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Kein Text unter dem Text
Folgende meine Annahme: Wir müssen nicht mehr darüber reden, wer etwas in einem Gedicht "nicht versteht", denn wir haben irgendwann als unsere ersten Gedanken über Gedichte im Kopf herumschwirrten kapiert, dass Gedichte fast immer a.) kein Klartext sind (1 zu 1 lesbar), bedeutet, wenn im Gedicht die Wortgruppe "ich liebe nur den mond" auftaucht, kann man daraus nicht eine Aussage ableiten, der Autor dieses Gedichtes liebe den Mond. (Nicht einmal das lyrische Personal.) Und b.) dennoch keinen darunter zu entschlüsselnden Subtext haben (außer es sind besonders blöde Gedichte). Wir haben damals den Verstehensbegriff hinterfragt und dann war es auch gut und wir sind zum Entschluss gekommen, es lohnt sich nicht mit dem Begriff "Nichtverstehen" zu operieren.
Die Annahme, es gäbe eine sogenannte hermetische Lyrik, die nur szenelesbar oder intelektuell verklärt, verrätselt sei und dem gegenüber stehe die andere "verständliche" Lyrik, ist tatsächlich dermaßen absurd und verklärend, dass ich nicht das Gefühl habe, dafür noch argumentieren zu müssen, das wurde genügend getan.
Beziehen wir das auf meine Gedichte: Nein, es ist nicht nötig den "Schlüssel" zu finden, den Weg durch ein Labyrinth, um dann eine Schatztruhe vorzufinden. Es gibt nicht einen verständlichen Subtext darunter, es gibt wenn überhaupt dutzende verschiedene Subtexte, die genauso wie das wörtliche auf der Oberfläche offen und zugänglich für eine direkte Lesart stehen. Wenn Berge auftauchen, sind es eben Berge, wenn Steine und Wasser auftauchen, sind es ebendiese. (Lassen wir bitte auch die Diskussionen um die Metapher beiseite.) Dementsprechend ist es unmöglich hier etwas "nicht zu verstehen". Alles liegt offen da.
Wie Verena feststellt, geht es um den Versuch, das eigene Maximum (maximale Dynamik?) aus der Sprache herauszuholen und lebendige multidimensionale Gebilde zu entwickeln, die in alle Richtungen weisen und dennoch auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt im Inneren hinauslaufen. (Ein eingerollter Igel.) Der Witz ist: Diese Beschreibung von mir könnte man nun genauso gut Streichen und durch eine Gegensätzliche ersetzen. Und weiter? Der Punkt ist, man kann damit vieles machen, wenn man will und gewillt ist, sich zu bewegen.
Elke artikuliert in den Texten zusätzlich das komisch Politische, das Komische wird auch von Stefan aufgegriffen. Das Komische (Seltsame, Witzige) und das Politische stellen für mich weitere wichtige Punkte meines Anliegens dar. Bisher nicht erwähnt: Eines der Kapitel beispielsweise ist ein direkt politisches szenisches Langgedicht, in dem Flucht, Staatenlosigkeit, Russland/Ukraine-Konflikt behandelt werden, in dem es vor allem um die Möglichkeit, überhaupt politisch zu sprechen geht. Selbstverständlich alles auf eine irgendwie seltsame Art und Weise. (Bitte auch die Diskussion darüber, ob Lyrik nicht immer politisch sei außen vor lassen, auch diese haben wir damals in der Steinzeit abgehandelt.)
Stefan macht in seinem Beitrag weiterhin eine, wie ich finde, überaus wichtige und kluge Differenz auf: Ist die narrativtragende Thea eine lyrische Überfigur, eine Muse? Oder ist es eine "private" Person? Ja, sie ist beides, das weiß Stefan sehr gut. Und doch erwähnt er es, denn Narrative in surrealen Szenerien fördern surreale Lesarten. Wenn wir meinen falschen Begriff "surreal" nun durch etwas wie "second world" ersetzen, kommen wir der Sache eventuell näher.
wann verwandeln sich diese traurigen kiefern in ein gebirge?
im frühling?
vielleicht im nächsten frühling?
lass uns ehrlich sein, du bist mindestens müde,
es sind deine lungen gemeint. meine augen?
tiefer, vertrau mir.
du sitzt in der wiesenwelt, mit offenem hemd.
es ist frisch.
dein atmen mischt sich mit dem atmen der vielfedrigen,
der armen zweifelflügler, der nichtatmer.
ihre leuchtenden bäuche umschwirren die wipfel der kiefern.
doch dein bauch leuchtet hier nicht,
deine füße gehorchen den elementen,
dich belächeln sie so milde, wie du es von der milde kennst
zu dir selbst.
deine kleinen lügen sind bekannt, aber niemand nimmst sie ernst.
lass mich dein hemd zuknöpfen. die kiefern,
achja, die kiefern
biegen ihr dehnbares holz unaufhaltsam nach innen,
ihr sprödes holz transzendiert nicht,
es bricht, es ist normales holz.
Was gäbe es hier zu verstehen? Was gäbe es hier nicht zu verstehen? Ich hoffe, nichts.