Zwischen Sozialität und Individualisierung

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Zwischen Sozialität und Individualisierung

Von Carl Bossard, 06.03.2019

Individualisierung – so lautet eine der wirkungsmächtigsten pädagogischen Zauberformeln. Die Digitalisierung verstärkt sie. Auf der Gegenseite schwindet die Sozialität. Ein Plädoyer fürs Sowohl-als-auch.

Zurzeit wird in den Schulen kräftig aufgerüstet. Darum werden Wandtafeln abmontiert: Tablett-Laptop mit Stift nennt sich das Allerheilmittel; Lernplattformen wie SharePoint und OneDrive, OneNote und Teams ermöglichen das papierlose Klassenzimmer. Bücher und Hefte werden sekundär. Das Digitale dominiert. Die Konsequenz: verstärkte Einzelarbeit am PC, Grossraumbüros bereits für kleine Kinder. So will es die IT-Offensive, die überall im Land gestartet wird. „Schülerinnen und Schüler [nehmen nun] ihr Lernen selbst in die Hand“, heisst es vielversprechend. Seit langem weiss man es: Jeder wird sein eigener Lerner, jede ihre eigene Lernorganisatorin und Lernevaluatorin – in Personalunion und individuell. So fordert es das Konzept der Individualisierung. „Individualisierung – was sonst?“, verlangte das Journal für Schulentwicklung vor einiger Zeit.

Die Dekonstruktion des Lehrens

Individualisierung basiert auf der konstruktivistischen Theorie des Lernens. Lernen sei, so sagt es die Theorie, ein Konstruktionsprozess der Erfahrung und ihrer reflexiven Verarbeitung. Der Lernvorgang vollziehe sich individuell, selbstverantwortlich und eigengesteuert – und könne nicht von andern instruiert werden.

Das hat Folgen: Das Lehren wird dekonstruiert, die Instruktion abgewertet zugunsten von Konstruktion. Die pädagogische Bedeutung der Lehrperson schwindet – ebenso das pulsierende Klassenkollektiv als Form des Sozialen. Die Sozialität spielt eine kleinere oder kaum mehr eine Rolle. Der soziale Wert des andern in den Lernprozessen wird schwächer; die humane und dialogische Kraft des Zwischenmenschlichen erodiert.

„Individualismus“ ist eine Gesellschaftsvorstellung

In einem eigentümlichen Spannungsfeld zum aktuellen pädagogischen Diskurs und zur Dominanz der „Individualisierung“ steht der soziologische Gedanke der „Wir-Ich-Balance“, wie ihn der Soziologe Norbert Elias formuliert hat. [1] „Individualisierung“ sei eine Sozialitätsform, betonte Elias. Das Individuum und das Kollektiv, der Einzelne und die „Gesellschaft“ stellten zwei Pole eines unauflöslichen Zusammenhangs dar. Das Subjektive müsse immer auch sozial justiert sein: das „Individuum“ als kleinstes Element des Sozialen. Schule und Unterricht sind darum beidem verpflichtet, dem Individuellen wie dem Sozialen. Darin liegt das Wesen ihres pädagogischen Auftrags.

Auf dieses unauflösliche Junktim machen der Begriff des Subjekts und der damit verbundene aufklärerische Gedanke der Autonomie aufmerksam. Reduziert formuliert, bedeutet Subjekt nicht einfach „Unabhängigkeit“ oder „Selbständigkeit“, sondern auch – wie es das lateinische Wort „sub-iectum“ sagt – „Unterwerfung unter das eigene Gesetz“ und Orientierung an etwas Allgemeinem. So kommt es in Kants Kategorischem Imperativ zum Ausdruck. [2] Das Subjekt soll immer so handeln, dass seine Maxime auch zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werden könnte: das Individuum und die Sozietät.

Socius weicht Solus

Erlaubt aber die aktuelle „Individualisierung“ das (Mitbe-)Denken des Pädagogischen und der sozialen Einbettung des Lernens noch? Ist das noch à jour? Oder markieren Fragen zur Sozialität gar eine pädagogische Leerstelle? Die Frage sei gestellt – angesichts der individualisierten (Lern-)Verhältnisse und der Tatsache, dass der Sozialität „keine wirklich systematische Bedeutung im und für das Lernen mehr zukommt“. [3] Die Dominanz der Individuallogik im pädagogischen Denken führt gar dazu, im Sozialkonstrukt der Klasse ein Hindernis des schulischen (Individual-)Auftrags zu sehen. Das Soziale mache dem Einzelnen Platz, stellt der Berliner Philosoph Byung-Chul Han nüchtern fest: „Socius weicht solus,“ formuliert er lapidar. [4]

Doch zum Pädagogischen gehört zwingend auch das Soziale. Das ist unbestritten. Die Gesellschaft braucht eine sozial gedachte Individualität. Darum war schulisches Lernen stets eingebettet in Soziales. Reifwerden vollzieht sich im Miteinander. „Alles Lernen war mir Leben“, charakterisiert der Dichter Jean Paul seine eigene Schulzeit. Ein „Miteinanderhausen und Ineinanderwohnen“, wie er metaphorisch ergänzt. In heutiger Sprache ausgedrückt: Wir brauchen ein Verständnis von „Miteinandersein“ oder eben ein Wir, das zum gemeinsamen Handeln fähig ist. „Singulär plural sein.“ [5] So drückt es der französische Philosoph Jean-Luc Nancy aus.

Das Spannungsfeld des pädagogischen Alltags

Individuation und Sozialisation sind im komplexen Feld von Schule und Unterricht nur zwei von vielen Widersprüchen. Das pädagogische Parterre ist voller Gegensätze wie beispielsweise zwischen Vorwärtskommen im Inhaltlichen und Vertiefen durch Üben oder eben zwischen Individualisieren und Sozialisieren. Lehrerinnen und Lehrer bewegen sich im Dauer-Spannungsfeld von Polaritäten. Diese Spannungen können sie nicht auflösen. Sie müssen die Dilemmata aushalten und daraus die Spannkraft für den richtigen Entscheid finden.

Kräfte wie Individuation und Sozialisation lassen sich auch nicht gleichzeitig maximieren. Je mehr aber einzelne Pole verstärkt oder gar überstrapaziert werden, desto mehr reduziert und schwächt sich der Gegenbegriff. Das ist schlichte Proportionenrechnung und hat mit Ideologie nichts zu tun. Doch genau das bewirkt die forcierte Individualisierung mit der Sozialität des Pädagogischen: Ihre Kraft minimiert sich, das Soziale schwächt sich ab.

Auch die soziale Dimension des Lernens sehen

Schulisches Lernen ist nie nur allein individualtheoretisch zu sehen. Zum individuellen Lernen gehört – als notwenige Komplementarität – die soziale Dimension. Darum muss auch das Lehren in seinem unverzichtbaren Wert für das Pädagogische wieder rehabilitiert werden. [6] So bleibt die Schule, was sie von ihrer Funktion und ihrem Auftrag her sein muss: ein Ort des offenen Diskurses, des Dialogs und sokratischen Gesprächs zwischen den Generationen, ein Freiraum des Miteinander-Unterwegsseins und damit ein Refugium für gemeinsames und soziales Lernen.

Und vielleicht bleibt die Schule damit so etwas wie eine Gegenwelt – eine Welt, die für junge 2.0-Menschen gerade deshalb so attraktiv sein könnte, weil sie ihnen – in einer individualisierten Zeit – sozialen Halt und gemeinsame Orientierung vermittelt. Es ist die schlichte Utopie der Klasse als einer Mikrogemeinschaft solidarischer Menschen.

[1] Norbert Elias (1987), Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

[2] Immanuel Kant (1956), Kritik der praktischen Vernunft [1788]. In: Ders.: Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel. Band 4: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Wiesbaden: Insel Verlag, S. 140.

[3] Norbert Ricken (2018), Die Sozialität des Pädagogischen und das Problem der Individualisierung – Grundlagentheoretische Überlegungen, in: Kerstin Rabenstein/Katharina Kunze/Matthias Martens/Till-Sebastian Idel/Matthias Proske/Svenja Strauss (Hrsg.) (2018): Individualisierung von Unterricht. Transformationen – Wirkungen – Reflexionen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 202. 

[4] Byung-Chul Han (2014), Im Schwarm. Ansichten des Digitalen. Berlin: Verlag Matthes & Seitz, S. 24f.

[5] Jean-Luc Nancy (2004), Singulär plural sein. Berlin: Diaphanes.

[6] Vgl. Ricken, a. a. O., S. 209.

Socius weicht solus, weil damit die Ökonomisierung ihren Fuss in die Pädagogik setzen kann und ihr Abdruck betört simple Schulentwickler, die sich zu Hauf in den Schulhäusern tummeln, benebelt einfach gestrickte Politikerinnen, von denen abhängige Schulleiterinnen und unkritische Lehrer, von denen es immer mehr gibt und alle zusammen kriechen den digitalen Konzernen auf den Leim. Da kleben sie dann und wundern sich, wenn die schulischen Evaluationen keine besseren Resultate liefern trotz Schulentwicklung als Dauerwerbesendung.

Carl Bossard trifft einmal mehr den Nagel auf den Kopf. Die Polarität zwischen Individualität einerseits und sozialer Verbundenheit des Menschen andererseits macht die pädagogische Arbeit so spannend. Lehrerinnen und Lehrer müssen da den Überblick haben und innerlich frei sein, wenn sie den Kindern gerecht werden wollen. Irgendwelche vorgeschriebenen Programme oder dogmatische Anweisungen sind wenig hilfreich.

Das Ganze erinnert mich sehr an meine eigene Jugend. Ich habe schon von klein auf gerne Türme mit Bauklötzen in allen Varianten gebaut. Das Konstruieren der Turmbauten hat mich jeweils voll in Beschlag genommen. Ich habe durch Ausprobieren individuell gelernt, auf welcheWeise Türme möglichst solide aufgestellt werden können.
Im Kindergarten aber merkte der kleine Baumeister, dass es noch eine ganz andere Welt gibt, nämlich die Welt
meiner Mitschüler, die Welt der Geschichten und der gemeinsamen Spiele. Diese Welt wurde im Verlauf meines Lebens immer wichtiger. Ohne diesen Austausch und ohne die Ansprüche dieser andern Welt, hätte sich mein Leben in einem zu engen Kreis bewegt.

Kinder, deren engster Begleiter der Computer ist, laufen Gefahr, den Schritt zum andern zu verpassen.

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