Kommentar

Nizza: Wenn ein ganzer Kontinent in Hilflosigkeit versinkt

In Nizza sind vor wenigen Stunden über 80 Menschen gestorben. Wir haben scheinbar gelernt mit diesen Zahlen und Ereignissen umzugehen und zu leben. Wir haben Rituale entwickelt, Formulierungen gefunden und Reaktionen einstudiert, die zu fast jedem Anschlag und jedem Ereignis mit mehr als 30 Toten passen.

Ich setze mich gegen 08:00 an den Laptop. Ich lese nicht zuerst die Nachrichten der diversen Online-Angebote von sogenannten Qualitätszeitungen, sondern meinen Facebook-Newsfeed. Menschen sind betroffen. Reden von Nizza und Toten. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, worauf sie Bezug nehmen.

Erste Kommentare trudeln ein, dass wir jetzt noch mehr zusammenhalten müssen und unsere Werte ernsthaft in Gefahr sind. Die Betroffenheits-Maschinerie scheint wieder Fahrt aufgenommen zu haben. Allein an den Formulierungen merke und erkenne ich, dass es ein Anschlag sein muss. Terrorismus. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich eine Terrororganisation zu der Tat bekennt.

Politiker melden sich zu Wort. Sie ermahnen, dass wir jetzt alle Seite an Seite mit Frankreich stehen müssen. Dass wir den Kampf gegen den Terror gewinnen werden. Echte Betroffenheit höre ich keine heraus. Eher schon Hilflosigkeit und eine absurde Form von Trotz. Ganz so als ob ein Kind meint, dass es ganz nach seinem Kopf gehen muss, dabei aber weiß, dass die Ereignisse und die Entwicklungen von Situationen außerhalb seine Einflussbereiches liegen.

Mit den Formulierungen und Phrasen werden ein Wille und eine Klarheit hinter den Worten suggeriert, die sich schnell als heiße Luft erweisen. Die Begriffe zerbröseln, es bleibt Leere. Wir haben keine Antworten, wir haben lediglich Konstruktionen.

Wir gehen davon aus, dass der Terror Einzug gehalten hat in unsere mehr oder weniger friedliche (westliche) Gesellschaft. Wir konstruieren Feindbilder, die sich von außen in unser Innen eingeschlichen haben und die wir jetzt nur bekämpfen müssen, um sie loszuwerden. Wir konstruieren uns homogene Terrororganisationen, die wir nur zerstören und zerbomben müssen, um endlich wieder unsere Ruhe und unseren Frieden zu haben.

Dieser Ansatz ist reduktionistisch. Die Verflechtung ist deutlich komplexer. Der Wahnsinn, die Irrationalität und der Hass sind nicht von außen, etwa durch Migration, zu uns gekommen. Der Wahnsinn und der blanke Hass, der zu tödlicher Gewalt führt, befinden sich mitten unter uns. Sickert ein. Durch Ideologien, Massenmedien, soziale Netzwerke. Es ist denkbar, dass sich Einzelne radikalisieren. Allein zuhause vor ihrem Laptop. Neuen Halt in kruden Ideologien finden und damit der eigenen Vereinzelung und Einsamkeit entgegen wirken wollen.

Wir haben es gerade nicht mit dem homogenen Feind von außen zu tun, der unseren Frieden bedroht und unsere Werte wegbomben möchte. Wir haben es mit Phänomenen der Entfremdung zu tun. Viele ehemalige Migranten fühlen sich fremd im eigenen Land. Haben keinen Platz gefunden unter der Flagge, die eine einheitliche Geschichte und gemeinsame Werte beschwört.

Wir haben es im Heute mit den Folgen von zum Teil misslungenen Identitätsprozessen zu tun. Europa und der “Westen” haben Ausschlüsse geschaffen. Diese Ausschlüsse, seien es Menschen oder Ideologie, drängen jetzt völlig pervertiert, radikalisiert und von einem irrationalen Hass angetrieben in das „Innere“. Es wurde verabsäumt, das „Fremde“ in das „Eigene“ zu integrieren. Identitäten sind zu starr geblieben, die Vernunft hat sich allzu siegessicher dem Wahnsinn gegenüber gefühlt.

Haben wir also wirklich mit dem Terror und der Gewalt zu leben gelernt? In keinster Weise. Im Gegenteil. Wir halten alles auf Distanz. Mit Ritualen, leeren Formulierungen, Beschwörungsformeln und Konstruktionen von „Wir“ und „Die Anderen“. Dadurch lösen wir nichts, sondern wiederholen die Fehler, die wir in den letzten Jahrzehnten gemacht haben. Wir bauen weiterhin an starken Dichotomien, anstatt endlich an einer Kultur der Einschlüsse, Vielfalt und Heterogenität zu arbeiten. Das wird unsere Probleme nicht lösen, sondern forcieren.

Titelbild: Rüdiger Stehn