolutionieren und erleichtern würden oder eine App die Lehrperson ersetzten könnte. Gerade für lernschwächere Kinder wäre das nicht zu verantworten.
Bildung ist an Personen gebunden
Verantwortungsbewusste Lehrpersonen haben darum ihren Schülerinnen und Schülern fürs coronabedingte Homeoffice den persönlichen Kontakt via Telefon angeboten – und nicht nur über digitale Kanäle. Sie wissen: Bildung ist immer und notwendig an eine Person gebunden. Das unterstreicht auch die Mail einer Mutter, die der Viertklass-Lehrerin ihres Sohnes geschrieben hat: „Tobias vermisst den Unterricht.“ Und dies schon nach drei Tagen! Die kleine Nachricht zeigt, wie wichtig die Lehrperson ist. Sie ist einer der stärksten Faktoren für den Lernerfolg. Das Digitale kann das Pädagogische nicht ersetzen.
(1) François Schmid-Bechtel, Krise deckt unsere Versäumnisse auf, in: Luzerner Zeitung, 16.02.2020, S. 1.
(2) Vgl. u.a. Katja Fischer De Santi, Zu Hause unterrichten – so geht’s, in: Zuger Zeitung, S. 15.
(3) How classroom technology is holding students back, MIT Technology Review, 19. 12. 2019, von Natalie Wexler, übersetzt ins Deutsche von Urs Kalberer. Der Originaltext ist abrufbar unter https://www.technologyreview.com/s/614893/classroom-technology-holding-students-back-edtech-kids-education/
(4) Ebda.
(5) Vgl. Gert J.J. Biesta (2017), The Rediscovery of Teaching. Ney York and London: Routledge.
Was sich der Redaktor der Luzerner Zeitung gedacht hat, weiss ich nicht, aber viel kann es nicht sein. Es ist ja nicht so, als ob die Lehrpersonen diesen Fernunterricht herbeigesehnt hätten. Fernunterricht ist aus der Not entstanden und der Coronavirus liess niemandem die Wahl.
Auch ich musste vor über einer Woche mit meinen Arbeitskolleginnen und -kollegen zusammensitzen und uns den Fragen stellen: was nun? wie gleisen wir den Fernunterricht auf? Ich denke, wir haben durchaus gute Lösungen gefunden. Doch wir alle würden lieber im normalen Unterricht arbeiten und direkt mit den Schülerinnen und Schülern interagieren. Denn der Fernunterricht ist eine aufwendige Arbeit, an unserer Sonderschule auf Sekundarstufe sowieso.
Schnell bemerkte ich, wie die Schülerinnen und Schüler mühe haben Aufträge zu verstehen. Weiter wurde mir bewusst, wie wichtig es ist im gewohnten Unterricht zwischen Stuhl und Bank kleine Hinweise mündlich geben zu können.
Keine Frage, der Fernunterricht ist kein gleichwertiger Ersatz für den eigentlichen Unterricht. Sozialkompetenzen werden dabei wenige gebildet. Aber er bietet uns Lehrpersonen einen Einblick in die Vorgehensweise der einzelnen Schülerinnen und Schüler, wenn sie eben nicht Lehrperson oder Banknachbar so nebenbei fragen können, sondern auf sich selbst gestellt sind. Wichtig ist dabei für uns Lehrpersonen aber auch der Austausch mit den Eltern, da diese oftmals in die Bresche springen (müssen).
Eines bleibt aber auch im Fernunterricht gleich:
Ein älterer Sekundarlehrer sagte mir in meiner Ausbildung mal: Kommt ein Schüler zu mir und sagt: ich versteh’s nicht! Ist dies für mich als Lehrperson noch kein Grund zu helfen. Zuerst soll er mal die konkrete Frage selber formulieren…. alleine damit erledigen sich viele Fragen. So halte ich es nun auch, wenn ich mit meinen Schülerinnen und Schülern telefoniere oder chatte. „Denk darüber nach, was du nicht verstehst… und stell mir dann die Frage.“ Das direkte Gespräch ist dann übrigens auch Beziehungsarbeit, einzig eine Mail zu verschicken ist es noch nicht wirklich.
Der Redaktor wetterte in seinem Kommentar, dass die Lehrpersonen ihre Aufträge per Telefon durchgeben und meint dies sei total veraltet und überholt….Vielleicht meint der Autor, dass ein rein schriftlicher Auftrag die gleiche (Beziehungs-)Arbeit leisen kann, wie eine Mail. Er sollte sich die Frage stellen, ob das Telefon wirklich so veraltet ist. Sollte er am Ende seiner Überlegung immer noch dieser Meinung sein, dann darf er im landesweiten Shutdown gerne mal sein Handy ein - zwei Wochen beiseitelegen. Falls er dann am Ende den Anschluss an seinen Job verloren hat, erkennt er, dass es eben doch stimmt: Aus Fehlern lernt man.
Freundliche Grüsse, Max Grob
Immerhin: Die jetzige Situation erlaubt einen flächendeckenden Test des E-Learnings!
Herzlichen Dank für diesen wunderbaren Artikel. Grosses Kompliment an Journal21.ch für die vernünftige Berichterstattung in dieser virusverseuchten, "panisch-propagandistischen Medienwelt".
Bildschirme vor allem bilden nicht. Und Listen von Kompetenzen zum Abhaken auch nicht. Ebenso wenig die in den letzten Jahren um sich greifende Excel-Pädagogik. Auch die Numerologie der Credit-Points zum Erfüllen der Lerneinheit pro Zeit und ihre Verwertbarkeit sofort in Geld werten Systemen bringt langfristig Unbill. Corona macht 's uns jetzt vor. Und das Klima schon seit längerem. Das Gesundheitswesen krankt am Selben. Keine Masken, keine Desinfektionsmittel und es fehlen über 600 Medikamente. Dank dem bürgerlichen Renditewahn mit ihren Sparoptimierern, die Gesundheitspolitik mit dem Aktienkurs ihres Portfolios verwechselten. Und auch die Bildung auf Evidenz-basiert trimmten. Trotzdem können viele Schüler*Innen nach neun Jahren kaum einen Text verstehen. Aber Hauptsache man kann 's messen!
Beim Lesen der ansonsten hervorragenden Bilanzierung der momentan, virusbedingten Lehr- und Bildungssituation in der Schweiz
durch Carl Bossard, bin ich über folgenden Satz gestolpert: "Nur so könne es zum Aufbau systematischen und fehlerfreien Wissens kommen". Der Satz wurde so vom Lernpsychologen Franz E. Weinert
, Vater der Kompetendiskussion, betont. Nun, "fehlerfreies Wissen" ist der Inbegriff für Perfektionismus, der dem rational naturwissenschaftlichen Denken zu Grunde liegt. Ich finde Perfektionsmus auch in lehrenden Belangen nicht sehr weise. Uraltes
Wissen und Weisheit spricht eine andere Sprache. Danke an alle Lehrkräfte die fantasievoll ihren Job machen!
"Der Mensch wird am Menschen zum Menschen."
Dieses Hegel-Zitat gilt auch für die Pädagogik in Zeiten des Corona-Virus. Nur ist es schwierig, bei vorgeschriebener räumlicher Distanz diese unmittelbare Präsenz beim Unterrichten zu erreichen. Digital bietet sich eine durch eine sympathische Person präsentierte Lektion geradezu als Ersatz an. Didaktisch gut aufbereitet, kameratechnisch geschickt aufgenommen und inhaltlich solid kann ein Ersatz-Unterricht digital eine Weile lang ganz gut gelingen. Diese Einsicht ist nicht neu, denn schon früher waren spannende Schulfernseh-Sendungen eine Bereicherung im Biologie- und Geografieunterricht. Dass ein seriöser Mathe-Youtuber wie Daniel Jung mit gut präsentierten Mathe-Lektionen viele Schüler anspricht, ist nicht von der Hand zu weisen. In Zeiten des Corona-Virus können solche Lektionsreihen helfen, das schulische Angebot teilweise aufrechtzuerhalten. Aber ein vollwertiger Ersatz für einen lebendigen Klassenunterricht ist dies wirklich nicht.
Carl Bossard weist darauf hin, dass in einem realen Unterricht eine Lehrerin oder ein Lehrer da ist, der mit den Kindern im Dialog steht und spürt, was sie jetzt gerade brauchen. Kinder können mit Fragen direkt intervenieren, wenn sie etwas nicht verstehen und die Lehrerin weiss so, wo sie etwas vertieft erklären muss. Eine Youtuber-Beziehung lässt sich deshalb nicht mit einer guten Lehrer-Schüler-Beziehung vergleichen. Wenn jetzt einige Digital-Turbos glauben, den Mathematik- und Deutschunterricht der Volksschule können man mittels hervorragender Präsentatoren und individualisierter Lernsoftware auch im realen Schulunterricht weitgehend umgestalten, dann begibt sich die Pädagogik auf einen Holzweg. Wer auf dieses falsche Pferd der Digitalisierung setzt, wird sich gewaltig verrennen.
Ziehen wir die richtigen Schlüsse aus der gegenwärtigen Krise:
- Digitale Lehrpräsentationen sind nützlich, wenn Notsituationen überbrückt werden
müssen oder Kinder Musse zum freien Lernen haben.
- Gute Präsentationen mit anschaulichem Bild- und Filmmaterial können den
täglichen Unterricht bereichern, aber nicht ersetzen.
- Lehrpersonen sollten Zugriff auf qualitativ gute Lernsoftware haben und nicht ihre Zeit
mit dem Aussortieren ungenügender Präsentationen vergeuden müssen.
- Die Lehrerinnen und Lehrer sind in den verschiedenen Fachdidaktiken so aus- und
weiterzubilden, dass sie selber einen ausgezeichneten und lebendigen Unterricht
gestalten können.
- Der Wert des gemeinsamen Klassenunterrichts als Zentrum der Schullebens muss
wieder ins richtige Licht gerückt werden.
- Die finanziellen Mittel für die Schulentwicklung dürfen nicht einseitig für die schulische
Digitalisierung verwendet werden.
- Digitalisierte Lehrpräsentationen sollen als positive Herausforderung für die
Verbesserung der realen Fachdidaktiken verstanden werden.
Ich bin Carl Bossard ausserordentlich dankbar, dass er die Menschenbildung in der Pädagogik immer wieder ins Zentrum seiner Überlegungen stellt. Zu Recht hält er den lebendigen Dialog im Klassenzimmer im Ganzen gesehen für nachhaltiger als die Einbahn-Kommunikation einer Fernseh-Lektionsreihe. Diese kann durchaus Lernfortschritte bringen, vor allem dann, wenn die Schüler das Lernen bereits als etwas Positives erfahren haben. Aber es ist gefährlich zu glauben, auch ohne hervorragende Lehrerinnen und Lehrer könne man dank der Digitalisierung unsere Volksschule einen grossen Schritt voranbringen.
Ich habe mich über Ihre Reaktion sehr gefreut und hänge Ihnen hier meinerseits ein paar Überlegungen an; sie stammen aus der Zeit vor der aktuellen Corona-Krise.
Endlich sind unsere Kinder auch dabei – Tablets ab der 5. Klasse 12.01.2020
Woran man als Eltern aber trotz des digitalen Fortschritts noch denken sollte
Vorbemerkung: Diese Überlegungen wurden lange vor den vielfältigen Komplikationen geschrieben, mit denen uns die Corona-Krise beschäftigt. Fernunterricht mittels digitaler Mittel ist jetzt unter dem Druck der Gegebenheiten «in», und einzelne Redaktoren (z.B. der Luzerner Zeitung) fühlen sich bemüssigt und legitimiert, die Schulen mit Vorwürfen einzudecken, sie hätten die Digitalisierung verschlafen. Dabei ist es höchst beeindruckend, wie schnell die Lehrerschaft Wege gefunden hat, die Lernprozesse bei den home-working-Schülerinnen und Schülern weiter zu führen. Besonders zu erwähnen sind die telefonischen Kontakte, durch die vieles geklärt, ergänzt und durch kluges Feedback korrigiert oder auch verstärkt werden kann. Über solche Aktivitäten kann man sich nur freuen. Am folgenden Text von anfangs Jahr (2020) habe ich nichts verändert, denn irgendwann wird sich wieder der Normalzustand einstellen, und dann gelten wieder andere Gradmesser als im jetzigen Moment.
Die Erziehungsdirektion (BS, BL) hat entschieden: Die Tablets kommen! Die IT-Firmen haben ja auch dringend gewarnt, es könnte leicht zu spät sein; man könnte den Zug verpassen. (Welchen eigentlich?) Deshalb haben sie auf Tempo gedrückt und die Verantwortlichen ganz schön in «bildungspolitische Atemnot» gebracht. Man tut aber gut daran, nicht allzu früh in Jubel ausbrechen ob der flächendeckend ab der 5. Klasse vorgesehenen bildungspolitischen Innovation, denn es gilt, noch ein paar Voraussetzungen und Bedingungen zu bedenken.
Im Hinblick auf den Erwerb von Wissen kursiert – in bildungspolitischen Kreisen ebenso wie an den Pädagogischen Hochschulen – die Ansicht, dass mit dem Einsatz von Tablets der Erwerb von Wissen in den Hintergrund trete, es brauche eigentlich gar keines mehr, man müsse nur wissen, wo man es rasch abrufen könne. Vorsicht! Lernen ist kumulativ, d.h. es funktioniert nach dem Schneeball-Prinzip. Ein solcher wird grösser und grösser, wenn man ihn rollt (leicht nasser Schnee vorausgesetzt). Aber es muss schon etwas da sein, womit man das Rollen beginnen kann, wenigstens ein kleiner Schneeball. Genauso beim Wissenserwerb: Um neues Wissen zu erwerben, braucht man etwas, was schon da ist, nämlich Vorwissen. Also: Man muss nicht bloss wissen, wo Wissen abgerufen werden kann, man muss schon solches haben, wenn man lernen will. Und dazu braucht man kein Tablet, sondern einen Kopf (mit Gehirn) mit aktivem Vorwissen. Im Übrigen: Wissen erwirbt man nicht, um es «zu haben», sondern – entscheidend – , um mit ihm weiteres Wissen zu erwerben – ein Leben lang!
Tablets haben kein Wissen. Sie können Information liefern, das «Rohmaterial» für Wissen, mehr aber nicht. In dieser Hinsicht werden diese digitalen Geräte massiv überschätzt. Lernende können zwar mit einem Klick einen gesuchten Begriff abrufen, aber mit Lernen oder Wissenserwerb hat das nichts zu tun: Bei Nachfrage ist oft schon am, Ende der Schulstunde nichts mehr vom betreffenden Thema vorhanden. Mit dem Wissen ging es wie einer Wolke an einem stürmischen Himmel: nur vorübergehend verfügbar, kurzlebig und für alles weitere Lernen nicht zu brauchen. Da beginnt inkohärentes Lernen; Lerndefizite sind vorprogrammiert.
Tablets erlauben einen erstaunlich schnellen und einfachen Zugriff auf Bilder, Filme oder Simulationen zu ungefähr allem, was für ein Lernen inhaltlich wichtig werden kann. Das macht das Lernen entsprechend mühelos, denn es prägt sich alles ein, wenn es nur klar genug präsentiert, also «vor Augen» gestellt wird. Diese Annahme vom mühelosen Einprägen ist ein allerdings falsch, entspricht einer Abbildtheorie des 17. Jahrhunderts (Sensualismus) und ist damit hoffnungslos veraltet. Lernen ist kein abbildender Prozess, sondern ein konstruktiver mit zwei Komponenten: (1) Vorwissen und (2) Wissen, wo man hinschauen muss auf dem Bildschirm. Fehlt beides, verlieren sich viele Lernende total auf dem Bildschirm, und niemand merkt es – mit entsprechenden Folgen für die Lernergebnisse!
Aber, so wird propagiert, die Tablets tragen zur «Selbststeuerung» des Lernens bei, weil sich die Lernenden selber kontrollieren können. Etwa so: Wer Mühe hat mit einer Aufgabe, klickt schon einmal die Lösung an; so einfach geht das. Nur wird dabei nichts gelernt. Wer diszipliniert zuerst die Lösung sucht und dann mit dem angeklickten Resultat vergleicht, findet Bestätigung, sofern alles richtig ist, und freut sich. Ist die Lösung aber falsch oder unvollständig, sieht alles ganz anders aus. Dann erweist sich das Tablet als ziemlich unbegabt: Es kann nämlich keine brauchbare Fehlerdiagnose stellen. Das können nur Lehrerinnen oder Lehrer mit viel lerndiagnostischem Gespür oder Eltern, denen die Schularbeit ihrer Kinder etwas bedeutet.
Auch wer glaubt, Tablets fördern das Üben, liegt sehr oft falsch: Tablet-Einsatz killt das Üben nämlich immer dann, wenn den Lernenden vorgegaukelt wird, wie gut sie nach kurzer Zeit schon seien. Sie brechen das Üben dann zufrieden ab – typischerweise nach ganz wenigen gelösten Beispielen. Asiatische Schülerinnen und Schüler sind genau an dem Punkt besser: Sie beginnen hier mit Üben, auch ohne Tablet, bis sie die Inhalte leicht, sicher, richtig und vollständig wiedergeben können. Von daher kommt ihr Vorsprung. Viele Eltern wissen das und geben Gegensteuer; sie halten ein moderates Training für vernünftig, haben erfolgreiche Kinder und wissen: wir sind «von gestern», aber das stört sie nicht.
Vieles, was vor der 7. oder 8. Klasse im Unterricht «digital» gemacht wird, sind manchmal zwar attraktive, aber wenig lernwirksame Beschäftigungen – Unterhaltungen ohne jegliche Kohärenz und Struktur. Nur um «in» zu sein, braucht es keine Tablets. Zentral ist die Frage nach der verantwortbaren Nutzung der Lernzeit. Sie ist nämlich kostbar, und es gilt Prioritäten zu setzen: Jugendliche müssen sich sprachlich differenziert ausdrücken, stimmig argumentieren, im arithmetischen Denken die Zahlengrössen angemessen handhaben und die Wirkung von Operationen antizipieren können; ihre soziale Umwelt einschätzen, aber auch die Natur beobachten und das beschreiben können, was sie sehen, ferner Wissen zusammen mit anderen erwerben oder teilen und gemeinsam weiterverwenden; aber auch überlegen, wie sie einen Gegenstand in die Hand nehmen könnten, den sie noch nicht kennen. Was soll die «Früh-Digitalisierung» unserer Schülerinnen und Schüler? Ab der 8. Klasse wäre sie noch früh genug. Bekannt ist, dass viele Kaderleute im Silicon Valley sich hüten, Ihre Kinder in «digitalisierte» Grundschulen zu schicken. Wer sechs oder sieben Grundschuljahre lang ohne Tablet & Co. lernt, verpasst nämlich nichts.
Nachbemerkung: Den vielen Versuchen, die Schülerinnen und Schüler von ferne zu unterrichten, kann man nur Erfolg wünschen. Es sind aber lediglich gute Notmassnahmen. Lehrer und Schüler werden gerne wieder zum nicht digitalen Unterricht zurückkehren und dann auch dessen grosse Vorteile erkennen.
CQ-CQ, Farm Meyer ruft, bitte kommen! …..Hallo again!
Outback, eine Million Quadratkilometer, 10 Schüler, die Lehrerin 1000 Km entfernt, alles geht über Satelliten-Internet. Früher Funk, Kurz-Welle! Man sieht sich einmal im Jahr und bringt die Autoritätsperson, die Strenge aber Liebevolle mit vor Ort. So geht das seit vielen Jahrzehnten. Pardon, da werden wir doch wegen diesen Kronen nicht verzweifeln! Na bitte, der König ist nackt, so hoffe ich wenigstens, er wird es früher oder später einsehen müssen. Also und wir? Wir üben solange Outback, imitieren aus Not australische Verhältnisse, zwar nicht aus Spass, verstehen sie mich richtig, eine Art Abenteuer aus Vernunft. So lernen wir spielend wie vielfältig das Leben auf diesem Planeten sein kann. Alles hat auch seine guten Seiten, nun lernen Lehrer/innen uraltes Wissen von der anderen Seite der Erde. Und die Kinder ? Selbständigkeit, Verantwortung gegenüber sich und anderen und diszipliniertes Arbeiten. Ein Hoch den Lehrkräften, die das alles organisieren, wir applaudieren auch ihnen allen. Herzlichen Dank, grossartig!
…cathari
Normalerweise stimme ich mit ihren Ansichten überein.
Hier wünsche ich mir nun besonders eine Würdigung von Daniel Jung, der als Mathe-Youtuber und Buchautor Heerscharen von Schülerinnen und Schülern zu ihren jeweiligen Zielen begleitet und unterstützt. Mein Sohn gehört auch dazu.
Natürlich erreicht man nicht alle damit, aber schauen Sie es sich bitte einmal persönlich an, das würde mir gefallen.
Immerhin, Fernunterricht, nicht houmskuuling. Meine Enkelkinder schreiben Briefe, lesen Gedichte, lösen Kreuzworträtsel, führen eine eigene Buchhaltung (Einnahmen gegenüber Ausgaben) und stellen fest,wie die Vorgaben des Bundesrates nicht eingehalten werden. Sie sind auch erstaunt , dass der Klimanotstand nicht mehr stattfindet.