Kleingeist und Größenwahn

Warum es im Moment so viel schlechte Musik gibt

Donnerstag. Zeit für die Kolumne "Kleingeist und Größenwahn", die jetzt bereits zum 42. Mal erscheint. In dieser Woche fragt sich unser Kolumnist, warum es im Heute so viel schlechte Musik gibt und findet mögliche Erklärungen dafür.

Vor etlichen Jahrzehnten diagnostizierte der Philosoph Walter Benjamin, dass das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ die Aura verloren hätte. Kunstwerke, die im großen Stil reproduziert werden können, verlieren ihr „Hier und Jetzt“. Wer ein Bild im Museum betrachtet erlebt hingegen die Aura das Bildes: Diese erzählt vom Alter des Bildes, womöglich noch vom einstigen Entstehungsprozess. Ein Druck des Bildes kann das nicht leisten.

Benjamin sieht diese Situation durchaus ambivalent. Zumindest Wehmut ist zwischen den Zeilen zu lesen. Dennoch interessieren und faszinieren ihn die Möglichkeiten der Photographie, die sich damals rasend schnell zu verbreiten begann.

Jahrzehnte später machen wir uns über den Verlust der Aura kaum mehr Gedanken. Wir sind aber getrieben davon, weitestgehend unreflektiert, der Aura des Moments und des Augenblicks habhaft zu werden.

Warum sonst würden wir immer noch zu Konzerten gehen und das ganz besondere “Hier und Jetzt” suchen, bei dem sich alles ereignen und alles noch scheitern kann? Die Qualität eines Konzertes wird bestimmt durch die Fallhöhe des ästhetischen Konzeptes in der Live-Situation. Gehen die Musiker Wagnisse ein oder gehen sie auf Nummer-Sicher? Die Aura ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Gelingen und dem möglichen Scheitern eines Konzertes.

Das heutige Zeitalter muss indes als das Zeitalter der erleichterten Produktion von Kunstwerken beschrieben werden. Hat es die Photographie einst ermöglicht sich auf erleichterte Weise Bilder und Abbilder von der Realität zu machen, so ist im Heute der Zugang zur Musikproduktion für eine breitere Masse möglich geworden. Plug-Ins, Internet-Seiten auf denen man sich Sounds und Beats runterladen kann, Programme die all das dann logisch zusammenfügen und zu einem kohärenten Track werden lassen sind omnipräsent.

Dieser veränderte Zugang zur Musikproduktion könnte als eine grundlegende Demokratisierung interpretiert werden. Die Folgen sind allerdings fatal: Kategorien wie Musikalität, Originalität und technisches Können sind plötzlich ausgehebelt und zweitranging. Das heißt keinesfalls, dass man den Untergang der Musikalität und der Originalität befürchten muss. Zweifellos ist es aber so, dass sich die Erleichterung des Prozesses der Musikproduktion auch als eine Beschleunigung verstehen lässt.

In dieser Beschleunigung ist es nur schwer vorstellbar, dass man sich jahrelang mit einer Komposition beschäftigt, ehemalige Kompositionsentwürfe immer wieder überschreibt und überarbeitet. Der heutige Komponist und Musiker sitzt nur mehr selten vor Blättern von Papier, vollgeschrieben mit Noten. Er sitzt vor dem Laptop, übernimmt Sounds, kompiliert, bearbeitet, fügt neu zusammen. Die Arbeit als Komponist wurde ihm so weit erleichtert, dass er tendenziell aufhört Komponist zu sein. Er ist Sammler und Bastler, nicht Erfinder und Neuschöpfer.

Zu dieser veränderten Art der Musikproduktion kann man sich auf vielerlei Weisen verhalten. Man kann die Suspension eines zum Teil konstruierten und mythischen Schöpfer-Genies bejubeln und die die Entwertung des schöpferischen Subjektes begrüßen. Man kann die damit einhergehende Demokratisierung goutieren und die These aufstellen, dass die Steigerung der Quantität der Musikproduktion auch zu einem Qualitätsanstieg führt. Wenn viel Musik produziert wird, muss auch viel Gutes dabei sein.

Nur: Diese Diagnose bewahrheitet sich nicht. Es gibt vereinzelt brillante Musiker im Bereich der elektronischen Musik. Die Musikalität ebendieser ist in den letzten Jahren aber nicht gestiegen, sondern gesunken.

Der erleichterte Zugang für Dilettanten und Talentlose zum Musikmarkt und zur Musikproduktion hat zu einer Nivellierung der Qualität und zu einer Erhöhung der Quantität geführt. In dem Wust der Veröffentlichungen gelingt es dem durchschnittlichen Musikhörer außerdem nicht mehr, Differenzen und Unterscheidungsmerkmale zu etablieren. Er gibt sich mit dem Mittelmäßigen bis Schlechten zufrieden. Seine Hörgewohnheiten haben sich an diesen Zustand angeglichen.

Durchaus möglich ist es natürlich, dass sich in diese nivellierte Qualität Musik von höherer Qualität hineinmischt und von ein paar Menschen als solche erkannt und rezipiert wird. Faktisch ist diese Musik aber Opfer der attestierten Beschleunigung: Wer im Zeitalter der erleichterten Musikproduktion Alben in wenigen Tagen produzieren kann und diese mit relativ wenig Aufwand live reproduzieren kann, der hat in dieser Beschleunigungs-Logik einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem, der in mühevoller Arbeit wochen- und monatelang komponiert und sich dann erst die Frage der Umsetzbarkeit und Live-Umsetzbarkeit stellen muss.

Jedenfalls sind die Folgen für die „Aura“ in der Live-Situation katastrophal. Das Spannungsverhältnis des Gelingens und des Scheiterns wurde ersetzt durch die Spannungslosigkeit von Semi-Live-Musik. Halbgötter hinter Laptops stellen ihre vermeintliche Kreativität ostentativ zur Schau und reproduzieren dabei nur, was zuvor schlampig, lieblos und schnell produziert wurde. Sie produzieren und erschaffen nicht mehr im “Hier und Jetzt”, sondern führen die Pervertierung einer Musik ohne Aura und Originalität vor.

Die Abwärtsspirale wird dabei stetig vorangetrieben von immer mehr und immer schlechteren Musikproduzenten und von Musikhörern, die immer weniger zwischen gut und schlecht unterscheiden können. Es ist kein Ende dieses Abwärtstrends in Sicht.

Das Festhalten an der “Aura” mag altmodisch sein. Die Verteidigung von Kategorien wie Musikalität und Originalität gar anachronistisch. Meiner Meinung nach ist das aber der einzige Weg, um die grassierende Mittelmäßigkeit großer Teile der gegenwärtigen Musik zu überwinden.

Hier geht es zu den vorherigen Folgen von "Kleingeist und Größenwahn" .