Die Schwierigkeiten eines Chorgesangs, Teil 2
Wir wissen Sachzusammenhänge menschenerzeugter Bedeutungswelten zu lesen und sichere Pfade innerhalb dieser zu finden, aber was es für die nichtmenschliche Restwelt bedeutet, uns genau dieses Verhalten zu ermöglichen und auszuhalten, wissen wir nicht, jedenfalls nicht im Moment unseres Agierens. Wie ungeheuer komplex das Erzeugen einer menschlichen Umwelt, die notebooks auf den Klapptischen eines fahrenden ICEs betreiben kann, in die Abläufe der Restwelt eingreift und wie vielfältig die Grundbedingungen unseres Tuns in den Restwelthaushalt eingreifen, entzieht sich unserem Bedeutungsvokabular. Es steht nirgends dran, was es kostet. Wir spüren die Preise nicht.
Aber wir merken, daß uns das Bestehen des Moments leichter fällt. Es ist angenehm, die Zimmertemperatur durch einfaches Regeln am Thermostat seiner Kleidung anzupassen, man friert jetzt nicht mehr, wenn man im T-Shirt auf dem Bett schneidersitzt und in den Winterhimmel blickt (wie ich gerade) und wir danken nicht Gott dafür, sondern der modernen Technik. Die Gleichung heißt: Erleichterung kommt von Technik, Technik ist gut. Dafür lohnt es zu buckeln, dafür lohnt es tagein tagaus in eine Fabrik zu schlurfen und alles Mögliche zu ertragen, von Monotonie bis Lärm, von Mobbing bis Verfettung, es ist für jeden etwas dabei. Aber das ist immer noch nicht der Preis.
Es ist nur ein kleiner Ausschnitt des Investments.
Wer also tagsüber mit Leistung jedwelcher Form sich das Anrecht auf Erleichterung eingekauft hat, muß dann noch dafür sorgen, daß er genug Ausgleich zur Arbeitswelt findet, weil er sonst krank wird. Kein Problem, denn die Dusche nach dem Joggen hat die angenehme Temperatur, die man sich wünscht und vom Sessel am Abend geht der Blick weit in die Welt und wir werden Zeuge des Kriegs der Sterne.
Will sagen: wir zahlen dafür, daß es uns „gut“ geht. Und gut geht es uns, wenn wir anstrengungslose Momente ernten, versorgt sind mit Ohnesorg-Theater. Das hört sich jetzt nicht an wie eine besonders schlaue Analyse und Kollege Schmitzer sitzt schon in den Startlöchern, um pro Technik, pro Erleichterung zu argumentieren. „Ja sollen wir denn zurück in die Steinzeit, zu den Totschlägern und Wilden“, etc. Man bedenke, es ist nur eine Analyse. Viele ertragen schon das Aussprechen von simplen Wahrheiten nicht, weil sie sofort ihr geistiges Besitztum bedroht fühlen. Was wir sollen, wird hier gar nicht gesagt.
Im Wort „anstrengungslos“ steckt etwas, das zumindest Altanarchisten wie ich seit jeher scheuen: Strenge – es bildet den Gegenpol zur Leichtigkeit. Strenge ist Linie, Last (weil es Disziplin fragt), Strenge ist rechts, Uniform, Justiz, Formular, Strenge ist Knast. Wir wollten wehendes statt wassergekämmtes Haar, offenes Hemd statt zugeknöpft bis zum Kragen, Liebe, die umherfliegt wie Luft, und Blühen aus sich selbst heraus. Und wir gingen dafür in den Knast, wir mühten und plagten uns beim Xerographieren eigener Gazetten, wir ertrugen abschätzige Blicke, offene Benachteiligung („nicht mit diesen Haaren“) und Verhaftung („Ihre Camel kennen wir, Herr Milautzcki“), wir verweigerten den Kriegsdienst und die Tadellosigkeit und kauften alte, zerfallende Bauernhöfe, um neue Lebensformen zu probieren. Strenge war uns ein Graus und wir ertrugen dafür Unbill und Gechasstsein.
Was ich hier skizzieren will, ist das Preis-Leistungsverhältnis. Für unsere Freiheit waren wir bereit an unsere Grenzen oder in den Knast zu gehen, während der Bürger im Fernsehsessel an die Politik delegierte, dafür zu sorgen, daß das Programm weiter stimmt. Man macht sich heute gern lustig über die Alt-68er bis Mitte-70er (zu denen ich mich zähle), aber es war eine Generation, die darüber nachgedacht hat, ob das Preis-Leistungsverhältnis stimmt und die das Aussehen ihres Lebens nicht delegierte, in Gottes Hand oder die politische Dienerschaft einer verführten Masse.
Und ein zweites: Erleichterung kann nur erkauft werden mit Strenge. Um all die Annehmlichkeiten des technisch Möglichen genießen zu können, müssen die Menschen ihre Tage in Fabrikhallen, an Bildschirmen und schließlich auf Fitnessbänken, in Krankenhäusern und Altenreservaten verbringen. Man muß morgens aufstehen und gesellschaftliche Etikette tragen, man muß leistungsbereit sein und optimierungsfreudig, man muß ständig über sich hinaus wollen und über alle anderen. Die Muß-Muster sind vielfältig und darin sind positive Begriffe aufs furchtbarste mißbraucht. Innovation, lebenslanges Lernen, Nachhaltigkeit – Schlagworte, die in der Industrie angekommen sind nicht als Grundhaltung der Welt, sondern als Bringpflicht dem Unternehmen gegenüber. Wenn wir Erleichterung wollen, müssen wir uns streng an die vorgegebenen Muster halten. Wenn die Moderne ihr Versprechen des anstrengungslosen Wohlstands einlösen soll, dann dürfen wir keinen Meter abweichen vom kapitalistischen Pfad, dem, und jetzt, Kollege Schmitzer, kommts, der Humanismus gerade mal als Beipackzettel beiliegt. Es ist so, daß der Humanismus dem Kapitalismus zu seiner Rechtfertigung dient, ein böser Mißbrauch fürwahr, aber nichts neues auf dieser Erde und wer die fadenscheinigen (tatsächlich erlogenen) Begründungen Amerikas noch im Ohr hat, bevor es in den Irak einmarschierte, um machtpolitische und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen, der hat keine Zweifel an dieser unguten Verquickung, die subtil so weit gelungen ist, daß wir alle Humanismus nur im kapitalistischen System realisierbar denken (sollen).
Deswegen ist die Analyse (und wieder der Hinweis: es ist eine Analyse – alles was Schmitzer daraus hervorzaubert und an die Wand malt ist Interpretation) von Sloterdijk (und wer sich an ihm als Person stört und bei seinem Namen schon nicht mehr klar denken kann, möge auf die vielfältigen Quellen der engagierten linken Kritik der letzten Jahrzehnte zurückgreifen, z.B. auf die von Daniela Seel eingebrachte Stimme von Rosi Braidotti) richtig: „Der Humanismus ist der Fundamentalismus unserer Kultur, er ist die politische Religion des globalisierten okzidentalen Menschen, der sich für so gut und klarsichtig hält, daß er sich gern überall nachgeahmt sähe.“
Mit diesem Satz ist erstmal gesagt, was im Prinzip alle wissen: wir sind von unseren Prinzipien derart überzeugt und halten sie für so überlegen, daß wir sie gerne exportieren wollen seit je. Dazu haben wir eine breite Mehrheit im Volk. Auch Stefan Schmitzer klinkt sich ein, wenn er sagt: das ist die Basis. Die Basis ist nunmal das Fundament, und das Hochhalten seiner Beschaffenheit ist Fundamentalismus. Die Analyse ist vollkommen korrekt. Nichts daran ist falsch. Und wie wir in Teil 1 gesehen haben, ist ein Kennzeichen von Religion der Blick aufs Fundamentale. Also stimmt auch das: Der Humanismus wird zur Religion erhoben (und genau wie diese mißbraucht).
Damit könnten wir schon am Ende der Debatte sein, wenn ich nicht das Thema Dschihadismus damit verknüpft hätte. Das geschah nicht unüberlegt: der Dschihadist führt einen heiligen Krieg, weil er die Heiligkeit seiner Religion bedroht sieht. Er sieht die Gefahr, daß seine Religion, die ihm in aller Strenge sagt, wie er zu leben hat (und das geht bis zum Hinweis, wie man richtig schläft), ersetzt wird mit einer Religion, die er nicht will und die ihm, dem ehrfürchtig Disziplinierten, vorkommt wie die Einladung zur Hölle. Seine Religion gestattet ihm die Erleichterungen nicht, sie sieht den Menschen an einem anderen Platz.
In dem Moment, wo der Westen seinen Raum erweitert, aus dem er seine Rohstoffe zieht und in dem er seine Waren absetzen will, dringt er ein in Räume, die ihm fremd sind. Statt aber die originären Raumstrukturen zu respektieren und es den Menschen dort selbst zu überlassen, welche Struktur und Organisation für sie „die richtige“ ist (z.B. eine Melange zu finden) treiben wir nicht nur Import/Export von Waren, sondern knüpfen daran Systeme und Weltbilder.
„Aber wenn es nun mal das überlegene und einzig humane System ist“, hör ich Schmitzer sagen. Das verleiht uns nicht das Recht so offensiv in den Weltbildwandel einzugreifen, daß wir bspw. Kriege führen und tote Menschen als Kolateralschäden abhaken. Unser Verhalten widerspricht den humanistischen Prinzipien, es ist respektlos, aggressiv, dominant. Es ist fundamentalistisch, weil es andere Fundamente nicht akzeptiert (siehe Schmitzer).
Wie die Schmitzersche Argumentation funktioniert, die in dieser Analyse ein Begleitgeräusch sieht, das Stimmung macht, die zum Dschihadismus führt, kann ich nicht wirklich erkennen und führt zu meinem letzten Sorry: es ist nicht wirklich Klartext, dem ich versuche zu antworten, ich werden aus den Schmitzerschen Argumenten nicht ganz schlau, vielleicht weil sie zu viele Begrifflichkeit auf spezielle Art interpretiert. Könnte sein, daß Schmitzer der Analyse sofort zustimmen würde, wenn in ihr statt seines geliebten und heißt verteidigten „Humanismus“ ein anderes Wort stünde. Könnte sein, daß er darauf besteht, das Wort „Humanismus“ nicht in seinem realen Verquickungsgebrauch zu sehen (und damit ignoriert, wo viele kritische Stimmen dieses Wort heute einordnen), und sogar ein Held des hehren, des einzigen, des idealen und wahren Humanismus ist. Dann allerdings haben wir hier – wieder einmal – gesehen, wie einfach es ist, schlecht zu lesen. Indem man verstehen will, was man verstehen will und nicht, was der andere gemeint haben könnte. Indem man sich als Basis nimmt und die Fundamente der anderen ignoriert.
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