Sprachliche Ausdrucksfähigkeit
Jeder Gedanke hat einen Körper, die Sprache. Den eigenen Gedanken einen präzisen Körper geben, die prägnante Sprache, das ist gekonntes Handwerk und anspruchsvolle Aufgabe zugleich. Sie stellt sich immer wieder: beim Übergang von der Idee zum gesprochenen Wort, vom Gedachten zum konkreten Text, beim Finden und Formulieren des genauen Gedankens und des richtigen Satzes. Konfuse Gedankenflüge werden klarer, wenn sie sich der Grammatik und Semantik aussetzen müssen.
Sich klar, konzis und präzis ausdrücken können: Das kommt nicht von selber. Es heranzubilden, ist eine eminent pädagogische Aufgabe und fordert die Lehrpersonen. Mit den Kindern und Jugendlichen dieses Können aufzubauen, braucht Impulse und Geduld, benötigt Übung und bedarf der Ermutigung. Es ist intensive Arbeit an der Sprache. Und Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken, wie uns Friedrich Dürrenmatt wissen lässt. Denn jeder Gedanke entsteht erst mit seiner sprachlichen Fassung. Klar gedacht heisst sprachlich gut herausgearbeitet; gut gesprochen oder genau geschrieben heisst klar gedacht.
Kern der Bildung: Ausdrucksfähigkeit
Denken vollzieht sich sprachlich. Und durch Sprache gelangt man zum Verstehen. Das gilt für alle Fächer. Die Kernsprache Deutsch will darum geübt sein, konsequent und unnachgiebig. Gerade auch bei Kindern aus weniger privilegiertem Elternhaus oder bei Jugendlichen mit fremdsprachigem Hintergrund! Doch in der Überfülle der Fächer und der Dichte des Schulalltags fehlt dazu vielfach die Zeit. Das Sprachtraining Deutsch kommt zu kurz. Zu viel anderes muss mit zu wenig Zeit behandelt sein – auch dies ohne die notwendige Tiefe, ohne das unerlässliche Konsolidieren, Automatisieren und Anwenden. So bleibt manches an der Oberfläche. Man surft darüber hinweg.
„Lernt endlich Deutsch!“, forderte darum die „NZZ am Sonntag“ vor Kurzem. Und sie konkretisierte knapp und konzis: „Die Politik hat vor lauter Befriedigung von Partikularinteressen den Fokus auf den Kern jeder Bildung verloren: die Ausdrucksfähigkeit.“ (1) Stattdessen führten die Bildungsdepartemente Allerweltsfächer wie Religion, Kulturen und Ethik ein und überfrachteten seit Jahren die Primarschulkinder mit Frühfranzösisch und Frühenglisch, obwohl die Resultate, gelinde gesagt, zweifelhaft seien, gab die NZZaS zu bedenken.
Ringen um sprachliche Präzision
Wie wichtig gute Deutschkenntnisse sind, zeigt sich beispielsweise auch in der Mathematik. Viele Aufgaben sind heute textgebunden und alltagsbezogen. Das sogenannte mathematische Modellieren setzt das Reden über Mathematik voraus, das Argumentieren und Begründen. „Das Ringen um sprachliche Präzision bei der Beschreibung mathematischer Konzepte ist essenziell, um Mathematik zu verstehen“, betont die Hochschullehrerin Susanne Prediger. (2) Sie forscht an der Technischen Universität Dortmund zum Mathematikunterricht.
Ein Unterricht, der das Sprachverständnis ausbildet und das Verstehen komplexer Probleme fördert, erzielt grössere Lernfortschritte als herkömmliche Lernformen. Die Mathematikerin Susanne Prediger konnte dies in mehreren empirischen Studien nachweisen. Denken vollzieht sich sprachlich.
Sprache üben wie ein Musikinstrument
Alles ist und alles geschieht eben in der Sprache; ohne sie hat nichts Bestand, meint der Schriftsteller Martin Walser. Darum müssen wir diesem subtilen Instrument Sorge tragen und es auch üben wie eine junge Geigerin ihre Violine. Man kann mit und an der Sprache scheitern. Beispiele gibt es genügend – aus Betrieben, Berufsschulen, Universitäten.
So erzählt der Rechtswissenschaftler Alain Griffel, Ordinarius an der Universität Zürich: „Kürzlich habe ich ein Gerichtsurteil gelesen, vermutlich verfasst von einem jungen Gerichtsschreiber, von dem selbst ich als Jurist die entscheidende Passage nicht verstanden habe.“ (3) Das ist leider kein Einzelfall. Griffel fügt bei: „Ein fähiger Jurist arbeitet mit der Sprache wie der Chirurg mit dem Skalpell – und nicht mit einem Brotmesser.“
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät reagiert und führt ab Herbst 2021 für Erstsemestrige einen obligatorischen Kurs zum wissenschaftlichen Schreiben ein. Selbstverständliches ist abhandengekommen! Genau hierzu müssen Lehrerinnen und Lehrer anleiten. Ihre Schülerinnen und Schüler zu präziser Ausdrucksfähigkeit zu führen, zählt zu ihren wichtigsten Aufgaben. Heute mehr denn je.
(1) Peter Teuwsen (2020): „Lernt endlich Deutsch!“, in: NZZaS, 01.11.2020, S. 57
(2) Thomas Kerstan (2020): Mit Liebe rechnen, in: DIE ZEIT, 15.10.2020, S. 38
(3) Joel Bedetti (2020): Deutsch, aber leider nicht deutlich, in: NZZaS, 27.09.2020, S. 4 (Beilage Bildung)
Stimmt, Sprache ist nicht nur zur Unterhaltung, sprich Literatur runter bis zu 20 Minuten da, sondern auch ein Werkzeug des zwischenmenschlichen Gebarens, Verhaltens, beispielsweise die Gesetzgebung, die Rechtspflege und - Durchsetzung.
Beim Wort "Sprachpolizist" im Kommentar von Herrn Grauer ist mir dies wieder eingefallen; nun auch schon wieder acht Jahre alt.
https://www.youtube.com/watch?v=vpZtp2-MR8Q
Thomas Meyer wird sich heute wohl nur noch zur Freude mit Werbetexten beschäftigen. Ich gönne es ihm von Herzen. Mit freundlichen Grüssen
Sprachpolizisten sind in meiner Sichtweise einzug die Eiferer, die überall Verstösse gegen die "politische Korrektheit" sehen und Ersatzausdrücke proklamieren. Nichts als Zensur! Wenn Thomas Meyer im hübschen Youtube-Spot einen Kommafehler moniert, so hat er meine Sympathie. Allerdings: Was der Duden seit einigen Jahren als Kommaregeln durchgehen lässt, liesse das Haar des einstigen NZZ-Sprachpflegers, Walter Heuer, zu Berge stehen. Naja, lassen wir's.
Sehr geehrter Herr Bosshard
Vielen Dank für Ihre beherzigenswerten Zeilen. Ich teile Ihre Sorge. Die Sprachverluderung ist ein grassierendes Übel. Genitiv und Dativ verbluten längst auf dem Opfertisch von Journalisten, "Lehrpersonen" und vielen andern, die mit der deutschen Sprache alltäglich hantieren. Die Heerscharen von Sprachpolizisten (inkl. deren weibliche Seite, hier ohne das unsägliche Sternchen erwähnt) leisten das Ihrige dazu. Der Versuch der rechtswissenschaftlichen Fakultät ist ehrenwert und soll unternommen werden, keine Frage. Wie viel Erfolg ihm beschieden sein wird, muss sich noch weisen.