Der Kosmos auf Rätoromanisch
Als ich vor vielen Jahren an der Universität Fribourg Rätoromanisch lernte, legte uns der Dozent, Claudio Vincenz, gegen Ende des zweijährigen Kursus Gedichte von Tresa Rüthers-Seeli vor. Im Rückblick dünkte mich damals, im Grunde genommen sei alles von Beginn an auf diesen einzigen Augenblick zugelaufen: Romanisch hätte ich nur gelernt, um diese Texte verstehen zu können. Eine Sprache, um einen ganzen Kosmos zu entdecken – fürwahr eine äußerst lohnende Investition! Wenn ich nun die neuen Gedichte von Tresa Rüthers-Seeli lese, so kehren in mir alle damaligen Empfindungen wieder: Die Freude darüber, zu diesem Universum Zutritt zu haben. Der leichte, aber durchaus angenehme Schwindel ob der für mich betörenden Klänge des sursilvanischen Idioms. Vor allem aber der Eindruck, dass diese Gedichte stimmen, dass sie gleichermaßen treffen wie zutreffen.
Tresa Rüthers-Seeli Tresa Rüthers-Seeli, 1931 in Falera in der Surselva (Graubünden) geboren, veröffentlicht seit 1958 Gedichte in Sursilvan, der regionalen Variante des Rätoromanischen. Drei Bände sind bisher erschienen: „Tras melli veiders“ (1987), „Jeu sai – e sai da nuot / Ich weiss – und weiss von nichts“ (2003) sowie jüngst „Aunc melli stads / Noch tausend Sommer“ (2015). Schon diese Auflistung zeigt: Hier ist keine Vielschreiberin am Werk, sondern eine Dichterin, die ihr Handwerk ausübt, indem sie eben verdichtet. Eine Autorin, die ihren Texten Zeit und Raum gibt, weil diese dann ihrerseits vom Leser Raum und Zeit einfordern. Gedichte, die sich ausdehnen, wenn man sie liest. Es kommt nicht selten vor, dass bei Rüthers-Seeli ein kurzes Gedicht ein ganzes Leben abdeckt, dieses aber zugleich auch auf den Punkt bringt, es gleichwie kondensiert:
Affonza
Ti fieras
la reit
el flum
da damaun
e
setegns
vid la riva
dad oz
ed audas
la ramur
dil dutg
che
fa schanugl
tras las
pradas
da tiaaffonzaKindheit
Du wirfst
das Netz
in den
Fluss
von morgen
und klammerst
dich an
das Ufer
von heute
und
hörst das
Rauschen
des Bachs
der sich kniet
durch die
Auen
deiner Kindheit
Das vor unseren Augen aufgefächerte Leben ist allerdings nicht nur dasjenige des lyrischen Ich, das sich hier vielleicht selbst anspricht, nachdem es gewissermaßen neben sich getreten ist: um Distanz zu gewinnen, um innezuhalten, um auch ein wenig zu staunen. In „Kindheit“ kommt eine wichtige Eigenschaft von Rüthers-Seelis Gedichten zum Tragen: Die Aussage lässt sich ins Universelle übersetzen. Die Dichterin erreicht dies durch klassische und dennoch keineswegs abgegriffene Bilder: Der Fluss als Symbol für das vergehende Leben, die Auen als das erinnerte verlorene Paradies der Kindheit. Der Titel des Gedichts, der mit dem allerletzten Wort wieder aufgenommen wird, legt nahe, dass hier auf einer Rückkehr zu diesem ursprünglichen Zustand beharrt wird: Der Kreis möge sich schließen, das Ende wieder zum Anfang finden. Dazwischen aber steht das Leben, das mitunter mühsame Dasein des erwachsenen Menschen mit der stets genährten Hoffnung, es möge ihm noch einmal ein guter Fang gelingen.
Es ist durchaus bezeichnend für Tresa Rüthers-Seelis Gedichte, dass darin immer wieder eine biblisch-religiöse Dimension aufscheint (hier: das Paradies; das Fischernetz). Diese Dichterin hält an ihrem Urvertrauen in Gott fest, und ihr lyrisches Ich führt bisweilen auch einen direkten Dialog mit dem Schöpfer. Es bekräftigt dabei, dass die Welt ihre Ordnung hat und dass es gut ist, wie es ist. Dabei stellt es keinen Widerspruch dar, wenn Rüthers-Seeli auch (und dies sogar recht oft) die Vergänglichkeit des Menschen in den Blick nimmt. Im Gegenteil, das lyrische Ich ihrer Gedichte weiß sehr wohl, dass das Ende ursächlich zum Leben gehört:
Èr
Igl esch
ei aviarts
e la geina
il vent
termaglia
cul temps
las eras
plein flurs
retscha
per retschaaunc
mond’jeu
sperasviAcker
Die Tür
steht offen
und das Tor
der Wind
spielt mit
der Zeit
die Beete
voll Blumen
Reihe
um Reihenoch
geh’ ich
vorbei
Sehr hübsch mutet hier an, dass Tresa Rüthers-Seeli den klassischen Topos umkehrt: Nicht der bittere Kelch geht noch einmal am Ich des Gedichts vorbei, sondern dieses selbst beschließt, den Tod vorerst links liegen zu lassen. Ist das vielleicht ein Fingerzeig, dass die Sterblichkeit des Menschen nicht bedeutet muss, dem Auferlegten gänzlich ausgeliefert zu sein? – Obwohl in diesem Gedicht der Friedhof nicht direkt benannt wird, wird er doch über Umwege aufgerufen. Man mag ihn bereits im Titel erahnen – denn zu welchem anderen Acker als dem Gottesacker führt eine Tür? Wohl aber scheint er dann in den Zeilen „retscha / per retscha“ („Reihe / um Reihe“) auf. Es geht dabei zwar vordergründig um die Blumenbeete – doch wer denkt hier nicht unwillkürlich auch an Grabsteine? Das lyrische Ich des Gedichts vernimmt das memento mori sehr wohl. Doch es richtet seine Aufmerksamtkeit lieber auf die Blumen – und damit auch auf das Heilsversprechen des Paradieses.
In Tresa Rüthers-Seelis Gedichten nimmt nicht nur der Lebenszyklus – und damit verbunden: die Abfolge der Jahreszeiten – breiten Raum ein. Auch das Handwerk des Schreibens selbst ist ein bevorzugtes Thema der Dichterin. Es findet seinen Ausdruck vor allem in der Metapher vom Gewebe. „Striegn“ (Zauber) beginnt mit den Worten des lyrischen Ich:
Könnt’ ich / mit den Fäden / meiner Poesie / die Erde / an den Himmel / nähen.
In solcher Formulierung scheint das Ich daran zu zweifeln, dass dies möglich wäre. Aber im betreffenden Gedicht schafft es die Autorin eben dann noch, weil sie in der Folge genau dieses Szenario durchspielen wird: Was die Wirklichkeit nicht kann – die Dichtung vermag es gleichwohl! Hier schwingt dann auch eine Prise Humor, vielleicht auch eine Spur Ironie mit. Auch dies ist eine Eigenschaft von Rüthers-Seelis dichterischem Werk, die sich verschiedentlich beobachten lässt. Und zwar ganz besonders dann, wenn sie den Menschen nicht nur in dessen existenzieller Dimension, sondern auch in seiner sozialen Bedingtheit reflektiert (etwa in „Radunonza“, Versammlung oder in „Dressura“, Dressur). Von da ist auch der Schritt zum Spielerischen nicht mehr sehr groß. Es gehört zu Tresa Rüthers-Seelis Gedichten, dass man als Leser stets aufgefordert ist, in der Lektüre das genaue Verhältnis von Ernsthaftem und Ludistischem selbst auszubalancieren.
Tresa Rüthers-Seelis Sprache ist schlicht, alltäglich. Ihre Wirkung erzielt sie in erster Linie durch die Anordnung der Verse in der Strophe und im Gedichtganzen sowie mithilfe des sehr bewusst gearbeiteten Zeilenbruchs, wie Renzo Caduff in seinem Nachwort erläutert. Dazu gesellen sich hie und da Reime oder doch reimähnliche Strukturen, wobei sich die Dichterin im rätoromanischen Original gerade auch auf Reime besinnt, die durch die Verwendung identischer grammatischer Formen entstehen, wie etwa Verben im Perfekt. Alle diese sprachlichen Mittel tragen dazu bei, den Sinnbildungsprozess innerhalb der Gedichte zu stützen und zu strukturieren. Mitunter greift die Dichterin auch auf syllabotonische Rhythmen zurück, die über mehrere Verse hinweg zum Tragen kommen und die dann nicht nur an die klassische Tradition erinnern, sondern zugleich noch einmal auf ihre eigene „Gemachtheit“ hinweisen. Rüthers-Seelis Verse sind kurz bis sehr kurz, die Gedichte in der Regel höchstens mittellang. Auf Satzzeichen verzichtet die Autorin konsequent. Großgeschrieben werden jeweils nur das je erste Wort im Titel und im eigentlichen Gedicht selbst sowie schließlich die Formen des Personalpronomens („Ti“; Du) und des entsprechenden Possessivpronomens, sofern sich diese auf Gott beziehen – der damit gegenüber einem menschlichen „Du“ im Übrigen stets identifizierbar bleibt.
Das letzte Gedicht des Bandes, „Veta“ (Leben), endet mit Worten, die dem Buch den Titel gegeben haben:
in siemi / sco sch’ei / dess / aunc melli / stads
ein Traum / als gäbe / es noch / tausend / Sommer.
Ich weiß, es ist vermessen, sehr vermessen – aber man wünschte sich von Tresa Rüthers-Seeli: aunc melli poesias – noch tausend Gedichte!
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Kommentare
aunc melli stads
eine guten zugang schaffende rezension, vielen dank dafür. interessant sind ja gerade in einem europa, welches zunehmend (und notgedrungen) immer häufiger auf englisch kommuniziert, diese kleinen, feinen, vom aussterben bedrohten sprachen. darin gedichte zu formulieren mag manchen als nische in der nische erscheinen. aber genau das macht literatur reich, nicht der mainstream.
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