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16. Februar 2021

Sinkende Lebenserwartung

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Sinkende Lebenserwartung

Von Heiner Hug, Rom - 07.05.2016

Fast die Hälfte aller Italienerinnen und Italiener sind übergewichtig oder gar fettleibig

Die Italiener schwärmen von der mediterranen Küche. Fisch und Olivenöl sind gesund und verlängern das Leben.

Die Werbung zeigt uns schlanke Grazien, belle ragazze und gutgebaute sportliche Männer. Was für ein schönes Volk.

Doch schön sind immer weniger. Und die gesunde mediterrane Küche genügt vielen nicht mehr.

46,4 Prozent der Italienerinnen und Italiener sind übergewichtig oder fettleibig: 36,2 Prozent sind übergewichtig, 10,2 Prozent sind fettleibig. Dies geht aus dem eben in Rom veröffentlichten Rapport „Osservasalute“ hervor.

Trendwende

Das Übergewicht hat Folgen. Zum ersten Mal seit es seriöse Statistiken gibt, sinkt die Lebenserwartung der Italienerinnen und Italiener.

Im letzten Jahr betrug die durchschnittliche Lebenserwartung einer italienischen Frau 84,7 Jahre. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies ein Rückgang von 0,3 Jahren.

Ein italienischer Mann wurde 2015 im Durchschnitt 80,1 Jahre alt. Das sind 0,2 Jahre weniger als im Vorjahr.

Dank den medizinischen, chirurgischen und pharmazeutischen Fortschritten, war die Lebenserwartung in Italien nach dem Krieg alle vier Jahre um bis zu zwölf Monate gestiegen. Jetzt also die Trendwende.

Doppel so viele Kalorien wie nötig

Ursache ist der ungesunde Lebenswandel. Er sei verantwortlich für „ein stilles Massaker“, sagt Paolo Scraccia, Professor an der „Università Roma Tor Vergata“ und Präsident der „Società italiana dell’obesità“ (SIO).

„Wir essen zu viel, wir sitzen zu viel, wir bewegen uns zu wenig, wir trinken zu viel Alkohol und rauchen zu viel“. Das seien die Killer von heute“.

Die meisten Italiener würden heute doppelt so viele Kalorien als nötig zu sich nehmen. Immerhin treiben 28,2 Prozent der Bevölkerung Sport. Doch der Rest tut meist gar nichts. Scraccia sagt, um gesund zu sein, müsste jeder Mensch jeden Tag mindestens zehntausend Schritte gehen.

Ein Volk auf Diät setzen

Das Übergewicht und die mangelnde Bewegung führen zu Diabetes, Bluthochdruck, Krebs sowie Herz- und Gefässkrankheiten. Dazu kommt, dass die Italiener immer weniger zur Kontrolle zum Arzt gehen. Auch die Impfquoten sinken. Zehn Millionen Italienerinnen und Italiener rauchen.

Beatrice Lorenzin, die italienische Gesundheitsministerin, fordert jetzt mehr Investitionen in die Prävention und in die Aufklärung. Sie möchte das ganze Volk "auf Diät setzen". Doch das wird wohl nicht einfach sein.  

Es wird noch schlimmer

Statistiken zeigen zudem ein Nord-Süd-Gefälle. In Sizilien und in Kampanien (mit der Hauptstadt Neapel) lebt man vier Jahre weniger lang als im Norden.

Doch am meisten Darm- und Magenkrebs wird im Norden diagnostiziert: in Ligurien, im Friaul, in der Emilia-Romagna (mit Bologna) und in Rom.

Am fettleibigsten (schweres Übergewicht, Body Mass Index ab 30) sind Menschen vor allem im Süden, und zwar in den Regionen Molise (14,6 Prozent), Abruzzen (13,1 Prozent), Apulien (11,9 Prozent).

Vor allem die Dicken sind es, die immer mehr zu Antidepressiva greifen. Ihr Konsum hat drastisch zugenommen, vor allem in der Toscana, im Südtirol, in Ligurien, der Emilia-Romania und in Umbrien.

Und es wird noch schlimmer: Laut einem Rapport der in Genf beheimateten Weltgesundheitsorganisation werden im Jahr 2030 75 Prozent der Italiener und Italienerinnen übergewichtig oder fettleibig sein.

Ein schwacher Trost bleibt: in manch andern Ländern zeichnet sich ein ähnlicher Trend ab.

Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes sind immer die Folgen einer Ernährungsweise mit zu viel raffinierten Kohlenhydraten. Die traditionelle Küche hat auch in Italien der internationalen Einheitsküche mit vielen hochverarbeiteten, zucker- und stärkereichen Ingredienzien Platz gemacht. Durch diese "moderne" Ernährungsweise bilden sich Insulinresistenz gepaart mit einem zu hohen Insulinspiegel im Blut. Dies führt zu Leberverfettung, Pankreasverfettung, Fettbildung um die Organe im Bauch. Es folgt die Ausbildung eines "metabolischen Syndroms", gefolgt von Diabetes Typ 2 mit all seinen üblen Folgekrankheiten. Nicht die Kalorienmenge und nicht Bewegungsmangel sind der Auslöser dieser weltweiten Epidemie an Fettleibigkeit und Diabetes, sondern in der Hauptsache die Abkehr von der traditionellen Küche aus naturbelassenen Ingredienzien. Unglaublich aber wahr, in China ist die Anzahl der Typ-2-Diabetiker innerhalb von 30 Jahren von fast 0 auf 12% der Bevölkerung angestiegen. In Deutschland hatte es für dieselbe Entwicklung immerhin 70 Jahre bedurft.

Was im Zusammenhang mit diesem Artikel noch wichtig zu erfahren wäre, weshalb immer mehr ItalienerInnen übergewichtiger und fettleibiger werden? Vielleicht ist es eine zunehmende Armut, die für andere Essgewohnheiten verantwortlich zeichnet. Mehr Pizza und sonstiger Junkfood als Salat und Gemüse. Wer arm ist, hat andere Sorgen als sich tagtäglich mit dem Essen zu beschäftigen. Und vor allem muss das Essen billig sein. Wer weniger Wert auf sein Äusseres gibt, indem er sich nicht gesund ernährt, sich nicht bewegt, lethargisch wird oder gar an Depressionen leidet und sich mit Psychopharmaka schadlos hält, also psychisch in keiner guter Verfassung ist, läuft Gefahr fettleibig zu werden. Gewisse Medikamente und ein gestörter Stoffwechsel können dick machen. Übergewicht und Fettleibigkeit haben meines Erachtens verschiedene Gründe und sind nicht einfach ein Ausdruck von ungesunder Ernährung. In Italien glaubt wohl mancher nicht mehr daran, dass es ihm wirtschaftlich besser geht und er dadurch eine Zukunft hat. In der Schweiz ist es anders: Überall Jogger und Biker. Ein eigentlicher Gesundheitswahn hat dieses Land befallen. Keine Spur von Resignation. Man will im Geschäft bleiben und tut dafür alles. Hier will man schlank bleiben oder wieder schlank werden. Einen sozialen Abstieg will und kann sich keiner leisten. In Italien haben sich Zukunftshoffnungen insofern relativiert, als dass es für viele gar keine mehr gibt. Somit gibt es auch immer weniger Grund und Geld, sich gesund zu ernähren. Meiner Ansicht nach sind Übergewicht und Fettleibigkeit ein Spiegel der Gesellschaft und aussagekräftiger als das reine Gewicht.

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