Zeitlose Zeiterscheinung

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Zeitlose Zeiterscheinung

Von Alex Bänninger, 27.04.2017

Wie glaubwürdig waren Zeitungen, als es Fake News und Lügenpresse noch nicht gab? Die Einschätzung Joseph Roths vor 80 Jahren ist noch heute lesenswert.

Die uns überflutenden Informationen sind ein kleines Problem gemessen an der Schwierigkeit, in den Medien die Wahrheit von der Unwahrheit zu unterscheiden, die Tatsachen von den Gerüchten und die redlichen von den unredlichen Absichten. Wir tappen in Fallen und merken es, wenn überhaupt, zu spät. Was der eigenen Meinung oder dem eigenen Vorurteil entspricht, halten wir vorschnell für wahr. Das Leise unterliegt dem Lauten, die Differenzierung der Vereinfachung, die Warnung dem Heilsversprechen. Eine Zeiterscheinung?

Pessimistische Mahnung

Was gemeinhin als Zeiterscheinung gilt, ist insofern keine, als Joseph Roth das Problem bereits 1939 mahnend und pessimistisch beschrieb. Der unter dem Datum vom 1./2. Januar in der „Pariser Tageszeitung“ veröffentlichte „Leitfaden für Zeitungsleser anno 1939“ – fünf Monate vor dem Tod des Schriftstellers und Journalisten im Pariser Exil – ist noch heute lesens- und bedenkenswert.

Roth beschreibt in seinem Artikel, der in der Gesamtausgabe seiner Werke knapp drei Buchseiten umfasst, aufgrund seiner gesammelten Erfahrungen die Dehnungen, Verschleierungen und Verharmlosungen der Wahrheit. Oft sei es auch trotz allen Bemühens schwierig, die Tatsachen zu erkennen und wenn, dann zu respektieren.

Wichtiger Rat

Der Artikel schliesst mit einer begründeten Empfehlung und einem abgründigen Spiel mit Frage- und Ausrufzeichen:

„Nichts deutet darauf hin, dass Diktatoren aufhören werden, die Welt mit ihrem Frieden zu überziehen; dass diejenigen, die befugt, aber nicht berufen sind, über unser Schicksal zu entscheiden, klüger oder einsichtiger sind als du und ich und jener Zeitungsleser dort in der Kaffeehaus-Ecke. Nichts deutet darauf hin, dass die kindische Gläubigkeit, die wir den Worten, Entscheidungen, dem Trachten und Planen dieses oder jenes Staatsmannes entgegenbringen, auch nur die Spur einer Rechtfertigung finden wird. Wahrscheinlich wird unsere Unfähigkeit, das ‚kalte Blut’ zu bewahren, uns dafür jenen prophetischen Pessimismus bewahren, den wir vor den Geschichtemachern, Weltlenkern und den Verwaltern der ‚öffentlichen Meinung’ voraus haben. Woher werden die Winde kommen, deren Beute wir sind? Wohin werden wir verweht, im neuen Jahr? – Ach! Es ist schwer, Sätze zu schreiben, an deren Ende kein Fragezeichen steht. Und der wichtigste Rat, den man dem Leser erteilen kann, ist der: Er traue rückhaltlos nur den Fragesätzen! – Und wird er diesen Rat befolgen?“

Vademecum für die Medien

Der „wichtigste Rat“ richtet sich in erster Linie an die Presse, nämlich Fragen zu formulieren und nicht oder wenigstens nicht sofort Antworten. Wo keine Fragesätze zu lesen sind, läuft der Rat, nur ihnen zu vertrauen, ins Leere.

Der „Leitfaden für Zeitungsleser“ erweist sich als Leitfaden für Zeitungen. Joseph Roth nimmt die eigene Zunft ins Visier und auferlegt ihr die Pflicht, als Vorleistung zu erbringen, was von der Leserschaft erwartet werden müsste: zu zweifeln, argwöhnisch zu sein, die Quellen zu prüfen, keiner Behauptung auf den Leim zu kriechen.

Von Roth stammen direkte und indirekte Fragesätze in einer literarischen und journalistischen Fülle, die ihn zu Ratschlägen ermächtigt. Mit Ausrufzeichen. So sehr, dass sein Leitfaden zu einem Vademecum für die Medien – und die Social Media – schlechthin geworden ist.

Leider besitzt ein einziger Zweifel Allgemeingültigkeit und Ewigkeitswert: ob Ratschläge, auch fundierte, Gefolgschaft finden.

Joseph Roth: Leitfaden für Zeitungsleser anno 1939, Pariser Tageszeitung, 1./2.1.1939, in: Joseph Roth Werke 3, Das journalistische Werk 1929-1939, hg. Klaus Westermann, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1991, S. 857 ff

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Danke Herr Bänninger für den guten Beitrag.
Hier noch einige Sätze mit Fragezeichen: Ist es das Ziel der Lügenpresse, uns, das Volk (in der ganzen Welt), für das neokapitalistische System, wenn's sein muss, für einen "gerechten" Krieg gefügig zu machen? Weshalb darf Facebook Trends nur publizieren, wenn diese bereits von Reuters behandelt (frei gegeben) wurden? Weshalb wurde aufgrund einer Reuter-Meldung beim Ereignis 9/11 der Einsturz des dritten Gebäudes, WTC7, zwanzig Minuten zu früh gemeldet? Wird nicht auch gelogen, wenn etwas verschwiegen wird, das zum Gesamtverständnis eines Ereignisses beitragen würde? Praktizieren Lügenpresse nicht die sog. alternativen, sondern die etablierten Medien? Ich empfehle den Vortrag von Dr. Daniele Ganser unter https://www.youtube.com/watch?v=doWI3kOAozU anzusehen, woraus noch viele weitere Fragen abgeleitet werden können.

Danke, interessant zu lesen! In's Auge gestochen ist mir der Satz: "...uns dafür jenen prophetischen Pessimismus bewahren, den wir vor den Geschichtemachern, Weltlenkern und den Verwaltern der ‚öffentlichen Meinung’ voraus haben."

Heutzutage meint sich ja jeder der auch nur Gemeinderat werden will zum "unverbesserlichen Optimisten" erklären zu müssen. Inflationär und penetrant wie das ist, läuft das doch auf eine Denkblockade hinaus...

Danke, Herr Bänninger. Anregend.
Was ist Wahrheit (eine Reihe von Philosophen)? Was ist Wirklichkeit (Watzlawick & Co.)?
Orientierung in der Welt war wohl schon immer eine Herausforderung. Und seit es Massenmedien gibt, stellt sich die Frage nach der "Glaub-Würdigkeit" des Schreibenden (die meisten, nehm ich an, beanspruchen eine solche). Die Erkenntnistheorie lässt grüssen. Filter wie: Wissenschaft, "seriöse" vs. Boulevard Presse, der öffentliche Ruf eines Schreibenden, etc. sind halt nur Hilfsmittel, heute wieder stark "aufgeweicht" wegen der Informationsflut, Aufmerksamkeitssucht, etc. Es gab und gibt immer wieder Zeiten mit hohem bzw. mit tiefem gesellschaftlichem Konsens. In letzterem verliert die Glaubwürdigkeit des Bemühens um "Objektivität" Gewicht, die radikale Subjektivität steigt an, im Guten (Skepsis, Eigen-Ständigkeit) wie im Schlechten (Diktatoren, etc.). Das Pendel schlägt nun halt mal wieder in eine Richtung (Komfortsuche in billigen Emotionen, bei Heilsversprechern, etc). Immerhin gibt's heute auf breiter Ebene ausgezeichnete öffentliche Analysten und Einblicke - und auch Mut, von Schreibenden und jungen engagierten Leuten (z.B. Flüchtlingsprobleme). Das verleiht Zuversicht.

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