Kinder brauchen Geschichten
Jedes Kind hat seinen seelischen Code. Leicht entschlüsseln kann ihn, wer sich an die eigene Kindheit erinnert. Dazu gehört das Vorlesen und Erzählen. Wie viele Geschichten hat die Mutter uns drei Buben erzählt, wie manches Märchen der geduldige Grossvater, wie packend konnte meine Erstklasslehrerin fabulieren und formulieren. Die Kinderwelt, so erinnere ich mich, ist eben ein eigenes und grosses Reich, ein Reich ohne Grenzen und Zollschranken. Ein Reich mit vielen kostbaren (Erzähl-)Schätzen. Es gab uns Geborgenheit. Nur allzu schnell wurden wir aus dieser Welt vertrieben.
Sich von Kinderaugen verführen lassen
Erzählen und Reimen, das darf jeder; dazu bedarf es keiner akademischer Weihen und keines staatlichen Diploms. Man muss sich nur einladen, ja verführen lassen von Kinderaugen. Eben: Wieder werden wie die Kinder und sich von ihrem Staunen verzaubern und forttragen lassen! Denn mit dem Staunen beginnt bekanntlich alle Philosophie.
Die Samichlauszeit und die Weihnachtstage, sie laden ganz besonders zur jahrhundertealten Tradition des Erzählens ein. Es ist eine Begegnung mit dem Unverfügbaren, wie es der Philosoph Hartmut Rosa in seiner neuen Publikation so träf beschreibt. [1] Ein Zusammentreffen mit dem Geheimnisvollen und Unerklärbaren, dem Unverfestigten und Rätselhaften. Das ging mir durch den Kopf, als ich jüngst die Weihnachtsfeier in einer vierten Klasse miterlebte. Die Lehrerin erzählte. Packend und gekonnt. Selbst der spitzbübische Schlingel, der sonst kaum ruhig sitzen kann, hing gebannt an ihren Lippen, gespannt und von der Geschichte gefangen. Mucksmäuschenstill war’s. Man hätte eine Stecknadel fallen hören.
Das Geheimnis guter Geschichten
Unsere Kinderbücher bewahren vieles von dem, was in der heutigen Literatur fast schon nicht mehr sein darf: Geschichten gehen gut aus; es kommen auch ganz normale Menschen vor. Sie reden mit Tieren und glauben an das Gute, sie wollen das Fürchten einfach nicht lernen und laufen in Siebenmeilenstiefeln umher. Solche Geschichten wollen weder theoretisch belehren noch moralisierend bekehren. Sie wollen ganz einfach Freude bereiten und die Fantasie beflügeln.
„Vielleicht kann Kinderliteratur mithelfen, die Kinder wacher, lebendiger, furchtloser, fröhlicher zu machen? Damit sie später nicht aufhören, Mensch zu sein. Das wäre viel.“ [2] So schrieb der deutsche Lyriker und Jugendbuchautor Josef Guggenmos. Mit seinen Geschichten und Gedichten hat er diesen Wunsch gelebt und ihm literarisch feinfühlige Form gegeben.
Der Weg zum Lesen führt über den Zauber des Zuhörens
Menschen haben Geschichten gern – und sie brauchen Geschichten. Gute Geschichten, betont der Literaturprofessor und Schriftsteller Peter von Matt. Das gilt auch für unsere Schulkinder. Ein klassischer Grundsatz; darum ewig gültig. Und heute vielleicht wichtiger denn je. Denn die Lesefreude der Schweizer Schüler nimmt dramatisch ab, so diagnostiziert die jüngste PISA-Studie. Die Hälfte der rund 6’000 befragten 15-Jährigen liest nie „aus Vergnügen“. Dies im Nach-Gutenbergschen-Zeitalter! Dabei hat verstehendes Lesen in einer kommunikativ verdichteten Zeit einen elementaren Wert.
Vermutlich führt der Weg zum Lesen übers Vorlesen und Erzählen mit dem Zauber des Zuhörens. Die meisten Kinder lieben das Narrative und hören gerne zu. Hören ist ein kognitiver Prozess. [3] Er findet nicht nur im Ohr statt. Das Hirn verarbeitet Sprache. Das Gehörte verstehen, es zu einem zusammenhängenden Gefüge verknüpfen und dann das Ganze ins Netz des eigenen Wissens aufnehmen und einordnen: Das ist bewusstes Hören. Ganz ähnlich wie beim Lesen.
Lesen ist nicht möglich ohne Denken und Mitdenken
Lesen ist eine geistige Tätigkeit. Lesen ist zergliedern und aufbauen. Lesen ist nicht möglich ohne Denken und Mitdenken. Darum ist Lesen auch anstrengend. Von einem Video, von Bildern kann man sich „mitnehmen“ lassen; am Smartphone können wir uns von einer digitalen Informationsflut treiben lassen. Doch ein Buch kann man kaum „über sich ergehen lassen“. Lesen ist mehr als anschauen, Lesen ist eine Kunst. Sie basiert von den ersten Schritten an auf einem guten Unterricht.
Dem verführerischen Reiz des Erzählgestus erliegen
Der Einstieg in die Welt des Lesens erfolgt früh. Schon die gute Kindergärtnerin weiss, wie wichtig ausdrucksvolles und spannendes Erzählen ist. Wer von einer Geschichte ergriffen ist, entwickelt sie im Kopf weiter; er fantasiert und fabuliert darüber.
Unsere Erstklasslehrerin war eine wahre Trudi Gerster. Sie hat die Erzählkultur aus den Kindergarten-Tagen weitergeführt – im Klassenrahmen. Ihre Fortsetzungsgeschichten, die sie uns täglich abschnittsweise vorlas, wurden zum fesselnden Gemeinschaftsband für die ganze Klasse. Mit ihren Kommentaren und Fragen förderte sie aktives Zuhören und das Verstehen von Zusammenhängen. Früh weckte sie in uns Buben das Verlangen, selber zu lesen. Sie brachte Lektüren mit in den Unterricht. Noch heute erinnere ich mich an mein erstes SJW-Heft „Nur der Ruedi“. Mehrmals habe ich es als kleiner Knirps verschlungen. Unvergesslich bleibt auch Adolf Heizmanns spannende Erzählung vom „Überfall am Hauenstein“. Die beiden vergilbten Broschüren trotzten jeder Revision meiner Bücherwand.
Hingeführt und zum lebenslangen Lesen verführt hat mich unsere Erstklasslehrerin. Sie entzifferte meinen seelischen Code. Ich erlag dem verführerischen Reiz ihres Erzählgestus. Dafür bin ich ihr dankbar. Noch heute.
[1] Hartmut Rosa (2019), Unverfügbarkeit. Wien/Salzburg: Residenz Verlag, S. 8.
[2] Hans-Joachim Gelberg (1992), Ein Dichter, der für Kinder schreibt. Sonderdruck zu Ehren des 70. Geburtstages von Josef Guggenmos. Weinheim und Basel: Beltz & Gelberg-Verlag, S. 5.
[3] Giorgio V. Müller, Zum Hören braucht es mehr als gute Ohren. In: NZZ, 22.11.17, S. 30.
Wenn Kinder von klein auf Geschichten hören und intensiv aufnehmen, erwerben sie sich die nötige Offenheit für die Freude am Lesen. Doch wie steht es mit der Erzählkunst in Kindergarten und Schule? Vor allem in der Schule scheint der Musse für spannende Erzählungen nur noch wenig Zeit eingeräumt zu werden. Was nicht direkt messbar ist, verliert an Wert. Doch das vernachlässigte Eintauchen in die Welt der Geschichten hinterlässt bei den Kindern grosse emotionale Lücken.
Carl Bossard beschreibt in grossartiger Weise, was eine starke Erzählerin bei Kindern auslösen kann, wenn sie mit Mimik, Tonfall und Begeisterung eine Geschichte zum Erlebnis macht. Kinder, die über einen Schatz an grösseren und kleineren Geschichten verfügen, sind viel eher bereit, sich auf das Abenteuer Lesen einzulassen. Ihre geweckte Neugier und ihr erweiterter Wortschatz schaffen beste Voraussetzungen für gelingendes Lesen. Der innere Antrieb, mit der Zeit auch längere Texte lesen zu können, ist bei diesen Kindern stark ausgebildet. Was für ein Unterschied zu Schülern, die im intensiven Zuhören wenig geübt sind und später oft nur Kurzbotschaften lesen und aufnehmen können!
Kinder, die es gewohnt sind, während des Zuhörens innere Bilder zu entwickeln, bauen sich eine starke eigene Vorstellungswelt auf. Es bilden sich Begriffe, die gefüllt sind mit Leben. Gewisse Wörter bekommen geradezu eine Signalfunktion fürs Leseverstehen. Richtiges Lesen gelingt am besten im Zustand der bereichernden Musse. Beim aufmerksamen Lesen werden Kinder das bisherige Gelernte mit der neuen Situation im Text verbinden. Dieser Vorgang ist der eigentliche Kern des Bildungsaufbaus.
Die Schule tut gut daran, die aktuelle Hektik durch zu viele Bildungsziele deutlich zu reduzieren. Es kommt weniger darauf an, den Kindern möglichst viel zu vermitteln als ihnen Zeit zu geben, ihre innere Vorstellungswelt zu entwickeln. Dazu leisten das Erzählen und das erwartungsfrohe Lesen einen grossen Beitrag.
Wohl denen, deren Gemütskostüm die Märchen und Geschichten in ihrer Jugend schadlos überstehen und daraus ihre eigene Lebensgeschichte mitweben konnten. Selber kommen mir dazu nur Geschichten geschrieben von Erwachsenen der Vor-Industrialisierung in den Sinn, von mit der Schere abgeschnittenen Fingern, im Ofen verbrannten Kindern, im Schreckenswald verlaufenen Geschwistern, vom Wolf aufgefressenen Grossmüttern und schwarzer Magie, Verdammflüche, sadistische Folterungen, Psychoterror und ermorderte Stiefmütter. Schön, wenn die heutigen Pädagoginnen und Pädagogen die Kinder mit ihren eigenen, gewaltfreien, politisch korrekten und erziehungspsychologisch richtigen Geschichten aufwachsen lassen. Oder machen diese alten Schreckensmärchen und ihre Archetypen die Kinder erst richtig stabil und bereiten sie richtig auf die Vielfalt der Leben vor? Ich weis es nicht und habe niemanden zum Geschichten erzählen, aber vielleicht ist das besser so.
Wenn ich Vorschulenkelkindern Bilderbücher erzähle, übersetze ich laufend in den Dialekt. Das erfordert ein gewisses Sprachtraining, da man häufig ganze Sätze umstellen und Wörter übersetzen muss. Es macht Spass. Ich habe das schon früher so gemacht. Manchmal darf es auch Schriftsprache sein, aber sie schafft bei kleinen Kindern Distanz.
Ich mag mich leider nicht an Lehrerinnen mit Geschichten-Erzähltalent erinnern. Erst recht nicht an solche, die durch Fragen den Dialog gefördert hätten. Das hätte mir sicher gefallen.