Essay

Medienzirkus bei Ann Cotten

Hamburg

Im Feuilleton1 herrscht weitgehend Konsens darüber, dass Ann Cottens Versepos Verbannt! vor „überbordender Poesie“, „sprachlicher Raffinesse“, „Brillanz“ und „Revolution“ nur so strotzt. Und das stimmt natürlich auch. Gut, dass sich die Wahrheit rumspricht - Doch es scheint, dass sich hinter diesen Lobtiraden oft eine Bequemlichkeit versteckt, keine der vielen inhaltlichen Dimensionen des Buchs näher ins Auge fassen zu müssen. Tomasz Kurianowicz,2 Autor der Zeit, behauptet sogar: „der Inhalt wäre schnell erzählt und dürfte ohnehin nicht so wichtig sein“. Er irrt sich. Gewaltig. - Eine Beweisführung.

(Achtung, Spoiler!)

Ich schlage vor, bei so komplexen Büchern wie Verbannt! kleinteiliger zu denken. Gar nicht erst den Versuch zu unternehmen, den ganzen Boden beackern zu wollen. Den Text z.B. nur auf eine bestimmte Frage hin zu lesen. Sie könnte lauten:

Wie werden Medien in dem Versepos Verbannt! reflektiert?

Eigentlich ist es offensichtlich:

  • Die Hauptfigur ist Fernsehmoderatorin.
  • Unter den drei Dingen, die sie auf die einsame Insel mitnimmt, befindet sich „Meyers Konversations-Lexikon von 1910“.
  • Die Inselbewohner geben die Na-Presse, die Zy-Presse und das Wisch-Blatt heraus.
  • Unter ihnen versteckt sich der Internetspion namens Pan Orama.
  • Die Insel wird geflutet von einer weiblichen Flüchtlingswelle aus dem Internet.

Keine Frage, Verbannt! führt einen Mediendiskurs.

 

Skandal und Vermarktung

Der Versepos beginnt mit einem Skandal wie von der Stange: ein Erwachsener verführt ein Kind. Pädophilie ist bekanntlich ein Klassiker in der Medienwelt. Allerdings ist Lena, so heißt das 14-jährige Mädchen, kein Kind mehr, hat sogar das Schutzalter erreicht. Und der Verführer ist eine Frau3, sodass die üblichen Vorstellungswelten vom männlichen Gewalttäter nicht abgerufen werden können. Und eigentlich ist Lena die Aktive von beiden:

Sie zog mich jetzt in Ecken, um mir was zu sagen,
sagte dann nichts und schlug die Augen nieder.
Ich: „Lass uns gehn“, sie: „Wart noch!“, und dann tat sies wieder:
Ein Kuss nur, doch der Rest vom Tag war von dem irren Ding verhangen.

Tut aber nichts zur Sache - eine Nachrichtensprecherin wittert die Story:

Für die sah es aus wie gefundenes Karrierefutter:
zwei Hinweise, ein Skandal, DNA-Spuren, ein Tweet -
so stellte sie sich das vor, verkennend komplett
die Wirklichkeit, so ist sie aber immer.

Ann Cotten skizziert hier ein Bild von Journalismus, dem es nicht in erster Linie auf neutrale und sachliche Berichterstattung ankommt, sondern auf vermarktungsfähige Inhalte.

Zugespitzt wird das noch, indem selbst das vermeintliche Opfer Profit aus dem Vorfall zieht.

Nach einem Jahr erschien ihre blumige Schilderung
der Vorkommnisse, deren Erfolg eine neue Sendung
inspirierte. „Verführ den Moderator“ setzte
Gäste und Profis aller Altersklassen in Verbindung.
Alles darin war Lenas eigene Erfindung.
[…]

Blutrünstigere
Ästhetikerinnen als sie kaum denkbar.

Die Täterin ist auch Teil dieser Show. So wird ein einmaliges Ereignis in ein serienmäßiges Unterhaltungsformat transformiert. Man fühlt sich an wochenlange Berichterstattung bei realen Skandalen erinnert. Innerhalb der Cotten'schen Story ist das nur folgerichtig: das sogenannte „Neue Fernsehen“ braucht diese Sendung, denn es steht seit längerer Zeit in harter Konkurrenz zum Netz. Stichwort Wettbewerb.

 

Das Internet gab's schon immer

Da die Hauptfigur nach etlichen Folgen ihren Sensationsfaktor eingebüßt hat, soll sie nun auf eine einsame Insel verbannt werden. Zu den drei Dingen, die sie mitnimmt, gehören ein Messer, ein Schleifstein und „Meyers Konversations-Lexikon von 1910“, ein 22 Bände umfassendes Werk. Während das Messer eine multifunktionale Überlebenshilfe darstellt, handelt es sich beim Lexikon um ein Nachschlagewerk. Inwiefern ist das überlebensnotwendig? Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen. Lässt sich die Wahl erklären mit einem existenziellen Orientierungsbedürfnis? Mit dem Wunsch nach einem Ordnungssystem in Begriffen? Ist der Mensch hilflos ohne gesammeltes, zusammengetragenes Schriftwissen?

Man kommt nicht umhin, die Analogie zu Wikipedia oder Suchmaschinen wie Google zu sehen. Eine Retrovariante davon. Ein nicht-digitaler Vorfahre davon.

In einem Interview4 mit der Welt erklärt Ann Cotten:

"Hat man nicht irgendwie das Gefühl, dass es das Internet immer schon gab und dass man
es technologisch nur sehr spät erschlossen hat?“

Und tatsächlich, Wikipedia verrät über sich selbst:

„In den ersten Jahren der deutschsprachigen Wikipedia wurden zahlreiche Artikel aus der gemeinfreien vierten Auflage [von Meyers Konversations-Lexikon] in die Wikipedia eingestellt, um „den Artikelbestand schnell aufzustocken und Lücken vor allem in den Bereichen zu füllen, in denen bis dahin keine Autoren mit entsprechender Vorbildung aktiv waren“.

So gesehen haben Enzyklopädien früh schon ein „erstes Online-Gefühl“ produziert.

Die Handlung ist jedoch auf das Jahr 2020 datiert. Bestimmt hätte die Fernsehmoderatorin also auch eine Art sonnenenergie-betriebenes Notebook mit auf die Insel nehmen können. Hat sie aber nicht. Absichtlich? Lohnt es sich, hier an die „bestimmte Negation“ zu denken? Immerhin heißt die Insel Hegelland. Ein Konversations-Lexikon ist… keine Bibel, keine Gedichtanthologie, kein Zauberspruchband, kein Tagebuch… und eben kein Laptop. Wenn man annimmt, dass es von allen Dingen am meisten kein Computer ist, kann man der Protagonistin sogar eine postdigitale Haltung5 unterstellen. Das meint die Abkehr von der Idealisierung technischen Fortschritts im Bereich digitaler Medien und auch einen bewussteren Umgang mit Medien überhaupt. So, wie sich Leute heute ganz bewusst dem Plattenspieler zuwenden, wurde hier vielleicht ganz gezielt zu einem analogen Nachschlagewerk gegriffen.

Zudem chatten grad jetzt in tausend Gay-Chat-Foren
Millionen Gleichgesinnte […]
Ich aber hab Information!
Hab echte alte Seiten zu meiner Disposition

Wo es nicht ausschließlich zum Zeitvertreib gelesen wird, misslingt der Umgang mit dem Lexikon jedoch. So informiert sich die Gestrandete zwar umfassend über den Anbau von Bier, pflanzt dann aber ein Gerstenkorn in den Sandboden, das sie sich zuvor aus einer entzündeten Stelle am Auge gedrückt hat. Obwohl sie also meint es zu brauchen, kann sie es nicht wirklich sinnvoll nutzen. Zufall?

 

Das Internet ist omnipräsent

Letztendlich ist das alles hinfällig, denn die Insel hat Internetzugang und ist bewohnt. Ann Cotten unterläuft hier Lese-Erwartungen gleich mehrspurig. Das Bild, das sie zeichnet, ist aber auch beklemmend: es gibt anscheinend keinen netzfreien Raum mehr. Die Metapher vom Internet als Pilzgeflecht wird aufgerufen. Dann wächst es der Verbannten aus den (mittlerweile gewachsenen) Hoden heraus. Dann bildet der Nabel ihres Geliebten den Dreh- und Angelpunkt des Netzes. Es kichert und kreischt. Mal wohnt ein Internetspion direkt im Kabel, mal schleicht er auf der Insel herum.

Die Sprachbilder, die Ann Cotten rund um das Internet entwickelt, sind insgesamt wirrer, verstörender und beziehen sich weniger konsistent aufeinander. Als nähme sie jedes Mal einen neuen Faden auf, der nicht zu Ende gesponnen wird. Man kann das einerseits als Ergebnis ihres Ringens mit der Spenserstrophe lesen, das hier an seine Grenzen stößt – man kann es aber auch als bewusste Schreibstrategie werten: die Unüberschaubarkeit, Zusammenhanglosigkeit und das Unheimliche des Internets wird stilistisch eingeholt.

 

Jede Presse bedient ein Interesse

Auf der Insel werden drei Säulenpressen betrieben. Eine Figur namens Wonnekind führt den Neuankömmling wie bei einer Sightseeing-Tour herum und erklärt die Unterschiede:

Na-Presse ist Naive Presse. Sie ist rechts, [...]
also nicht so schwer zu lesen meistens,
nur was sie sagen, ist nicht nachvollziehbar. Denn sie leistens
sich, mit dem Zeigefinger Schlachten, Politiker, Krisen
zu zeigen und zufrieden grinsend, ihre Meinung zu genießen.
-
Die Zy-Presse nimmt nichts ernst und schreibt virtuos
in Sätzen, die münden in postmoderne
unstrukturierte Theorie, pragmatisch aber groß-
liberal plantschend, Resultate meidend: eher Soß-
-
Beim Wisch-Blatt feiern wir, fast religiös, die simple Wendung.
Wie der Kollege sagte, geht es um den Spaß
[…] ohne jedes Maß
drollig zu schimpfen. Lautstärke ist Unterhaltung.

Dazu gibt es herrliche Zeichnungen der Autorin, die für jede Zeitung je einen Ausschnitt an drei Seiten skizziert hat. Das Ereignis: eine weibliche Wasserleiche ist vom Meer ans Land gespült worden. Und so berichten auch alle Blätter davon – was eigentlich überflüssig ist, denn sämtliche Inselbewohner sind bei dem Zwischenfall selbst zugegen gewesen. Die Zeitungen erfüllen also eigentlich keinen Informationsauftrag, sondern nutzen nur den Anlass, um je eigene Programme für die je eigene Leserschaft abzuspulen. So stellt die Naive Presse eine Liste von „10 Fakten über Frauen und Wasser!!“ auf und beweist damit eine rein männliche, zudem alberne Perspektive:

Punkt 8:

Feucht wird das Geschlecht der Frau, wenn sie uns sieht, heißt es, auch ihre Augen werden feucht. Der Körper besteht aus 70-75% Wasser, die Liebe zu 50% Körper, sodass man sagen kann, dass die Liebe aus 35-37 ½ Wasser besteht.

Für die Zy-Presse ergibt sich mit dem Vorfall die Gelegenheit, einen Kommentar über Edmund Husserl, Phänomenologie, Strukturalismus und Roman Jakobson zu schreiben, und das in einer für die meisten Deutschen unleserlichen Fremdsprache (Georgisch). Das Wisch-Blatt entwirft ein Fehlersuchbild:

Auffällig ist, dass eine Art „Neutrales Blatt“ fehlt. Kann es so etwas überhaupt geben? Man darf sich bei der Lektüre fragen, inwiefern diese drei Zeitungen unsere heutige Presselandschaft abbilden. Ob es sich um eine berechtigte Parodie darauf handelt.

Insgesamt lässt das Versepos eine deutlich medienkritische Haltung erkennen. Da es sich aber um ein gedichtetes Gedankenexperiment handelt, bleibt letztlich offen, wie ernst es im Detail gemeint ist. Diese Schlüpfrigkeit ist charakteristisch an der Literatur Ann Cottens und ihre Stärke:

„Dass meine Sprache sonderbar ist. Das stimmt schon: Es ist splatter-chaotisch. Man weiß nie, ist es Bullshit oder wahrer als der Boulevard.“

 

Buchdetails: Ann Cotten, Verbannt! - Versepos, Suhrkamp Berlin 2016

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